14
Silas
Kian und ich liefen gemeinsam die Flure entlang. Wir mussten einmal das Hauptgebäude durchqueren und dann im neuen Anbau den richtigen Kunstsaal finden. Das kostete Zeit. Wir trafen erst nach Beginn der Stunde im Klassenzimmer ein. Der Unterricht hatte aber noch nicht angefangen. Frau Löck entspannte mit ihrem Kaffee am Pult und ließ den Blick über den chaotischen Kurs wandern. Auf meiner Suche nach einem Sitzplatz, erspähte ich nur noch freie Bänke in den vorderen drei Reihen. Unauffällig hinten zu verschwinden würde hier also nicht funktionieren.
Kian trottete mir hinterher und fragte mich, ob er sich zu mir setzen dürfe. Seit wir angekommen waren, war es deutlich ruhiger geworden. Ich wusste um die Blicke meiner Mitschüler auf uns, doch versuche sie zu ignorieren. Genauso wie ihre Gedanken. Ich wollte nicht wissen, was sie davon hielten, dass er sich ausgerechnet mit mir abgab und für wie billig sie mich hielten, weil ich ihn nicht abwies.
„Klar. Aber ich dachte, Charlie soll neben dir sitzen?"
Wir ließen uns zusammen an einem der Tische nieder. Ich ergatterte den begehrten Platz am Fenster. Somit hatte ich zumindest eine Beschäftigung.
„Er hat sich für Musik entschieden. Ich konnte ihn davon überzeugen, nicht zu wechseln, weil Anna auch hier ist."
„Oh. Okay."
Es machte mich nervös, ihm so nah zu sein. Zu wissen, dass wir im Blickfeld unserer Mitschüler saßen und ich mit Kian als Attraktion neben mir nicht in der Masse untergehen konnte. Ich nahm mir vor, nicht zu nah zu ihm aufzurutschen, ihn nicht zu oft anzusehen, ihn nicht einmal anzulächeln. Mich nicht zu verraten. Alle Gedanken um mich herum blendete ich aus. Plötzlich war ich ein normaler Junge, der die falschen Gefühle für den falschen Kerl hatte.
Kian schien sich darum nicht zu scheren oder er bemerkte es schlichtweg nicht. Er sah mich während des Unterrichts lange an und ich traute mich nicht, seinen Blick zu erwidern.
Unser Gespräch in der Pause lieferte mir einiges, über das ich mir den Kopf zerbrechen konnte. Nur weil er momentan nicht daran interessiert war, beliebig mit Mädchen rumzumachen, war immerhin nicht ausgeschlossen, dass er per se kein Interesse daran hatte. Ich wollte mir keine falschen Hoffnungen machen. Bis diese Schwärmerei, und ja, ich gestand mir ein, dass es eine Schwärmerei war, wieder aufhörte, musste ich durchhalten und niemandem zeigen, was in mir vor sich ging.
Nach Schulschluss verabschiedete ich mich mit einem kurzen Gruß von Kian und presste mich noch während der Entlassungsworte der Lehrerin aus dem Klassenzimmer. Nur ungern ließ ich mich von dem Druck der großen Hand auf meiner Schulter von meiner Flucht ins Wochenende abhalten.
Aufgrund der Enge des Flurs rempelte Kian Tom am Vorbeigehen an. So fiel seine Hand von meiner Schulter herab. Mit unzufriedenem Gesichtsausdruck sah Tom Kian hinterher. Er wirkte so als wolle er etwas zu ihm sagen, tat es aber nicht.
Mir fiel auf, dass Kian und Tom etwa gleich groß waren, ich mir vor Kian jedoch nie wesentlich kleiner vorgekommen war.
Innerhalb von Sekunden brach eine Flut von Schülern über den Flur herein. Eine Horde Achtklässler trampelte an uns vorbei und machte eine Unterhaltung bei Zimmerlaustärke unmöglich. Ich deutete Tom an, mir zu folgen und quetschte mich zu einer ruhigen Ecke durch.
„Man könnte echt meinen, wir sind hier im Zoo." Tom schüttelte den Kopf. „Egal. Ich will dir gar nicht viel Zeit von deinem Wochenende klauen. Es ist nur so, dass Amy und ich eine Idee hatten. Wegen des Schlüssels."
Interessiert schossen meine Augenbrauen nach oben. „Und zwar?"
Ein verheißungsvolles Grinsen legte sich auf seine Lippen. „Nächsten Samstag ist das letzte Training vor dem Turnwettkampf am Sonntag. Am Freitag davor ist ein Elternsprechtag für die Unterstufe. Der Dauland ist immer der letzte, der die Halle verlässt. Wir müssten nur warten, bis er weg ist und sie wieder aufsperren. Falls wir auffliegen, könnten wir es so drehen, als hätte er vergessen, die Halle zuzusperren und somit wäre, alles, was dann passiert ist, in seiner Verantwortung."
Ich war erstaunt. Tom hatte sich tatsächlich Gedanken gemacht und sicher den ein oder anderen Streit mit Amelie riskiert, um zu diesem Ergebnis zu kommen.
„Das ist genial. Danke."
„Hey, kein Ding. Amy freut sich schon total."
Ich lächelte. Amelie hasste Spitznamen. Noch vor zwei Jahren hatte sie mich deshalb durch das ganze Haus gejagt.
„Wenn du noch was brauchst, melde dich", meinte Tom, „aber ich muss jetzt."
„Bis dann." Ich beobachtete ihn dabei, wie er zu Amelie lief. Sie hatte mit ein paar Freunden auf ihn gewartet und empfing ihn mit einer innigen Umarmung. Ihr Blick haftete dabei auf mir.
Oma erwartete mich zuhause mit dem Mittagessen. Boris war wie so oft spontan abgetaucht und würde sich erst melden, wenn er betrunken war und deshalb nicht mehr nachhause fand. Von Alica wussten wir, dass sie in der Stadt unterwegs war. Shoppen. Sie hatte mich gefragt, ob ich mitkommen wollte, doch ich hatte dankend abgelehnt. Ich verbrachte den Nachmittag lieber alleine mit Oma. Reden, Schach spielen, den Garten machen. Mir war alles lieber als für meine Cousine und ihre Freundinnen den Berater abgeben zu müssen.
Oma betrachtete mich amüsiert, während ich das Essen in mich hineinschaufelte. „Man könnte meinen, du hast seit Tagen nichts mehr zu essen bekommen."
„Es ist so lecker!"
Sie kochte wie eine Göttin. Dafür konnte ich doch nichts.
„Das freut mich aber. Wie läuft es denn gerade in der Schule, mein Liebling?"
Ich erzählte ihr von meinem Stundenplan, einem Lehrerwechsel und den Inhalten, die wir diese Woche angeschnitten hatten. Um das Thema „Vampire" kam ich nicht herum. Mir fiel nicht auf, wie oft ich Kians Namen sagte, bis er schon beinahe wie ein Echo aus meinem Mund hallte.
„So, so, er hat dir also Schokoriegel geschenkt." Ihr Grinsen wurde von den akrobatischen Meisterleistungen ihrer Augenbrauen begleitet. „Er umwirbt dich ja richtig."
„Er ist einfach nur nett", wiegelte ich möglichst gelassen ab und schabte mit meiner Gabel in meinem leeren Teller herum.
„Und attraktiv soll er sein, habe ich gehört."
Ich brummte halb zustimmend, halb abweisend und hoffte, sie würde es so stehen lassen. Das letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte, war, mit meiner Oma über Kian zu schwärmen. Es war mir bereits unangenehm genug, dass ich ihn mochte. Und vor allem, dass meine Oma das durchschaut hatte. Ich konnte darauf verzichten, erneut Gesprächs- und Gedankenthema Nummer eins zu werden, wenn alle anderen das auch bemerkten.
„Gefällt er dir denn auch?"
Meinen Befürchtungen, sie würde eine Krisensitzung einberufen, weil ich mich für Jungs interessierte, hatten sich nie bewahrheitet. Sie hatte irgendwann unauffällig angefangen, ihre Sätze und Fragen anders zu formulieren und mich hatte das unheimlich erleichtert. Ich hatte lange mit mir zu kämpfen gehabt, um zu akzeptieren, was in mir vor sich ging und noch länger, um zuzulassen, dass andere es sahen. Mittlerweile wussten es alle, die mich kannten. Daran war Amelie nicht unschuldig. Aber ich hatte es ihr nie übelgenommen. Sie war verletzt und wütend gewesen und da machte man nun mal unüberlegte Sachen. Das Einzige, was mich beschäftigte, war wie mein Vater dazu stehen würde. Ich hätte gern mit ihm darüber geredet. Vom ihm gehört, dass es okay war und es rein gar nichts an mir oder seiner Liebe zu mir änderte. Mir fielen so viele Dinge ein, die ich mit ihm und meinem zukünftigen Partner hätte machen können. Ich wusste aber nicht, ob mich diese Vorstellungen nicht eher traurig machten als glücklich.
Meine Oma verstand schnell, dass ich dazu nichts sagen wollte. „Du kannst ihn ja mal mitbringen, wenn du magst."
Nachdem wir zusammen den Tisch abgeräumt hatten, verzog ich mich in unserem provisorischen Spielezimmer und setzte mich vor die Konsole. Ballerspiele sollten helfen, etwas von dem Druck, der sich in mir angestaut hatte, rauszulassen.
Ich spielte etwa vier Runden, bis ich das Interesse verlor und beschloss, dass es Zeit war, Hausaufgaben zu machen. Auf dem Weg durch den Flur hörte ich ein Schluchzen aus Alicas Zimmer. Ich hatte nicht mitbekommen, wie sie nachhause gekommen war. Dass sie eine schöne Zeit gehabt hatte, konnte ich ausschließen.
Wenige Momente später lag ich in ihrem Bett und hielt sie fest, während sie sich an meiner Brust ausheulte. Im Trösten war ich die totale Niete. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun oder sagen sollte oder was denn überhaupt los war. Sie wollte nicht darüber reden und obwohl es mich beinahe umbrachte, nichts dagegen tun zu können, dass es ihr so schlecht ging, wagte ich es auch nicht, bewusst in ihre Gedanken zu hören.
Nach dem Tod meines Vaters hatte sie fast jeden Tag mehrere Stunden mit mir zusammen im Bett verbracht und tatenlos an die Decke gestarrt. Ich war mir vorgekommen wie ein kalter, schwerer Stein. In mir war es leer gewesen. Keine Gedanken, keine Gefühle, nichts. Manchmal hatte ich in den Spiegel gesehen und mich gewundert, dass mir überhaupt etwas entgegengeblickt hatte. Nur, wenn sie neben mir gelegen und ich ihre Gedanken gehört hatte, war ich dazu im Stande gewesen, etwas wahrzunehmen. Schmerz. Schuld. Verzweiflung. Aber auch Sorge, Mitgefühl und Zuneigung. Das hatte mich daran erinnert, dass ich selbst noch am Leben war.
Nachdem ihre Tränen versiegt waren und sie sich kräftig die Nase geputzt hatte, saßen wir auf ihrer Matratze herum. Ich konnte meinen besorgten Blick nicht von ihr nehmen und sie wollte mich nicht ansehen. „Kannst du mich bitte allein lassen? Ich will grade echt nicht reden."
Nur ungern verließ ich ihr Zimmer. Ich war es nicht gewohnt, nicht zu wissen, was in jemandem vor sich ging, hatte vergessen, wie hilflos man sich in diesen Momenten fühlte.
Noch vom Flur aus hörte ich Musik aus dem Inneren meines Zimmers. Als ich Boris mit seiner Gitarre auf meinem Schreibtisch sitzen sah, schüttelte ich ungläubig den Kopf und riss meine Zimmertür allein der Dramatik wegen weiter auf.
„Wo warst du?!"
So musste eine überfürsorgliche Mutter reagieren, wenn ihr Sohn nach einem unangekündigten Verschwinden plötzlich auftauchte. Zumindest stellte ich es mir so vor. Mit überfürsorglichen Müttern – oder Müttern überhaupt – hatte ich wenig Erfahrung. Vor allem nicht mit meiner.
„Ich war mit Austin unterwegs. Maddy kam später auch noch mit dazu. War ganz witzig."
Meine Augenbrauen schoben sich misstrauisch zusammen. Anfang der Woche hatte er nicht mal mit Erwachten im selben Raum sein wollen und nun verbrachte er einen ganzen Nachmittag allein mit ihnen? Das konnte ich nicht glauben. Was hatte sich geändert?
Er überging meine Blicke indiskret, legte seine Gitarre zur Seite und drehte sich ein paar Runden auf meinem Schreibtischstuhl. Als er ihn zum Stehen brachte, wippte er orientierungslos hin und her. Ich beobachtete ihn und wartete darauf, dass er aufklärte, warum er sich in meinem Zimmer die Zeit vertrieb und nicht in seinem eigenen. Diese Taktik erwies sich als erfolgreich.
„Ich habe eigentlich nichts gegen die Vampire. Austin und Maddy sind total nett."
„Wieso höre ich da ein Aber?"
„Ich habe halt das Gefühl, die bedeuten nur Schwierigkeiten. Und nicht so Schulverweis-Schwierigkeiten, sondern Leben-und-Tod-Schwierigkeiten." Vorsichtig hob er den Blick, um sich meine Reaktion anzusehen.
„Nach dem, was wir gesehen haben, ist doch klar, dass es nicht ganz einfach ist, sich darauf einzulassen. Aber das damals... Das war Krieg. Und jetzt haben wir Frieden."
Boris schluckte merklich. „Manchmal träume ich sogar noch davon." Er schaute runter auf seinen Schoß, verzog dabei das Gesicht. „Dann sehe ich diese ganzen Leichen und das Blut und ich höre die Schreie. Und es hört einfach nicht auf..." Er schüttelte leicht den Kopf. „Ich wünschte, wir wären niemals dahingegangen."
„Tut mir leid", murmelte ich.
Damals, mit 13 oder 14, hatte Boris vorgeschlagen, uns zu meinem Vater zu schleichen. Ich hatte ihn unglaublich vermisst und keine Worte oder Umarmungen hatten mich mehr trösten können. Ich hatte ihn nur kurz sehen wollen. Ihm zeigen, wie groß ich geworden war. Meinen Bartwuchs präsentieren. Ich hatte ihm so vieles zu erzählen gehabt und mir nichts mehr gewünscht als dass er mich in den Arm nahm und die Welt somit zu einem sicheren Ort machte. Doch dazu war es nie gekommen. Stattdessen hatten wir uns auf einem Schlachtfeld wiedergefunden, umgeben von Schreien, Blut, abgetrennten Gliedmaßen und Leichen. Wir hatten erlebt, was dieser Krieg wirklich war. Dieser Krieg, von dem immer alle geredet hatten, der so fern gewirkt hatte, doch nur wenige Kilometer neben der Stattgrenze stattgefunden hatte. Wir hatten nichts Edles oder Heroisches daran gefunden. Dieser Krieg war laut, dunkel und grausam gewesen. Und ich hatte an diesem Tag begonnen, die Welt mit anderen Augen zu sehen.
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