19

Austins Stimmungsverlauf in dieser Nacht kam einer Achterbahnfahrt gleich. Es ging auf und ab, auf und ab, auf und ab, er wurde herumgeschleudert, versuchte sich festzuhalten, spürte den Nervenkitzel und die Gefahr, doch warf schreiend die Hände in die Luft und ließ sich mitreißen.

Es war leicht gewesen, Boris ausfindig zu machen, als er noch auf der Bühne gestanden und musiziert hatte. Austin hätte ihm stundenlang zusehen können. Um genau zu sein, hatte er genau das getan. Nun lief eine Playlist aktueller Lieder und er scannte die Halle vergeblich nach Boris ab, während er zwischen seinen Tanzpartnerinnen auf der Tribüne saß. Boris' komplett schwarze Kleidung und die geringe Körpergröße machten es unmöglich, ihn in dem dichten Menschennebel zu entdecken. Austin verfluchte die sich bewegende Masse und die schlechte Beleuchtung. Er konnte Boris erst wieder ins Auge fassen, als er direkt vor ihm stand.

„Da bist du ja." Boris drängte eins der Mädchen zur Seite, um neben Austin Platz zu nehmen und grinste ihn schelmisch an. Plötzlich war da nur noch er. Sein Lächeln, seine braunen Augen, sein Duft nach einer Mischung aus zu viel Parfüm und einer Note Schweiß.

„Da bin ich", antwortete Austin schmunzelnd. „Ich habe dich auch schon gesucht."

Boris grinste und nickte mit einer Kopfbewegung zum Ausgang der Halle. „Komm, lass uns abhauen."

Bevor Austin zu einer Antwort ansetzen konnte, legte eines der Mädchen ihren Arm um Boris' Schultern und schrie ihm zu, wie gut er gesungen habe.

„Danke, danke, Becky. Aber du hast doch schon ein Autogramm von mir."

Das Mädchen, Becky, kicherte und lehnte sich über Boris' Schoß, um Austin zuzubrüllen: „Er hat mal auf meinen Brüsten unterschrieben! Willst du ein Bild sehen?"

Austin war nicht oft sprachlos. Um genau zu sein, nie. Nun, jedoch, wusste er nicht, was er sagen sollte. Alles, was ihm einfiel, konnte nur unhöflich und sogar gemein rüberkommen. Also entschied er sich dazu, zur Abwechslung einmal den Mund zu halten und schaute sich das Foto von Boris' Unterschrift auf Beckys Dekolleté mit einem aufgesetzten Lächeln an.

„Zeig das doch nicht jedem." Boris hielt seine Hand vor den Bildschirm von Beckys Handy. „Damit musst du warten, bis ich berühmt bin."

„Stimmt!" Becky steckte ihr Handy wieder weg. „Wisst ihr eigentlich, von wem die Party organisiert wurde? Alle machen ein riesen Geheimnis daraus."

Austin zuckte mit den Schultern, während Boris meinte: „Ist im Endeffekt doch egal, solange wir eine coole Zeit haben können."

„Aber grade du müsstest es doch wissen. Wer hat dich denn gefragt, ob die Band spielt?

„Niemand, ich habe das einfach beschlossen."

„Typisch", lachte Becky. Danach wandte sie sich an ihre Freundinnen. „Also Boris hat auch keine Ahnung."

„Zeit zu verschwinden", hauchte Boris Austin sofort zu, nahm ihn an der Hand und zog ihn hinter sich her.


„Hat dir die Musik gefallen?" Boris hielt Austin die Tür auf und sah ihn neugierig an. Austin nickte und drehte sich zu ihm, um dabei zuzusehen, wie er ihm folgte.

Bereits letzte Woche hatte Boris Austin einen staubigen Abstellraum auf dem Dachboden des Gebäudes gezeigt. Da sich dort keine Lehrräume befanden, war der Zutritt für Schüler untersagt. Aber, um Boris aufzuhalten, brauchte es schon etwas mehr als eine einfache Vorschrift.

„Ich fand sie gut. Ich glaube, ein Lied hat sogar ein paar Erinnerungen wachgerüttelt."

„Echt? Welches?"

Austin summte ihm die Melodie des Songs vor und erzählte von einem fremden Gefühl der Beklemmnis, das sich in ihm aufgetan hatte. Eine Art Wut, die unglaublich traurig gewesen war. Klar identifizieren konnte er es nicht.

„Wow, das klingt unschön."

Sie setzten sich auf eine alte Truhe und redeten. So wie sie es immer taten.

„Was will man groß erwarten? Ich muss einen gewaltsamen Tod gestorben sein, sonst wäre ich jetzt nicht hier."

Boris nickte gedankenverloren. Er war so klein, dass er den Boden mit den Füßen nicht erreichen konnte und schwang sie daher abwechselnd vor und zurück. Dieser Anblick verzückte Austin so sehr, dass er kurz vergaß, worüber sie redeten.

„Fragst du dich oft, was damals passiert ist? Ich meine, wer du warst und wie du gestorben bist und so."

Ein solch ernstes Thema, ohne den Hauch einer bedrückten Stimmung. Nur Fragen und Antworten. Interesse und Vertrauen. Eine daraus entstehende Verbundenheit.

„Natürlich. Ich habe auch schon versucht, es rauszufinden, aber Charlie hat mir verboten, weiter nachzugraben. Er hat gesagt, ich soll nach vorne schauen und es sei egal, was damals war."

„Witzig, dass das ausgerechnet von ihm kommt. Er macht doch immer einen auf Besserwisser und beruft sich dabei auf seine Vergangenheit."

Austin musste grinsen, als Boris aussprach, was er schon zu oft gedacht hatte.

Er hatte ihm viel von sich erzählt. Auch einiges, was er ihm nicht erzählen durfte. Bei ihm konnte er sich über alles auskotzen ohne Gefahr zu laufen, getadelt zu werden. Boris hörte ihm immer aufmerksam zu, stellte Verständnisfragen und munterte ihn durch simple Sätze oder Gesten auf. Er gab ihm das Gefühl, mehr zu sein als nur ein Freund des Prinzen. Er erlaubte ihm, mehr zu sein als das.

Nun lag Austins Blick ruhig auf ihm. Er war Boris nähergekommen. So nah, dass er seinen Atem an seine Lippen stoßen spürte.

Boris wich zurück, nur ein kleines Bisschen. Für Austin reichte das, um ebenfalls auf Abstand zu gehen.

Sie beide wussten, dass das eben ein Moment gewesen war. Eine Gelegenheit. Und dass Austin sie nur zu gern ergriffen hätte.

Boris ließ den Kopf zur Seite sinken, sodass er auf Austins Schulter landete und pulte an dem Stoff seines Umhangs herum.

„Ich habe wieder schlecht geschlafen letzte Nacht", murmelte er in die Stille.

„Blöde Träume?"

Boris nickte. Obwohl sie einander erst seit so kurzer Zeit kannten, wussten sie mehr übereinander als gut für sie war.

„Magst du darüber reden?"

„Am liebsten will ich nicht mal daran denken. Aber egal, wo ich hingehe, diese Bilder verfolgen mich. Und ich werde dieses Gefühl nicht los. Dieses ständige Gefühl der Trauer."

„Wegen deiner Mama?"

„Nein. Ich weiß, dass mein Vater dafür gesorgt hat, dass es ihr gut geht in der Einrichtung. Ich vermisse sie nur manchmal sehr." Er seufzte. „Das ist was Anderes." Er klang so als wüsste er selbst nicht genau, worauf er eigentlich hinauswollte.

„Brauchst du Ablenkung? Wir könnten-"

Boris hob den Kopf von Austins Schulter. Schon dadurch verunsicherte er ihn. Dazu kamen sein eisiger Blick und die aufgebrachte Tonlage. „Nein! Mann, verstehst du es nicht? Ich kann mich davon nicht ablenken!"

Er ließ Austin keine Zeit zu reagieren, sondern sprang von der Kiste und trat gegen eine Vase, die sie letzte Woche noch gemeinsam bewundert hatten. Sie schellte an eine Wand und zerbrach in tausend Teile. „Scheiße, ich werde noch verrückt!"

Er raufte sich die Haare und murmelte irgendetwas vor sich hin. Sein gesamter Körper war angespannt, so sehr, dass es ein leichtes wäre, die Muskeln daran einzeln abzuzählen. Harte Fäuste hatten von seinen sonst so zarten Händen Besitz ergriffen und seine Zähne waren fest zusammengepresst.

„Du wirst nicht verrückt, Boris. Beruhige dich. Dann finden wir eine Lösung."

Austin hob beschwichtigend die Hände, während er auf Boris zuging. Sobald er es geschafft hatte, Blickkontakt zu ihm aufzubauen, begann er tief ein- und auszuatmen und forderte Boris durch seinen Blick dazu auf, es ihm gleichzutun.

„Ich will das nicht mehr fühlen", hauchte Boris nach einiger Zeit. Er wirkte erschöpft und kraftlos. „Ich trage das seit fast zwei Jahren mit mir rum." Er ging einen Schritt auf Austin zu, sah zu ihm hoch und sagte, was vermutlich jeder gerne hören wollte von der Person, die er gernhatte: „Nur du hast es für eine Zeit lang erträglich machen können... Dein Blut."

Austins Lächeln fiel kläglich in sich zusammen. „Boris-"

Er hatte sich überreden lassen, ihm ein paar Tropfen seines Blutes zu geben, genau zwei Mal. Das erste Mal nach der Verletzung an seiner Schulter, damit es schneller heilte und er keine Schmerzen haben musste. Ein paar Tage später war Boris auf Austin zugekommen und hatte ihn davon überzeugt, ihm wieder etwas zu geben. Und nun das hier.

„Bitte Austin. Nur einen kleinen Schluck. Du hast keine Ahnung, wie dringend ich die Portion ruhigen Schlaf gebraucht habe, die dadurch möglich war." Er krallte sich in seinem Shirt fest. „Du kannst auch was von mir haben, wenn du willst."

„Boris-"

„Ich würde dich nicht bitten, wenn ich einen anderen Weg wüsste. Ich habe es wirklich schon mit allem versucht und nichts hat geholfen. Alles, was ich will, ist normal zu schlafen! Ich kann so nicht weitermachen, Austin, bitte!"

„Okay!"

Boris zuckte zusammen, da Austin sich deutlich in der Lautstärke vergriffen hatte. „Okay", wiederholte er leiser, versöhnlicher, und legte beruhigend seine Hände auf Boris' um ihren festen Griff zu lockern. „Du bekommst etwas. Einen Schluck. Und nur unter der Bedingung, dass wir nach einer anderen Lösung suchen."

Es beängstigte Austin, wie erleichtert Boris davon war.

„Und du bietest niemandem je wieder dein Blut an, hörst du? Nie wieder!"

Ein erneutes Nicken.

„Versprich es!"

„Mann, Austin-" Boris war ungeduldig. Aber er musste verstehen, wie wichtig das war.

„Versprich es! Sei dir dessen bewusst, dass das deinen Tod bedeuten kann. Wage es nie wieder, mir die Möglichkeit zu geben, dich zu verletzen. Verstanden?!"

Er schluckte hart. „Ich habe verstanden. Und ich verspreche es."

Ein ganzer Berg an Anspannung fiel von Austin ab. Er nickte zufrieden und atmete tief durch. „Einen Schluck."

Er sah Boris streng an, um ihm klarzumachen, dass er mehr nicht bekommen würde. Nicht, weil er nicht dazu bereit wäre, ihm mehr zu geben, sondern weil er wusste, dass es nicht richtig war.

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