20
Kian
Seine Augen waren geschlossen, sein Mund leicht geöffnet und sein Gesicht bedeckt mit Haaren. Ich wollte mich zu ihm knien und herausfinden, was los war. Sicherstellen, dass es ihm gut ging. Gleichzeitig hatte ich Angst davor, ihn zu berühren. Angst davor, wieder dieses Verlangen zu spüren.
Wenn ich jetzt von ihm trinke, hier, wo niemand ist und Austin danach die Bissstelle heilt, wird es keine Konsequenzen für mich haben. Es wäre so leicht.
Ich konnte nicht fassen, auf welche Ideen mich sein Geruch gebracht hatte. Wie schnell sich dieser Plan geformt hatte und wie schwer es war, dem Drang, ihn auszuführen zu widerstehen.
Der Klang seines Herzschlages hallte in meinem Bewusstsein nach. Er drängte mich zu ihm. Er verlangte nach mir. Er machte ihn zum Mittelpunkt meiner Welt. Zur Quelle all meiner Gefühle und Gedanken.
„Kian?!"
Silas hatte gewusst, was ich vorgehabt hatte. Keine Ahnung wie, aber er hatte es gewusst. Und er hatte die Kraft gefunden, mich davon abzuhalten. Eine Kraft, die ein simpler, so unscheinbarer Mensch, nicht haben sollte. Eine Kraft, die er nicht haben konnte.
„Was ist passiert?"
Charlie erreichte mich, Sekunden, Minuten, oder vielleicht auch Stunden, nachdem er meinen Namen gerufen hatte.
„Ich habe... Ich wollte... Ich hätte ihn fast gebissen." Ich sprach leise, so leise, dass jeder andere kein Wort meines Stammelns verstanden hätte. Charlie dagegen hörte genau, was ich sagte, er hörte den Unglauben in meiner Stimme und das leichte Zittern und er verstand sowohl meine Worte als auch die Bedeutung dahinter.
Sein Blick glitt runter zu Silas und dann wieder zu mir. Knapp neben Silas ging er in die Hocke und tastete nach seinem Puls. „Ich rieche kein Blut. Er scheint nicht verletzt zu sein."
„Er hat mich davon abgehalten." Selbst, es auszusprechen half nicht dabei, es besser zu verstehen. „Er hat mich weggestoßen und dann ist er umgefallen. I-ich habe keine Ahnung, was los ist. Er war ziemlich betrunken."
Im Gegensatz zu mir redete Charlie nicht. Er handelte. Ich beobachtete ihn dabei, wie er Silas hochnahm und suchte nach einem Anzeichen, dass auch er von ihm trinken wollen würde. Ich machte mich bereit, ihn davon abzuhalten. Silas zu schützen. Obwohl ich doch derjenige gewesen war, der bis vor wenigen Momenten noch mit sich gehadert hatte, seine Wehrlosigkeit auszunutzen.
„Wir haben uns berührt, an den Händen. Und dann konnte ich ihn riechen und seinen Herzschlag hören und ich wollte ihn beißen."
„Wir werden rausfinden, was es damit auf sich hat. Aber bis wir zuhause sind, musst du dich zusammenreißen. Gerader Rücken, Schultern nach hinten, Kinn nach oben. Und wisch dir das Blut weg."
Charlie zog auffordernd die Augenbrauen hoch.
Er hatte recht. Ich war ein Prinz, kein verwirrter, kleiner Junge. Für einen Moment hatte ich das vergessen. Meine Haltung erinnerte mich daran, was ich ausstrahlen musste. Dabei war es vollkommen egal, was wirklich in mir vor sich ging. Es zählte nur, wie gut ich dazu im Stande war, es zu vertuschen. Genau darum ging es jetzt. Niemand und wirklich niemand durfte erfahren, was hier passiert war.
Auf unserer Suche nach Boris oder Alica schritten wir weitestgehend unbemerkt durch die Halle. Die wenigen, die uns Beachtung schenken, wichen mit verwirrten Blicken zurück.
Selbstbewusstsein ausstahlen. Sicherheit. Keine Scham oder Reue.
Ich wusste ja, wie das aussah. Zwei Erwachte und in ihren Armen ein bewusstloser Mensch. Aber genauso gut wusste ich, dass es niemand wagen würde, Anschuldigungen gegen uns zu erheben ohne einen handfesten Beweis vorlegen zu können.
„Was ist denn mit ihm los?" Tom kam zu uns. Sein Blick lag auf Silas.
Ich war nicht gut darin, mir die Namen meiner Mitschüler und Lehrer zu merken, doch seinen hatte ich verinnerlicht. Ich wusste, dass ich mit ihm in einem Sportkurs war und, dass er sich gut mit Silas verstand. Für meinen Geschmack womöglich sogar zu gut.
„Er hat wohl zu viel getrunken. Wir haben ihn auf dem Fußballfeld gefunden."
„Oh." Tom sah sich kurz um und nickte dann. „Ich bringe ihn am besten Nachhause. Könntest du ihn noch bis zu meinem Auto tragen?"
Charlie nickte und deutete mir mit einem Nicken an, Tom auf den Parkplatz zu folgen.
„Eigentlich ist es Boris, der sich regelmäßig so abschießt. Aber der ist vor einer Weile mit Austin verschwunden."
„Weißt du, wo sie hin sind?"
Ich kannte Charlie. Ich kannte ihn verdammt gut und ich wusste, dass das, obwohl es durchaus so klang, nicht seine interessierte Stimme war.
„Nein, tut mir leid. Aber, wenn ich ihn später nochmal sehe, gebe ich ihm bescheid."
Tom stellte die Lehne des Beifahrersitzes nach hinten, sodass Charlie Silas darin ablegen konnte, und schnallte ihn an.
Ich hatte nicht nur sein Leben riskiert, sondern allen Kritikern auch den perfekten Beweis geliefert, dass wir nicht mit Menschen zusammenleben konnten. Der verdammte Frieden lag in meinen Händen und ich ging erst so mit dieser Verantwortung um und dann schaffte ich es nicht mal, die Situation selbst zu bereinigen. Darüber nachzudenken war alles, wozu ich fähig war. Nach außen hin gab ich mich ruhig, doch es kostete mich unheimlich viel Beherrschung, dieses schmerzhafte Ziehen in meiner Brust zu ignorieren und genauso das Verlangen danach, so lange darauf einzuschlagen, bis es verschwand.
Gerader Rücken, Brust raus, Kinn nach oben.
Charlie und ich sammelten Maddy ein und schrieben Austin eine Nachricht, in der wir erklärten, dass wir zuhause waren und er so bald wie möglich dazukommen sollte.
Dann saßen wir in unserem Wohnzimmer und ich erzählte davon, wie ich Silas am Tor gesehen hatte und auf ihn zugegangen war. Dass er angetrunken gewesen war, dass wir geredet und gespaßt und getanzt hatten. Dass wir uns nahegekommen waren und uns berührt hatten und ich ihn beinahe gebissen hätte.
Erst, als ich mit allem fertig war, wagte ich es aufzusehen, in jeweils ein fassungsloses, in ein schockiertes und in ein resigniertes Gesicht. Nur Charlie wirkte so, als sei er nicht komplett aufgeschmissen.
„Wie hat er gerochen?"
Ich erwiderte seinen Blick ratlos. Wie konnte er so ruhig bleiben? Warum machte er mir keine Vorwürfe oder warf mir an den Kopf, dass er mich oft genug zur Distanz ermahnt hatte? Und wie sollte ich auf seine Frage antworten?
Mein Wortschatz reichte nicht aus, um Silas' Duft zu beschreiben. Nur, was ich dabei gefühlt hatte, fand Gemeinsamkeiten in zusammenhangslosen Vergleichen: Warm, sowie die Sonne im späten Frühling, wenn bereits überall die Blumen blühten und die Welt wie verzaubert aussah. Spannend, sowie das erwartungsvolle Kribbeln kurz vor dem eigentlichen Adrenalinkick. Und schön, sowie sich nach einem anstrengenden Tag in sein weiches Bett zu legen und trotz allen Umständen trotzdem noch lächelnd an die Decke zu starren mit den Gedanken an diese eine Person.
„Ich weiß es nicht."
Es stand außer Frage, diese Gefühle jemals mit irgendwem zu teilen.
Charlie musterte mich eingehend. Er schien zu wissen, dass ich ihm etwas verschwieg und es würde mich auch nicht wundern, wenn er genau wusste was.
„Kian, niemand verurteilt dich. Ich versuche dir zu helfen, aber dafür brauche ich klare Antworten."
„Ich kann es nicht definieren."
In mir brodelte es. Ich wollte hilfreich sein. Nach dem, was passiert war, war das das mindeste. Alles, was jetzt noch fehlte, war mein Vater, der mich anbrüllte, mich zusammenzureißen und mich zu benehmen wie ein zukünftiger König. Ich hörte ihn schreien, spürte, wie sich alle kleinen Härchen auf meinem Körper aufstellten, wie ich die Schultern anhob, um den Kopf einzuziehen und wie ich den Kloß in meinem Hals immer wieder herunterschluckte, im Kampf gegen den Verlust meiner Stimme.
Es graute mir vor dem Moment, an dem ich ihm Rechenschaft abgeben musste. Ich hatte zwar viel mit Charlie geübt - aufrechte Haltung, Blickkontakt, nicht zittern, nicht stottern, nicht zu schnell sprechen, aber auch nicht zu langsam – doch, wenn ich vor meinem Vater stand, dann vergaß ich manchmal sogar wie man atmete.
„Okay, dann eben anders." Charlie blieb weiterhin ruhig. Er rutschte auf seinem Sessel bis an die Kante vor und sah mich dabei eindringlich an. „Schließ die Augen, erinnere dich an seinen Duft und sag mir, was du siehst."
Meine Ahnungslosigkeit spiegelte sich in Maddys Gesicht wieder. Anna hingegen schien zu ahnen, worauf Charlie hinauswollte und unterstützte ihn dabei. „Nimm dir erstmal Zeit, dich ein wenig zu beruhigen. Tief durchatmen. Dann konzentrierst du dich und wir warten, bis du so weit bist."
Es wäre mir lieber gewesen, sie hätten mir Vorwürfe gemacht und solange auf mich eingeprügelt, bis ich nicht mehr fühlen musste, was auch immer ich gerade fühlte. Ihre Ruhe und ihr Verständnis machten alles nur noch surrealer.
Wie verlangt, atmete ich tief durch. Schloss meine Augen und ließ die Nacht revuepassieren. Immer und immer wieder. Ich spürte meinen eigenen Herzschlag, kräftig und schnell. Meine verschwitzten Handflächen, die ich nervös aneinander rieb. Mein energisch auf- und abwippendes Bein. Wie ich mit der Zeit ruhiger wurde und konzentrierter.
Ich sah Silas vor mir, spürte seine Hand in meiner liegen und wie die Stelle, an der wir uns berührten, sich erwärmte - eine angenehme Wärme, als drastischer Gegensatz zu der Kälte der klaren Nacht um uns herum. Sie strömte durch meinen gesamten Körper. Ich bildete mir ein, es sei heller geworden, als ich ihm bereits so lange in die Augen gesehen hatte, dass ich nur noch ihn wahrnehmen konnte. Ich hegte den Drang, ihn immer näher an mich zu drücken. Immer mehr von ihm zu spüren.
„Weiß."
Ich sah es direkt vor mir. Strahlend, rein, stark. Und würde es nur im Geringsten Sinn machen, dann wären genau das die Adjektive, mit denen ich auch seinen Duft beschreiben würde.
Charlie wechselte einen kurzen Blick mit Anna. Unsicherheit blitzte daraus hervor.
„Weißt du noch, als wir über die Kriege der vergangenen Jahrhunderte gesprochen haben?"
Ich nickte. „Es lief für die Menschen nie wirklich gut, aber sie haben trotzdem immer wieder versucht, uns auszurotten."
„So in etwa, ja... Ich habe in einigen der Erzählungen etwas ausgelassen. Das war ein Fehler. Es tut mir leid."
Es war faszinierend. Charlie war bisher noch nie in der Position gewesen, sich entschuldigen zu müssen. Unrecht gehabt zu haben. Obwohl sich ehrliche Reue in seinem Ausdruck wiederspielte, hielt er meinem Blick stand und meinte jedes Wort exakt so, wie er es sagte. Für einen Moment war das alles, woran ich denken konnte. Dass ich auch mal ein Mann sein wollte, der Entschuldigungen nicht beschämt hervorpressen musste. Ohne zu nuscheln oder zu stottern. Ein Mann, der zu sich selbst stehen konnte und zu all seinen Fehlern.
„Ich verstehe nicht."
„Die Sache ist die", brachte Anna ein. „Es gab schon immer Menschen mit bestimmten Begabungen."
„Die Druiden?"
Sie nickte auf meinen kurzen Einwurf hin, wechselte nochmal einen kurzen Blick mit Charlie und redete dann weiter.
„Die Aufständischen, wie wir sie heute nennen, hatten schon immer eine Vorliebe für ihr Blut. Sie machten jagt auf sie und veranstalteten ein regelrechtes Gemetzel an jedem ihrer Niederlassungen. Die Druiden suchten nach Mitteln, sich verteidigen zu können, ohne mehr ihrer Leute zu verlieren. Sie übertrugen Bruchteile ihrer Kraft auf Dinge oder Menschen, um ihre Angreifer von sich abzulenken, während sie an neuen, unbekannten, manchmal sogar gefährlichen Orten Zuflucht suchten. Viele der Menschen rafften qualvoll an dieser Energie dahin. Aber einige überlebten. Sie vermehrten sich und gaben ihre Kräfte an zukünftige Generationen weiter. Die Druiden machten sie ausfindig und bildeten sie zu ihren Kämpfern aus. Zunächst, um sich zu verteidigen. Aber sie gingen schnell in den Angriff über. So entstanden die ersten Jäger.
Mit den Jahrhunderten und Generationen wurden sie aber immer seltener. Nicht nur, weil es kaum noch Druiden gab, um sie auszubilden, sondern auch, weil sich die Veranlagung zu den Kräften verlor. In den Kriegen des vergangenen Jahrhunderts töteten wir die letzten aktiven Jäger und glaubten, es gäbe keine Erben mehr. Aber dann kamen Boris, Alica und Silas."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top