12
Silas
Diese Zeit war von Unsicherheit geprägt. Niemand hatte Gewissheit darüber, wie es weitergehen würde und niemand wagte es, sich auf dem, was wir wussten, auszuruhen. Dabei ging es nicht nur um den Frieden und die Integration, sondern auch um persönliche Perspektiven. Wie viele andere aus meinem Jahrgang wusste ich für die Zeit nach meinem Abschluss nichts mit mir anzufangen. Weder das Angebot an Ausbildungsplätzen, noch Studienfächern oder Jobs sagte mir zu.
Alica wusste, dass ich mir viele Gedanken darum machte. Sie war zwar genauso planlos wie ich, stand dem aber deutlich lockerer gegenüber. Um Geld mussten wir uns keine Sorgen machen und Oma war die verständnisvollste Person auf diesem Planeten. Der einzige, der Druck auf mich ausübte, war ich selbst.
Es war wie in meinem Hirn nach einer Vokabel zu graben, von der ich genau wusste, dass sie da sein musste. Wie die Antwort vor Augen zu haben, aber sie dennoch nicht zu sehen. Ich hatte das Gefühl, es müsse sich nur ein einziger Schalter umlegen, eine kleine Sache ändern und plötzlich würde alles Sinn machen und ich wüsste genau, was das Richtige für mich sei. Aber ich hatte keine Ahnung, wo dieser Schalter zu finden war und ob es ihn überhaupt gab.
Noch vor zwei Jahren wäre das simpel gewesen. Alle Jungs, die physisch in der Lage gewesen waren, waren sechs Wochen vor ihrem achtzehnten Geburtstag ins Militär aufgenommen worden, um sich einem Crashkurs zu unterziehen. Sobald die Volljährigkeit erreicht war, stünde man auf dem Schlachtfeld. Falls man es schaffte, die ersten fünf Jahre zu überleben, blieb einem die Wahl, als Soldat "Karriere" zu machen oder auszutreten und sich zum Spott der Gesellschaft zu machen.
Nun schien, was damals selbstverständlich gewesen war, undenkbar. Und keiner konnte wissen, ob die Lage sich nicht wieder drastisch ändern würde.
Alica und ich verbrachten den Nachmittag am See. Während ich im Schutz des Sonnenschirms sinnierte, bräunte sie sich einen Meter weiter.
Schon vor einer Stunde war mir eine Gruppe junger Leute aufgefallen. Einige von ihnen kannte ich aus der Schule. Tom hatte sich gleich nach seiner Ankunft mit Alica und unterhalten. Er hätte sich gerne angesehen, wie die Erwachten Fußball spielten, hielt es aber für wichtiger, vorsichtig zu sein. Die Verletzungsgefahr sei ohnehin schon nicht gering und von der Fairness, wenn ein paar Halbstarke gegen übernatürliche Superwesen spielten, wollte er gar nicht erst anfangen.
Trotzdem hatte ich Tom vorgeschlagen, nochmal mit dem Trainer darüber zu reden. Vielleicht gab es die Möglichkeit, uns selbst entscheiden zu überlassen, ob wir mit den Erwachten spielen wollten, wenn wir uns aller Gefahren und Umstände bewusst waren.
Dann hatte Amelie ihn zu sich gerufen wie einen Hund, der sich von der Leine losgerissen hatte. Einzig, dass er auf allen Vieren, hechelnd und sabbernd zu ihr zurückgelaufen war, hatte gefehlt.
Ich hatte genügend, das mich beschäftigen sollte. Und dennoch konnte ich nicht aufhören, an Kian zu denken. Ich wollte mehr über ihn erfahren. Mir anhören, wie es war, ein Prinz zu sein. Ihn fragen, warum er zum Lesen in den Wald ging, wenn er ein ganzes Königreich zur Verfügung hatte. Erfahren, ob mein Alltag, den er gerade durchlebte, sehr befremdlich für ihn war. Ob er sich hier bei uns wohlfühlte.
In den Kursen, die wir zusammen hatten, zeichnete er viel und in den Pausen beobachtete ich ihn von meinem Platz an den Feuertreppen aus. Manchmal wünschte ich mir, er würde zu mir hochsehen. Und oft wünschte ich mir, er würde neben mir stehen. Aber mir war auch klar, dass das Dinge waren, die nicht passieren würden und nicht passieren sollten. Er musste präsent sein und sich nicht zusammen mit einem Einzelgänger verstecken. Wozu denn auch? Um zweisame Momente zu erleben und über Schokoriegel zu verhandeln? Wohl kaum.
Spätestens nach der Party würden sich die anderen um ihn scharen wie alte, entzückte Frauen um ein süßes Baby. Ein kleiner Teil von mir wollte das verhindern. Ich war niemand, aus der Menge herausstach. In ein paar Wochen, nach tausenden Gesprächen mit hunderten von Menschen, war ich dann nur noch der Typ, bei dem er seine Schokoladen-Schuld noch nicht beglichen hatte und das wahrscheinlich auch niemals tun würde.
Meine Aufgabe so ernst zu nehmen, wie ich es tat, war nichts weiter als ein Versuch, Kian aus meinen Gedanken zu vertreiben.
„Alica." Ich tippte meiner Cousine vorsichtig an die Schulter. Sie zuckte zusammen und schlug meine Hand weg.
„Psst, gleich kommt meine Lieblingsstelle."
Das respektierte ich natürlich. Amüsiert wartete ich, sah dabei zu, wie sie auf einem imaginären Schlagzeug herumtrommelte und ihr Gesicht seltsam verzog, um den Text leise mitzuquietschen. Erst, als sie ihre Kopfhörer rausnahm, wagte ich es erneut, sie anzusprechen.
„Ich habe eine Idee wie wir an den Schlüssel kommen. So hätten wir eine Location und könnten Dauland eins auswischen. Zwei Fliegen, eine Klappe und so."
Orientierungslos tastete sie ihren Kopf nach ihrer Sonnenbrille ab. „Schieß los."
Mit einem Kopfnicken deutete ich in die Richtung von Toms Gruppe. „Amelie bekommt doch vor Turnwettkämpfen immer übers Wochenende den Schlüssel zur Turnhalle, damit das Team trainieren kann."
Alica sah mich kritisch an. „Dir ist aber klar, dass es einfacher ist, selbst eine Turnhalle zu bauen als einen Gefallen von Amelie zu bekommen?"
Ich zuckte nur mit den Schultern.
„Okay, dann fragen wir sie." Sie stand in einer flüssigen Bewegung auf und hielt mir die Hand hin, um mich auf die Beine zu ziehen.
Verunsichert sah ich an mir herab. Ich hielt es für seltsam, halbnackt zu jemandem hinzulaufen. Die Situation wäre vollständig bekleidet schon unangenehm genug gewesen.
„Sollen wir uns nicht erst anziehen?"
„Wir sind an einem Badesee, Silas. Es hat fast vierzig Grad und die sind auch alle in Badewäsche. Nein, wir sollten uns nicht erst anziehen."
Im Gegensatz zu mir hatte sie durch das Turnen wenigstens regelmäßig Kontakt zu Amelie. Ich hatte schon seit Monaten nicht mehr mit ihr gesprochen und für sie hätte das wohl deutlich länger sein dürften.
Mit ihrem finsteren Blick auf uns zischte sie Tom etwas ins Ohr. Ihr Freund verzog daraufhin verwirrt sein Gesicht und schüttelte leicht den Kopf, ehe er sich zu uns wandte. „Lasst mich raten, ihr wollt was vom gekühlten Bier."
Er deutete auf eine Kühlbox, in der duzende Dosen gelagert waren. Den Kommentar drüber, dass die Kühlbox wenig brachte, wenn man den Deckel offenließ, ersparte ich mir. Ich hielt ihn für intelligent genug, selbst darauf zu kommen. Spätestens, wenn das Bier warm war.
„Nicht wirklich", gab Alica zurück und richtete ihren Blick auf Amelie. „Wir wollten eigentlich mit dir reden."
Der Turnkapitän verschränkte die Arme.
„Wir brauchen den Schlüssel zur Turnhalle, um eine Party zu feiern."
Obwohl ich es nicht schaffte, Amelie anzusehen, spürte ich ihre herablassenden Blicke deutlich. Ihr verbittertes Schnauben konnte nur mir gelten. „Vergesst es! Ihr schmeißt eine Party und ich soll den Kopf dafür hinhalten? Sicher nicht!"
Obwohl ich verstand, dass wir nicht mehr befreundet sein konnten nach allem, was zwischen uns passiert war, tat es weh, immer wieder zu spüren zu bekommen, wie sehr sie mich verabscheute. Wenn ich durch den Bruch unserer Freundschaft etwas gelernt hatte, dann, dass nichts näher beieinanderlag als Liebe und Hass.
„Was soll das überhaupt für eine Party werden? Keiner von euch hat demnächst Geburtstag und sonst feiert nur Boris gern."
„Die Party ist nicht für uns. Wir wollen der Integration so einen kleinen Schubser geben."
„Mit den Vampiren feiern, um diese seltsame Blockade irgendwie zu lösen?", hakte Tom interessiert nach.
Mittlerweile schaffte ich es, zumindest ihn anzusehen. Er warf mir immerhin keine Killerblicke zu. Bei ihm war es ein aufmunterndes Lächeln. Amelie musste ihm erzählt haben, was zwischen uns vorgefallen war. Oder zumindest die Teile davon, die sie dazu berechtigten, mich gedanklich immer wieder auf alle möglichen Arten qualvoll umzubringen.
Ich nickte vorsichtig.
„Die Idee gefällt mir", meinte er. „Eine Kostümparty wäre mega lustig. Du liebst doch Kostümpartys." Er legte den Arm um seine Freundin und zog sie etwas näher an sich heran. Dabei drückte er ihr einen Kuss auf den Kopf.
Seit er in der neunten Klasse auf unsere Schule gewechselt hatte, wurde er jedes Jahr aufs Neue zum Schülersprecher gewählt. Er war jemand, der sich für alles begeistern ließ und immer dazu bereit war hundert Prozent zu geben. Ob es nun um sinnlose Partys ging oder wichtige Charité-Veranstaltungen, Tom war für alles zu haben.
Ich freute mich darüber, dass Amelie jemanden wie ihn an ihrer Seite hatte. Er war ein guter Fang. Groß, attraktiv, gebildet, engagiert... Besser ging es doch kaum. Mal davon abgesehen behandelte er sie gut. Ich wünschte mir von ganzem Herzen, dass sie mit ihm glücklich werden konnte. Denn er gab ihr Dinge, die ich ihr niemals hätte geben können.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top