13

Kian

Ein Prinz zu sein bedeutet, einem bestimmten Schema zu entsprechen. Bestimmte Rechte anzunehmen, bestimmten Pflichten nachzugehen, zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten zu sein, sich einer bestimmten Art zufolge zu benehmen, zu artikulieren und zu kleiden.

Ich hörte mir das schon an, seit ich denken konnte. Genauso lange wusste ich, dass das Ansprüche waren, die ich nicht erfüllen konnte. Und manchmal wollte ich das auch nicht. Manchmal wollte ich die Schultern hängen lassen, Schimpfwörter benutzen, in Jogginghosen rumgammeln und mich mal so richtig gehen lassen. Von mir aus auch in aller Öffentlichkeit. Ich wollte mir aller Blicke und Urteile bewusst sein und dem keine Beachtung schenken können. Dem keinen Platz geben in meinen Gedanken und in meinen Gefühlen.

Charlie wusste oft, was in mir vor sich ging. Was mich belastete. Aber keiner von uns sprach es an. Das war nichts, worüber man redete. Es zu erwähnen hatte zur Folge, sich damit beschäftigen zu müssen. Und das würde zu nichts führen, denn für dieses Problem gab es keine annehmbare Lösung.


Am Freitag in der ersten Pause kapselte ich mich von meinen Freunden ab, um Silas zu den Feuertreppen zu folgen. Charlie ließ mich ungern alleine gehen, aber er wagte es auch nicht, mich aufzuhalten. Seit er Boris am Mittwoch in der Bibliothek so heftig gestoßen hatte, dass Austin ihn ins Krankenzimmer hatte bringen müssen, mied Charlie Körperkontakt noch mehr als sonst. Im Gegensatz dazu war ich total rücksichtslos, entschuldigte ich mich aber für jeden Stoß, den ich austeilte, und einige wichen ohnehin von selbst zur Seite, als sie mich und meine Eile erkannten.

Sich durch die Menge zu drängeln war der einzige Weg, auf einem Schulflur vorranzukommen. Vorsicht und Geduld bedeuteten in diesem ungesitteten Verkehrsaufgebot den Untergang.

An den Lehrertoiletten im dritten Stockwerk führte ein kleiner Flur vorbei in eine Art Abstellraum. Zwischen zwei DVD-Regalen befand sich die Tür, durch die ich am Dienstag gegangen war, in der Hoffnung, einen Ausgang zu finden.

Ich atmete tief durch, während ich meine Hand auf die Klinke legte. Silas ging dorthin, um allein zu sein. Es war sein Rückzugsort. Ich wusste den Wert dieses Platzes zu würdigen und wollte ihm nicht durch einen unnötig lauten und rücksichtslosen Eintritt die Ruhe rauben. Also bemühte ich mich, leise zu sein und schob mich  langsam durch einen kleinen Spalt der Tür.

Mit einem leisen „Hey", machte ich auf mich aufmerksam.

Silas stand an den Gittern und sah runter auf den Pausenhof. Er drehte sich mit überraschtem Gesichtsausdruck zu mir und erwiderte das Gesagte dann ebenso leise.

„Darf ich dir Gesellschaft leisten?"

„Kannst du denn dafür bezahlen?" Er hatte eine Augenbraue hochgezogen und die Arme vor der Brust verschränkt.

Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Ich holte zwei Packungen Schokoriegel aus meinem Rucksack und bot sie ihm mit gesenktem Haupt dar.

Erst, als sein Lachen erklang, hob ich den Blick wieder. Ich mochte sein Lachen. Ich mochte es wie seine Augen dabei zu strahlen begannen und, dass Grübchen auf seinen Wangen sichtbar wurden. Ich mochte das Gefühl in meinem Bauch, wenn er lachte.

„Du willst mich doch nicht mästen, um den Platz für dich alleine zu haben?"

„Keineswegs. Alleine ist es hier nur halb so schön."

„Mhm." Er kniff die Augen zusammen. Ich sah ihm an, dass er über etwas nachdachte. Daher zog ich fragend die Augenbrauen hoch und bat um eine Antwort, die aus mehr bestand als einem simplen Laut.

„Es gäbe genügend Mädchen, die gerne mit dir hierherkommen würden."

Er setzte sich auf die Treppen und öffnete eine der Packungen, um zwei Riegel herauszunehmen. Einen davon streckte er mir hin.

„Und was soll ich dann mit denen hier?"

„Ich weiß nicht. Rummachen oder so."

Ich konnte spüren, wie sich meine empfundene Verwirrung in meinem Gesicht abzeichnete. Zusammengezogene Augenbrauen, unsicheres Lächeln und nervöses Schlucken. „Aber wieso sollte ich das tun?"

Nach viel zu langer Zeit sah er wieder zu mir. Er musterte mich kurz und schien zu erkennen, dass er mich damit komplett überforderte.

„Zum Spaß, schätze ich."

Für wenige Sekunden sahen wir uns still an. Dann war er es, der die Augenbrauen zusammenzog. „Hast du noch nie mit jemandem rumgemacht?"

Ich sagte nichts. Dennoch nickte er, knabberte etwas an der Schokolade und redete danach weiter.

„Ich würde einiges rückgängig machen, wenn ich könnte. Mir mit solchen Sachen Zeit lassen. Vielleicht sogar auf die richtige Person warten, so dämlich das vielleicht auch klingt. Lieber ein paar Gelegenheiten auslassen als was zu tun, was man für immer bereut."

„Ich hatte keine Gelegenheiten", murmelte ich an meine Schokolade, ehe ich ebenfalls davon abbiss.

„Keine Sorge, es werden sich dir bald genügend davon an den Hals werfen." Er schaute wieder nach vorne und lehnte sich an das Geländer neben sich. „Du wirst die freie Wahl haben. Falls du wählen willst."

„Ich verstehe nicht, was du meinst."

Sein Ausatmen klang belustigt. Weiterhin sah er nur geradeaus. Auch so erkannte ich, dass er schmunzelte. „Du bist echt niedlich. Da tut sich fast das Bedürfnis in mir auf, dich zu beschützen."

Da die Stille ihm diesmal keine Antwort lieferte, schaute er mich doch wieder an. Im selben Moment sah ich weg und widmete mich meinem Snack, so als hätte ich die ganze Zeit über nichts Anderes getan.

„Oje, Kian." Silas' Belustigung nahm weiter zu. „Ich glaube, es gibt da etwas, das du wissen solltest."

Er drehte sich zu mir und versuchte, mich ernst anzusehen. Es misslang ihm. „Du bist heiß."

Seine Blicke fühlten sich unglaublich intensiv an... Seine Nähe. Alles in meinem Körper begann zu vibrieren. Doch ich selbst konnte mich nicht bewegen.

„Sexy, attraktiv, nenn es wie du willst. Die Mädchen schwärmen ununterbrochen von dir und sobald sie verstanden haben, dass du auch noch nett bist, werden sie sich auf dich stürzen und versuchen, deine Prinzessin zu werden."

„U-und, wenn ich das nicht will?"

Er zuckte wieder mit den Schultern. Dass er mich dabei anlächelte, war unglaublich paradox, vor allem in Kombination mit seinen Worten. „Dann wirst du wohl reihenweise Herzen brechen. Aber solange du niemandem falsche Hoffnungen machst, hast du dir nichts vorzuwerfen."

Ich fand das unheimlich. Es wirkte so kalt und unaufrichtig. Das war genau das Gegenteil von dem, was ich wollte. ‚Rummachen', Küsse, Liebe... All das war ohne eine tiefere Bedeutung doch gar nichts wert.

„Hei, vielleicht irre ich mich ja auch." Diesmal wirkte Silas' Lächeln aufmunternd.

Ich seufzte bloß und bastelte ein wenig an der Verpackung meines Schokoriegels herum. Eher knüllte ich sie zusammen und glättete sie wieder, mehrere Male. Einfach, um mich irgendwie zu beschäftigen.

Als ich es neben mir knistern hörte, bemerkte ich, dass Silas mir nachmachte. Im Gegensatz zu mir schien er aber zu wissen, was er da tat. Durch gezielte Griffe formte er einen kleinen Schmetterling, den er mir wenige Sekunden später hinhielt.

„Schenke ich dir."

Überrascht nahm ich ihn an mich. „Uhm... Danke."

„Wenn ich den irgendwo im Müll finde, hast du mein Herz auch gebrochen."

Mein Blick schoss zu ihm. Er grinste mich an und schulterte seinen Rucksack. „Die Pause ist gleich zu Ende. Kommst du mit?"

„Äh."

Schon wieder: Die reinste Überforderung. Bisher hatte es noch niemand geschafft, dass ich mich so gefühlt hatte, als sei mein Hirn aus meinem Kopf geflohen und hätte nur gähnende Leere hinterlassen. Er musste mich für total dämlich halten. Falls er das tat, ließ er es sich nicht anmerken. Sein Blick lag ruhig auf mir, ein leichtes Lächeln zierte seine Lippen und so krampfhaft ich auch in seinen Augen nach einem Urteil suchte... Ich fand es nicht.

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