18
Silas
Wir trafen uns um acht Uhr an der Halle. Der Elternabend war seit etwa zwei Stunden vorbei und sowohl Lehrer als auch Eltern waren lange weg. Tom und Amelie erwarteten Boris, Alica und mich vor dem Eingang und halfen uns beim Dekorieren und Vorbereiten. Die Technik fiel in Toms und Boris' Hände, Alica kümmerte sich um die Deko und Amelie machte es sich zur Aufgabe, jeden meiner Handgriffe zu korrigieren, als ich Alkohol und Häppchen auf den Tischen platzierte.
Als die ersten Leute kamen, wurden wir gerade mit den Vorbereitungen fertig. Es waren Greg, Raban und Max. Die Mitglieder von Boris' Band. Sie überprüften die Sound-Einstellungen und Raban legte eine Playlist auf, die laufen sollte, während sie nicht spielten. Nur kurz nach ihnen stießen ein paar Mittelstufenschüler dazu, zu denen die Gerüchte durchgesickert sein mussten. Wir konnten also davon ausgehen, dass die Halle gut vollwerden würde.
Alica und ich saßen ganz oben auf der Tribüne und behielten alles im Blick. Wir wussten, wer mit wem kam, wer zum Tanzen hier war und wer zu zum Saufen, wer wann die Halle betrat und wer sie mit wem wieder verließ.
„Schau mal, die stehen schon ewig da rum." Ich stupste Alica an und deutete zum Eingang. Kians Gruppe trug verschiede Ausdrücke, doch Begeisterung war nicht darunter.
„Ist Austin als Prinz verkleidet?", fragte Alica mit zusammengekniffenen Augen.
Ich nickte schmunzelnd. „Sieht ganz so aus. Und was soll Kian darstellen?"
Er trug einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd, ohne Krawatte oder Fliege. Der Anzug war etwas eng, vor allem an Schultern und Armen und sein Hemd war so weit geöffnet, dass man den oberen Teil seiner Brust sah. Er konnte so gut wie alles darstellen – erfolgreicher Geschäftsmann, Trauzeuge, Stripper... Egal, was es war, es sah verdammt gut aus. So gut, dass es mir schwerfiel, meinen Blick von ihm zu lösen.
Meine ganze Aufmerksamkeit galt der Knopfleiste seines Hemdes. Er sollte noch einen Knopf öffnen. Und dann noch einen. Und noch-
„Erde an Silly!" Alica schnippte vor meinem Gesicht herum. „Spring ihn nicht gleich an. Der Arme."
„Entschuldige?!" Mit offenem Mund sah ich zu ihr.
Sie grinste breit. „Wie wär's denn, wenn du ihn ansprichst, statt ihn nur gruselig aus der Ferne anzustarren?"
„Klar. Und was dann? Er verliebt sich in mich, wir heiraten und bekommen Kinder?"
„Das hast du jetzt gesagt."
Um ehrlich zu sein, hatte ich mir für meine Zukunft schon deutlich schlimmeres ausgemalt.
„Vielleicht landet ihr in der Kiste? Die meisten Mädels halten ihn weniger für einen Vampir, sondern eher für einen Sexgott."
Er gefiel mir, ja. Ich fand ihn heiß. Und ich hatte Stunden damit verbracht, an ihn zu denken. Aber nie an sowas.
Diese Party war dazu da, ihn und seine Freunde unter die Leute zu bringen. Das war es, worauf ich mich konzentrieren sollte. Dem sollten meine Gedanken gelten. Aber Alica ließ nicht locker.
„Boris meinte, Kian hat voll den Sixpack. Hat er beim Sport in der Umkleide gesehen."
Das war mir nicht entgangen, immerhin saß er da neben mir. Jeden Mittwochmorgen musste ich verhindern, vor Kian auf den Boden zu sabbern.
Ich hatte nichts gegen die Aussicht an sich, ganz im Gegenteil. Aber die Gesellschaft störte mich. Keiner ließ sich gern in Gegenwart angriffslustiger Pubertiere von seinem Schwarm verzaubern.
Dass es ihm bei mir ansatzweise ähnlich ging, hielt ich für ausgeschlossen. Allein, weil dort, wo Muskeln seinen Körper zierten, bei mir nur viel zu blasse Haut zu finden war. Außer ich stand im richtig Licht und man musterte mich akribisch genug, um doch ein bisschen was zu erkennen. Und das würde Kian nicht.
Ich hasste es, dass mein testosterongesteuertes Hirn anfing, darüber nachzudenken, wie er wohl trainierte. Wie er dabei aussah und wie er dabei atmete und wie er dabei roch. Ich stellte mir vor, wie er rannte und wie er Gewichte stemmte und wie er den Atem ausstieß und wie Schweißperlen an seiner feuchten, gebräunten Haut entlangliefen...
„Ich muss mal an die frische Luft."
Alica folgte mir mit einer verwirrenden Selbstverständlichkeit von der Tribüne.
„Ich wollte alleine gehen."
„Um deine Latte zu verstecken, ich weiß. Keine Sorge, ich lasse dich in Ruhe. Ich will nachhause gehen."
„Also erstens habe ich keine Latte." Zumindest nicht ganz. „Und zweitens bringe ich dich lieber nachhause als dass du mitten in der Nacht alleine durch die Dunkelheit läufst. Nachher sieht dich noch jemand und erschreckt sich zu Tode bei deinem Anblick."
Sie lächelte lieblich und streckte mir ihren Mittelfinger vor die Nase.
Auf dem Weg nachhause redeten wir nicht viel. Wir kickten einen Stein zwischen uns hin und her und ich dachte darüber nach, ob das die Gelegenheit war, sie darauf anzusprechen, was mit ihr los war. Wie es ihr ging. Ob ich ihr irgendwie helfen konnte. Aber nach allem, was wir bereits zusammen durchgestanden hatten, musste klar sein, dass sie auf mich zählen konnte, wenn sie reden oder eine Leiche verscharren wollte. Also ließ ich es sein.
Oma war noch wach, als wir etwa 20 Minuten später ankamen. Alica erklärte ihr, dass sie Kopfschmerzen bekommen hatte und ging sofort auf ihr Zimmer.
„Gehst du zurück zur Party?", hakte Oma nach.
Ich nickte. „Du musst nicht auf uns warten. Es kann echt spät werden."
Sie lächelte bloß und strickte weiter.
Ich holte mir eine Flasche Wein aus dem Vorratsraum und machte mich auf den Weg zurück in die Schule. Dabei begann ich zu trinken.
Die Welt kam mir nachts so groß vor. Friedlich. So als ruhe in dieser Stille unendlich viel Potenzial, das nur darauf wartete, dass wir es uns zu eigen machten und selbst dafür sorgten, unsere Träume lebendig werden zu lassen.
Um nicht Gefahr zu laufen, meinen Wein teilen zu müssen, setzte ich mich auf dem Fußballfeld an ein Tor und entspannte dort ein wenig. Ich nahm mir vor, das öfter zu machen. Mit einer Flasche Wein spazieren gehen, einen ruhigen Ort finden, mich hinsetzen und einfach existieren. An nichts denken, nichts tun und niemand sein. Keine Probleme haben. Keine Sorgen. Keine Ängste. Keine Gedanken.
Die Musik der Halle drang leise an mein Gehör. Es klang nach Spaß und entstehenden Erinnerungen. Ohne mich. Denn hier draußen, allein, war ich sicher. Und stolzer Besitzer eines viel zu teuren Weines, der meinen Kopf immer schwerer werden ließ.
Alles, was über ein Glas zum Abendessen hinausging, sprengte sämtliche Dimensionen meiner Toleranz. Irgendwo hinter dem Alkoholnebel in meinem Hirn musste ich gewusst haben, dass kaum aufrecht sitzen zu können und fortwährend an die Öffnung der Flasche zu kichern ein Zeichen war, besser mit dem Trinken aufzuhören. Doch ich wollte nicht. Es fühlte sich zu gut an. Diese Wärme. Das Gefühl, von der ganzen Welt umarmt zu werden.
Ich mochte es, bei alle dem in den Sternenhimmel zu sehen. Mir zu überlegen, was wirklich Sterne waren, was Satelliten und welcher Stern womöglich schon gar nicht mehr existierte, während ich hier saß und ihn für seine Leuchtkraft bewunderte. Dann fragte ich mich, ob das überhaupt wichtig war. Egal, was sie waren und ob sie noch lebten, es ergab ein stimmiges Bild, ein schönes Bild und das zu hinterfragen, erschuf eine Quelle für Zweifel und Misstrauen. Für Gedanken, die ich nicht denken wollte und Gefühle, die ich nicht fühlen wollte.
„Wieso bist du ganz alleine hier?"
Aus der Nähe erkannte ich umso besser, wie eng Kians Anzug war. Seltsamerweise aber nur an den Stellen, die es trotzdem noch passend aussehen ließen. Beinahe gewollt. Vielleicht tat er das ja absichtlich. Vielleicht wusste er ganz genau, dass er mir gefiel und ging so einen kleinen Schritt auf mich zu. Vielleicht wollte er mir dadurch etwas sagen. Auf sich aufmerksam machen. Vielleicht genoss er meine Blicke.
„Bin ich nicht. Ich habe Herbert bei mir." Ich hob hinweisend meine Weinflasche hoch und stellte sie ihm vor. „Herbert, das ist Kian. Kian, Herbert."
Kian sah sich die Flasche verwirrt an, dann mich und dann wieder die Flasche. „Hast du die allein getrunken?"
„Sie ist noch halb voll."
„Oder schon halb leer."
„Du Pessimist."
Er zog bloß die Augenbrauen hoch und sein Blick richtete sich zum Horizont. Im Gegensatz zu ihm suchte ich keine Faszination in der Ferne. Ich sah sie direkt vor mir, ungefähr 1,90 groß, dunkelblond, blauäugig und unglaublich sexy.
Mein Hirn begann, ihn auszuziehen. Langsam. Kleidungsstück für Kleidungsstück.
Das war einzig und allein Alicas Schuld. Sie hatte mir diesen Gedanken in den Kopf gepflanzt und nun konnte ich ihn nicht mehr stoppen. Plötzlich stand er da, mit nacktem Oberkörper und entblößen Beinen. Nur noch eine enge schwarze Boxershorts lag zwischen seiner völligen Nacktheit und meinem Blick.
„Wieso grinst du so komisch?"
Ich grinste tatsächlich. Es war mir nicht mal unangenehm. Warum auch?
„Weil du keine Gedanken lesen kannst."
Er zog die Augenbrauen nach oben. „Ich glaube, du bist betrunken."
„Jepp." Es fühlte sich großartig an.
„Soll ich dich nachhause bringen?"
Kurz dachte ich ernsthaft darüber nach, ja zu sagen. Mich an ihn zu klammern, oder noch besser - mich von ihm tragen zu lassen. Doch ich musste bis zum Ende hierbleiben, um dann beim Aufräumen zu helfen und ich wollte gar nicht gehen.
„Nö. Aber du kannst mir aufhelfen."
Statt meine Hand zu ergreifen, um mir so auf die Beine zu helfen, beugte er sich runter, griff unter meine Achseln und lüpfte mich mit Leichtigkeit hoch. Kurz verließen meine Füße sogar den Boden und ich hatte das Gefühl zu fliegen. Dann lehnte er mich gegen den Pfosten und ließ langsam los.
„Wow, du bist echt stark." In diesen Zustand war mir nichts peinlich. Nicht mal, bewundernd über seine Arme zu streichen.
„Uhm... Danke?" Kian wich meinem Blick aus und ging einen Schritt zurück. Aber er lächelte.
Meine Hände stürzten von seinen Schultern in die weite Leere. Sie waren schwer. Es war kalt. Es war kalt und er war warm.
„Als was bist du eigentlich verkleidet?"
Es musste Stripper sein. Was Anderes kam nicht in Frage.
„Versicherungsvertreter."
Wenige Sekunden wichen einer seltsamen Stille. Mein angetrunkenes Hirn brauchte Zeit zum Verarbeiten. Dann lachte ich los. „Das ist das schlechteste Kostüm, das ich jemals gesehen habe."
Stripper wäre besser gewesen.
Kian konnte sich zu gut beherrschen, um sich so undurchdacht zu äußern wie ich. Ein bisschen beleidigt war er aber schon.
„Und was stellst du dar?"
„Ich habe mich nicht verkleidet."
Ich schnappte nach Luft und strich mir eine Lachträne aus dem Augenwinkel.
„Wieso nicht? Es ist eine Kostümparty."
„Keine Zeit", antwortete ich. „Und mir ist nichts Originelles eingefallen. Also lieber gar nicht verkleiden als so dämlich wie du."
Seine Augenbrauen wanderten nach oben, aber er hatte nichts zu seiner Verteidigung zu sagen. Stattdessen beugte er sich runter und riss eine Hand voll Gras aus dem Boden, ehe er damit zu mir kam und es mir auf den Kopf legte.
„Jetzt bist du eine Wiese."
Dass er grinste, erkannte ich nur am Rande. Ich lehnte an den Pfosten, hatte den Kopf im Nacken und blickte in seine eisblauen Augen. Sie hatten braune Sprinkler, die nach goldenen Verzierungen aussahen. Ich spürte Wärme, so als sei ich eingewickelt in eine flauschige Kuscheldecke und würde mit einer heißen Schokolade entspannt vor einem Kaminfeuer sitzen. Und obwohl seine Aktion total unlustig gewesen war, erwiderte ich das Schmunzeln.
Er legte ein paar Grashalme zurecht, aber auch als er damit fertig war, entfernte er sich keinen Millimeter von mir.
„Bin ich denn eine schöne Wiese?"
„Die schönste."
Das nächste, woran ich mich erinnern kann, ist, dass wir tanzten. Wie es dazu kam, wusste ich allerdings nicht. Wir hüpften verrückt über das Gras und ich zeigte Kian verschiedene Tanzarten, die man auf jeden Fall kennen musste. Zumindest behauptete ich das. In Wahrheit dachte ich mir nur irgendwas aus, das absolut affig aussah und lachte dann über seine süße Naivität.
„Zeig mal, wie man bei euch so tanzt", forderte ich.
Mir ging zwar langsam die Puste aus, aber ich wollte nicht aufhören. Niemals.
„Wir haben nur langweilige Bälle, auf denen man Paartänze macht."
„Oh." Ich war ergriffen. „Sowas wie Walzer?"
Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht wie es heißt oder wie man es genau tanzt. Ich durfte bisher nie mitmachen."
„Das ist ja fies." Ich ging zu ihm. Eine Hand legte ich an seine Seite und die andere hielt ich ihm hin. „Ich tanze Walzer mit dir."
„Du bist mir grade ganz schön nah."
Kurz danach legte er seine eine Hand in meine und die andere auf meine Schulter. Er war es, der mich sogar noch etwas näher zu sich zog und dadurch meinen Bauch ganz komisch zum Sprudeln brachte.
„Ich weiß."
Mein Vorsatz, ihm den Walzer zu zeigen, war schwerer umzusetzen als gedacht. Meine Beine bewegten sich kein Stück und auch er stand nur da und sah mich an. Mir war ein wenig schwindelig und meine Gedanken fühlten sich komisch an. Ich hörte Musik und Klirren zirpen und Kians Stimme. Aber seine Lippen bewegten sich nicht.
„Ich mag das. Walzer ist toll. Ein bisschen seltsam. Ich dachte, man bewegt sich dabei mehr. Aber toll. Diese Lippen. Rote Lippen. Wie sie wohl schmecken? Bestimmt nach was Gutem. Vielleicht nach Schokolade. Oder nach Honig. Ich habe Hunger. Er macht mich hungrig."
Obwohl ich eine Weile brauchte, um zu begreifen, dass es seine Gedanken waren, die ich da hörte, verarbeitete ich die Bedeutung seiner Worte schnell.
Kian beugte sich zu mir herunter. Alles in mir wollte ihm entgegenkommen und seine Lippen willig mit meinen empfangen. Ausnutzen, was er mir schenkte und genießen, was ich schaffte, mir zu holen. Aber er hatte nicht vor, mich zu küssen. Und ich hatte nicht vor, seinen Hunger zu stillen.
Mit aller Kraft stieß ich ihn von mir. Haltlos taumelte ich einige Schritte umher, bevor ich über meine eigenen Füße stolperte und zu Boden fiel.
Kian machte einen Schritt auf mich zu. Er streckte die Hand nach mir aus, setzte an etwas zu sagen, doch erstarrte im selben Moment, als er seine Krallen sah.
Eine schmale Blutspur rannte von seiner Lippe herab. Langsam, beinahe widerwillig zogen sich seine Reißzähne zurück.
Alles drehte sich. Die Luft war dünn und meine Brust schwer. Und das letzte, was ich sah, bevor kalte Schwärze von mir Besitz ergriff, war der blanke Schock in Kians wunderschönen Augen.
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