13 - Hoffnungslos
Kein Wort über die Lippen bringen können, noch immer unter Schock von dem, was sie eben beobachteten, ließen Anni und Amelie sich widerstandslos von Grodans Männern mitziehen. Nicht einmal versuchend sich den Weg zu den Gefängnissen einzuprägen, weil in diesem Moment eh alles nur bedeutungslos zu sein scheint.
So kommt es, dass die beiden in einer Zelle tief unter der Erde landen. Das einzige Licht die wenigen Fackeln in den Gängen sind, die unregelmäßig auf und ab Flackern und so wenigstens etwas Helligkeit zur Orientierung spenden. Unsicher sehen die beiden Mädchen sich an, als die Schritte von Grodans Männern längst wieder in der Ferne verhallt sind. Und die beiden sich sicher sein können, zum ersten Mal wieder unter sich zu sein.
„Ich verstehe gar nichts mehr...", wispert Amelie, erschöpft und gezeichnet vom Gesehenen auf den Boden gesunken und sich an der Wand anlehnend.
„Vio ist noch immer bei diesem... ihrem ... Onkel ... da draußen...", murmelt Anni wiederum, noch immer die Gitterstäbe umklammert habend und in den dunklen Gang starrend, welchen sie eben erst selbst entlanggegangen sind. In der stummen Hoffnung, das Violene dort jeden Moment auftauchen würde. Die Zelle aufmacht und sie einfach alle von hier verschwinden können.
Auf dem Marktplatz
Zufrieden beobachtet Kol wie sein Stammesanführer die offizielle Versammlung auflöst und wie der Großteil der Dorfbewohner ohne größeres Murren den Marktplatz verlässt. Jeder seinen eigenen Aufgaben nachgehend. Sodass nur noch er, dieses Verfluchte Kind und ihr gutes Stammesoberhaupt übrig bleiben. Kaum brach dieses Kind unter seinem Griff zusammen, als die Verräterin Rikke endlich ihre gerechte Strafe erhielt, hielt er es auch nicht mehr für nötig sich noch weiter die Mühe zu machen sie festzuhalten. So kommt es, dass sie noch immer vor ihm kniet, den Blick auf das Blut am Boden gerichtet. Mit unregelmäßigem Schluchzen noch immer weinend.
Wie erbärmlich.
Verächtlich bleibt Grodans Blick auf seiner Nichte ruhen.
Erst taucht sie hier auf, dann bringt sie noch Weitere dieser Drachenreiter mit. Nur um dann wiederum die Drachen zu verjagen. Und jetzt so erbärmlich auf dem Boden zu knien. Wäre Rikke nicht gewesen, wäre das nutzlose Kind nie von ihrem vorherbestimmten Wege abgekommen. Und all das, all ihre Strafen, all das Erziehen und die Versuche des Trainings hätten nicht sein müssen. Sie hätte funktioniert und gehorcht, wie man es von ihr erwartete. Aber schlussendlich ist das Verfluchte Kind ebenso unnütz und stur wie das Dorf, in dem sie geboren wurde.
Schon vor einem Jahr war er sehr gnädig zu ihr gewesen, als er ihr und diesem Reptil das Leben schenkte. In Anbetracht der jetzigen Situation und der vergangenen Monate wohl aber zu gnädig. Außerdem sind die Drachen aktuell irgendwo da draußen, also ebenso wenig zu gebrauchen wie sie.
Was soll er nur dieses Mal mit ihr machen?
Vollkommen neben sich realisiert Violene nicht, wie die Versammlung sich Stück für Stück auflöste und sie nur noch mit Kol und ihrem vermeintlichen Onkel zurückbleibt. Wie ER sich in ihr Sichtfeld schiebt und so ihren Blick auf Rikkes Blut auf dem Boden verhindert. Wie die beiden sich über etwas unterhalten, wobei deren Stimmen nur sehr dumpf wie durch viele Schichten Watte zu ihr dringen. Wie seine grobe Hand nach ihrem Kinn packt und sie so zu sich nach vorne auf die Beine hochzieht. Wie sie mit glasigem, fast schon leeren Blick ihm ins Gesicht sieht.
Unregelmäßig stockend atmend, immer wieder unterbrochen von leisem schluchzen, während die Tränen unaufhörlich weiterhin über ihr Gesicht laufen. Nur langsam schafft ihr Gehirn es, die letzten Augenblicke zu verarbeiten und die Gefahr zu realisieren, in welcher sie sich in dem Moment befindet. In der vollen Kontrolle ihres Onkels, ihm und dem ganzen Dorf alleine ausgesetzt. Wehrlos, kraftlos, machtlos.
„Du bist nicht mein Onkel... Oder?", schafft Violene es, mit wispernder Stimme und einer erstickten Stimme über die Lippen zu kriegen. Noch immer das eben Gesehene nicht ganz verarbeitet habend. Dafür brannte ihr diese Frage aber schon viel zu Lange auf der Seele. Zerfraß sie fast jeden Tag und vor allem nachts. Nicht glauben können, nicht glauben wollen, dass er wirklich ihr leiblicher Verwandter sei.
Spöttisch grinsend betrachtet Grodan das Verfluchte Kind, wie ihre Arme kraftlos runter hängen, während sie nur allein durch seinen starken Griff die Möglichkeit hat zu stehen. Er müsste sie einfach nur loslassen und sie würde vor ihm wieder zusammensinken. Zurück auf die Knie fallen. Schwach und wertlos, wie sie es schon immer war. Aber doch ist dies nicht der stärkste Grund, weshalb er so grinst. Nein, dieses wertlose Leben hat anscheinend endlich verstanden, das sie keineswegs miteinander blutsverwandt sind. Aber das hätte ihm noch gefehlt, so eine Schande in seiner Familie haben zu müssen: „Du hast lange für diese Erkenntnis gebraucht."
Für einen Moment glaubt Violene zu halluzinieren als sie aus dem Augenwinkel am Dorfrand einen rot-blau geschuppten Körper wahrnimmt. Kaum aber hatte sie geblinzelt, war dort nichts mehr zu sehen. Nur ein leises, sehr leises aber vertrautes Krächzen lässt ihr Herz für einen Moment höher schlagen und holt sie ins Hier und Jetzt zurück. Lässt ihr die Absurdität und Surrealität ihrer jetzigen Situation bewusst werden.
In diesem Moment hat Grodan mit vielen Reaktionen ihrerseits gerechnet. Weitere Tränen, Entsetzen, Ungläubigkeit, Fragen nach ihren Eltern und der Wahrheit. Aber keineswegs damit, dass sie ihm in die Augen sieht und anfängt, brüchig aufzulachen. Anfangs noch ungläubig, befremdlich, so ähnlich, wie wenn ein Mensch lachen will und plötzlich Husten muss.
Nur das sie ihn geradewegs anstarrt und lacht. Fast schon manisch.
Dieses Kind ist wahrlich verflucht!
„Ich habe ihn getötet...", bringt Violene da plötzlich mit wispernder Stimme hervor, gerade noch so laut, das Grodan und Kol es verstehen können, „Deinen Boten. Ich habe ihn umgebracht!"
Es ist das erste Mal, das Grodan eine direkte Abscheu ihr gegenüber verspürt. Nicht nur aufgrund ihrer Herkunft und Fähigkeiten, sondern zum ersten Mal wegen dem, wie er sie direkt erlebt. So anders, so... befremdlich. Das Kind, das er bis zu ihrer Flucht kannte, hätte niemals freiwillig einen Menschen umgebracht. Aber so wie sie es ihm direkt ins Gesicht sagte und dieses verzerrte Grinsen auf den Lippen dabei hatte... die Gerüchte damals waren wahr:
Sie ist die Verfluchte, welche den Tod und Verderben bringen wird.
Sie beginnt ihre Bestimmung zu erfüllen.
Angewidert von seiner „Nichte" bemerkt Grodan widerwillig, wie ihm bei ihrem Verhalten schlecht wird. Knurrend verstärkt er seinen Griff um ihr Kinn, mehr Druck ausübend, um so wieder die Kontrolle über die Situation zurückzugewinnen. „Du bist ein Monster, so widerwärtig und verflucht, wie es schon deine ganze Sippe war!", wird er plötzlich laut, als er sie mit einem direkten Zug zu Boden schubst.
Überrumpelt und die Augen panisch zusammengekniffen kann die junge Drachenreiterin sich einen Aufschrei nicht verkneifen. Wieder einmal nicht hinterherkommen mit all dem, was hier gerade geschieht. Geschweige denn was und warum sie eben so etwas gesagt hatte. Zögernder und wieder so ängstlich wie früher blinzelt sie vorsichtig, konstant seinem Blick ausweichend. Ihn nicht erwidern wollen. Geschweige denn können.
Zufriedener bemerkt Grodan das, sich mit seinem Handrücken kurzerhand über den Mund wischend. So gehört es sich. Das sie unterwürfig und gebrochen vor ihm auf den Boden liegt. Nicht einmal daran denkend gegen ihn zu rebellieren, geschweige denn solche Frechheiten von sich zu geben, dass sie einen seiner Männer getötet hätte.
Mit schweren Schritten nähert er sich dem wimmernden Mädchen auf dem Boden, während Kol treu ergeben seinem Anführer folgt. Zufrieden grinsend hebt Grodan seinen Fuß und tritt zu, als ein lauter verzerrter Schmerzensschrei über die Insel hallt.
Einige Stunden später
Monotone feste Schritte hallen plötzlich durch den Gang und unterbrechen so die eklige Stille, die sich im Gefängnis niedergelassen hatte. Auch Anni und Amelie lassen sie hochschrecken, welche sich nach einiger Zeit gemeinsam hingesetzt und aneinander angelehnt hatten. Der erste Gedanke war dabei noch sehr hoffnungsvoll, es könnte sich dabei um Violene handeln und das der ganze Spuk endlich ein Ende hätte. Bis die Realisation eintritt, dass die Schritte dafür viel zu gleichmäßig und schwer sind, als das sie von einem jungen Mädchen stammen könnten.
Unsicher sehen die beiden Mädchen sich an, unschlüssig ob sie zum Gitter eilen und gucken sollten oder ob es nicht doch besser ist, lieber unscheinbar an der Wand zu verharren und keine neue Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Denn nach dem, was sie da heute im Dorf erlebt haben, sind sie sehr ungeschoren davongekommen. Die Götter müssen auf ihrer Seite gewesen sein...
Es dauert nicht lange bis die Schritte unnachgiebig lauter werden und sich zuerst ein stämmiger Wikinger in ihr Sichtfeld schiebt - Kol, welcher sie auf dem Marktplatz wiedererkannte - und kurz darauf zwei ebenso gutgewachsene Wikinger, welche eine dritte Person fast schon mit schleifen.
Unwirsch öffnet Kol die Zelle, die ihrer gegenüber liegt und gibt seinen Begleitern ein Handzeichen. Diese lassen es sich nicht nehmen und bugsieren die dritte Person unsanft in die Zelle, sich eint tiefes schadenfreudiges Lachen nicht verkneifend. Zufrieden und siegessicher sieht Kol einmal direkt zu Anni und Amelie, bevor er mit seinen Begleitern ebenso schnell wieder verschwindet, wie sie eben hier ankamen.
Den Atem flach haltend warten Anni und Amelie unwohl ab, bis ihre schweren Schritte sich definitiv wieder von ihnen entfernt haben und sie wieder unter sich sind. Nur um dann zwischen Sorge und einer unguten Vorahnung hin und hergerissen aufzuspringen und zum Gitter ihrer Zelle zu eilen.
Mit dem Anblick hätten sie niemals gerechnet.
Und vielleicht wollten sie das auch gar nicht.
Ein mattes kraftloses Lächeln huscht über ihre Lippen, als sie Anni und Amelie in der gegenüberliegenden Zelle entdeckt und wiedererkennt. Nicht versuchend die Spuren der Tränen, geschweige denn den Dreck aus ihrem Gesicht zu wischen oder zu verdecken. Ihr linkes Bein in einer seltsamen Position behaltend, während sie das rechte angewinkelt hat, um so wenigstens etwas Stabilität zu haben. „Ich wollte nicht... das ihr... hier landet... und... das sehen müsst...", murmelt sie dabei mit angeschlagener Stimme, den Blick halb abwesend doch wieder schweifen lassend.
Nicht ganz sagen können, was die beiden mehr an Violenes plötzlichem Aussehen oder veränderten kraftloseren Verhalten und Auftreten schockiert, brauchen beide einige Momente um sich zu sammeln.
„... du blutest im Gesicht", liegt es dann an Anni, ihre Stimme zuerst wiederzufinden und das Offensichtliche besorgt anzusprechen. Die Platzwunde an Violenes Stirn musternd.
„Was... ist da draußen passiert, Vio? Wo sind wir hier...?", schafft Amelie es, dann auch etwas zu sagen, wobei auch bei ihr die Besorgnis nicht zu überhören ist.
„Ich hatte nicht damit gerechnet, das ihr uns finden würdet... es war doch meine Sache. Das hier musste ich alleine klären. Ich wollte gar nicht, dass ihr das seht... das ihr... das alles erfahrt...", redet Violene weiter, nicht wirklich auf das Gesagte der beiden Mädchen eingehend. Den Blick weiterhin halb abwesend auf einen unbestimmten Punkt fixiert, die Stimme zwischen mal leiser und mal lauter schwankend.
Worauf Anni und Amelie sich besorgt ansehen. Was auch immer da draußen noch geschah, es könnte sehr wahrscheinlich gesundheitliche Folgen mit sich bringen. Und wenn ihnen hier unten die Hände gebunden sind und eine medizinische Versorgung nicht möglich ist, bleibt ihnen wohl nur noch zu hoffen. Hoffen, das sie es schnell genug hier raus schaffen. Lebend.
„Es tut mir leid... ich bin ein bisschen müde...", schafft Violene es, dann mit einem matten Grinsen wieder zu ihren Freundinnen zu sehen, „Wir sind... auf der Tiefseespalterinsel... mein Onkel... dieser Mann... ist ... oder nannte... sich mein Onkel. Aber... wir sind nicht... blutsverwandt... Er hat gelogen. All die Jahre. Er ist böse..."
Wieder wechseln Anni und Amelie ein paar Blicke miteinander. Dass sie nicht wirklich mit diesem Mann verwandt ist, hatten sie unterbewusst schon ein bisschen gehofft. Und das mit diesem Typen alles andere als zu spaßen ist, war ihnen auch schon bei seinem ersten Auftritt direkt klar. Nur der Name Tiefseespalter sagt ihnen nichts. Ob dieser Name mit diesem unheimlichen Sog zusammenhängen könnte, welcher sie zur Notlandung auf die Insel zwang?
Viele Fragen brennen den beiden jungen Reiterinnen auf der Seele, doch als sie den Blick heben und wieder zu Violene sehen hat diese die Augen geschlossen und scheint ruhig ein und auszuatmen. Die Müdigkeit hat die braunhaarige Reiterin nun endgültig eingeholt und fest im Griff. Noch nicht ganz sicher, wie schlau es wäre selbst auch die Augen für ein paar Stunden Schlaf zu schließen, machen Anni und Amelie es sich selbst wieder an der kalten Felswand gemütlich und setzen sich hin. Auch nicht lange brauchend, bis der Schlaf sie einholt.
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