Ersehnte Worte

Ton an

Kamera läuft



Einige Menschen rennen durch das ausgeschmückte Zimmer, treten und fallen beinahe über die endlosen Kabel und sehen sich hektisch an.

Einer schreit: „Sind wir auf Sendung?"



Ein anderer tritt vor mich und sieht mich aufgeregt an.

„Drei, Zwei, Eins"


Das Klicken der Filmklappe schallt durch den Raum.

„Action!"


Plötzlich wird alles still, die nervösen Menschen scheinen verschwunden, ein Licht flackert über einer Tür „On Air" und die Scheinwerfer bestrahlen das Gesicht des Moderators und das meine.


„Herr Lavoisier, schön dass Sie es geschafft haben", sagt der Sprecher im schwarzen Anzug und dem weißen Hemd.


„Die Freude liegt ganz meinerseits", antworte ich und schenke ihm ein Lächeln, ehe ich meine Beine überschlage.


„Meine lieben Zuschauer, mein Name ist John Smith und ich bin heute ihr Gastgeber!" Der Moderator setzt sich und wartet, als würden die Leute im Fernsehen klatschen. Unverändert lächelt er weiter, während ich nur meinen Kopf verdrehe.

„Vor mir befindet sich der ehrenwerte Autor Julien Lavoisier, der heute vor genau sechs Jahren zu uns emigrierte." 


Es ist Sonntag, der zweiundzwanzigste Oktober des Jahres 1944. Das Wetter ist noch ungewöhnlich warm und ich befinde mich in einem schicken Tonstudio irgendwo in Los Angeles. In einem Tonstudio mit schickem Mann im schicken Anzug, während meine alte Heimat immer hässlicher wird.


„Lange haben wir, wohl mich bedacht auch, gewartet um endlich mit Ihnen ein Gespräch zu führen", während der Moderator die vereinzelten Sätze spricht, denke ich daran, wie oft ich eine Einladung - schon vor Jahren - erhalten hatte. Ich falte meine Hände.


„Uns erreichten einige Fragen zu Ihnen, Sie halten sich ja recht zurück, wie wir mitbekommen haben." Der freundliche Mister Smith spielt mit seinen Karteikarten, während mir ein Techniker ein Glas Wasser reicht.

„Ja", entgegne ich kurz, „Ich finde, man sollte irgendwo einen gewissen Spalt zwischen Privatleben und Beruflichem einhalten." Ich setze ein Lächeln auf.


„Das stimmt wohl!", Mister Smith lacht. „Mister Lavoisier, sie machen ein ziemliches ‚Trara' um ihr Geburtsdatum. Nicht einmal uns wollten Sie es verraten, bis wir es in Ihrem Buch gelesen haben. Aber wie wir gehört haben, haben Sie einen ganz bestimmten Grund, niemanden Ihren Ehrentag zu nennen."


„Ach - verheimlichen tue ich gar nichts. Man kann das Datum ja lesen, nur ich bin nicht erpicht darauf, dass mir Leute gratulieren, die es nicht ernst meinen. Ich kann genauso sagen ‚Entschuldigung', wenn ich etwas nicht gemacht habe. Zudem mir die Sorge vor einer explosiven Überraschungsfeier, mit meinen folglich falschen Emotionen, den Tag verderben."

„Haha - ja." Das Lächeln von Mister Smith verschwindet und er zieht seine Oberlippe hoch, als hätte er etwas anderes erwartet. Er rückt sich einmal die Krawatte zu recht und schluckt, er sieht in die Kamera.


„Mister Lavoisier, wir sollten etwas ernster werden", sagt der Moderator im harten Ton, als würde er mich zurecht tadeln und sieht mich folglich an.


„Als sie am zweiundzwanzigsten Oktober 1938 zu uns in die USA emigrierten, was ging Ihnen da durch den Kopf? Was hat sie dazu motiviert?" Lechzend nach einer falschen Antwort rückt Mister Smith etwas zu mir heran. 


„Versuchen Sie es gar nicht erst, Mister Smith. Sie haben mich hier eingeladen und ich werde Ihnen die Antworten geben, die ich für richtig halte. Denn, auch wenn Sie es nicht glauben; Ich spiele mit meinen Worten, wie die Gesellschaft mit ihren Marionetten. Merken Sie sich das." Die Person gegenüber von mir rückt etwas zurück und hebt die linke Augenbraue. 


„Ich bin erst aus Deutschland, Dresden, geflohen und später dann aus Frankreich. Deutschland hat sich sehr verändert. Ich hatte damals einen kleinen Laden in der Comeniusstraße und besaß eben eine zweite Stütze durch mein Erfolg als Autor. Als dann Hitler an die Macht kam, dreiunddreißig, da dachte ich und meine Mitmenschen, das würde bald wieder von alleine weggehen. Das - das waren Dinge, die dieser Mann sagte, die waren nicht möglich. Ich meine, in Russland einmarschieren, Juden verschleppen. Das war einfach unvorstellbar. Und ich glaube - ja - darin lag der Fehler; der Fehler lag darin, dass wir dachten, dass sich das von alleine regelt. Das war unser Fehler." Ich nicke vielsagend und sehe auf den Boden, ehe ich mit meinen Blick wieder zum Moderator schweife. Meine Gedanken sind bei den vielen Menschen, die gerade auf der anderen Seite der Welt sterben.


Mister Smith lächelt. „Herr Lavoisier, dass sind wahre Worte. Ich widerspreche Ihnen nicht und kann Ihnen nur zustimmen", er wirkt etwas verunsichert.


„Aber bitte beantworten Sie mir eine Frage", beginnt er nach einer Weile, „Warum wissen Sie, dass es falsch ist, was der deutsche Diktator gerade treibt? Ich meine, warum ist es denn richtig, was wir tun? Vielleicht sind wir auch böse." Der Moderator schluckte etwas und zum ersten Mal sah ich in seinem Gesicht Interesse. Wahre Interesse.


„Wissen Sie Mister Smith, das ist die erste Frage die Ihnen gelungen ist", sage ich als kleinen Einstieg. „Aber ja, es ist eine sehr gute Frage. Über ‚Gut' und ‚Böse' zu urteilen, dass kann ich nicht, dass kann niemand uns sollte - meiner Meinung nach - auch niemand dürfen. Ich bin jedoch zur Überzeugung gekommen, dass es immer falsch ist, wenn man gegen Menschen hetzt. - Und ja, ich glaube, dass es irgendwo da draußen, vielleicht sogar in Deutschland selbst, Menschen zu sich sagen oder sagen werden, dass es auch gute Sachen von Hitler gibt und später gab. Nur nebenbei; ich glaube stets an den Untergang einer rassistischen und menschenverachtenden Diktatur. Aber komme ich zurück zum Punkt. Mein guter Freund Theodor Adorno hat mir letztens Teile seines Manuskript von Minima Moralia gesendet. Er spricht in einem Absatz davon, dass im Falschen nichts Richtiges existieren kann. Und ja - damit hat er vollkommen recht."



„Also ist Hitler trotz seiner Autobahnen und Verbesserungen im Sozialem schlichtweg schlecht?"


„Nur weil ein Fakt nicht zwingend für eine Tatsache ist, heißt es nicht, dass die Tatsache nicht existiert. Wir sollten aufhören immer alles abzuwägen zwischen gut und böse, wir sollten aufhören alles zu relativieren. Kurz gefasst; ja", sage ich eindringlich.


„Danke für diese guten Worte Mister Lavoisier. Vielen Dank!", sagt der Moderator anschließend.

„Zeit kommt und Zeit geht, Mister Smith. Glauben Sie mir. Die Zeit nimmt und die Zeit gibt. Sie gibt Wissen und nimmt die Unsicherheit, sie bringt uns voran und stellt uns vor unsere Vergangenheit. Denken Sie nur daran, was wir alles durchlebt haben. Sie und ich, denken Sie daran, was wir überstanden haben, wenn Hitler endlich verschwunden ist und ihm der Prozess gemacht wird. Glauben Sie mir, die größten Übel der Zeit werden vorbei gehen. Und vertrauen Sie mir, stellen Sie sich vor, was wir alles gelernt haben. Welches Wissen wir erreicht haben." Die Worte kommen aus meinem Mund und ich kann Sie nur schwer zügeln. Während ich die Worte sprach, zentrierte sich die Kamera auf mein eindringliches Gesicht.


„Und wie, Mister Lavoisier, - wie können Sie die deutsche Bevölkerung rechtfertigen? Wie können Sie es akzeptieren, als gebürtiger Deutscher, dass Hitler gewählt wurde? Dass der Rassismus über die Nächstenliebe gesiegt hat?" Die Stimme meines Gegenübers füllt sich mit Sorge, mit einem leichten Vorwurf und mit Gier nach Antworten.

„Das ist wieder eine sehr verzwickte Frage. Ich sehe mich eigentlich nicht im Stande über eine Bevölkerung zu reden, zu der ich nicht mehr dazugehöre. Ja, genau.", ich muss kurz überlegen, „Ich bin kein Deutscher mehr und das werde ich auch nicht mehr sein. Es klingt wirklich ein wenig überlegen und urteilend, aber diese Freiheit nehme ich mir. Ich weiß aus welchem Grund ich es tue, nicht weil ich besser bin oder auf alle mit dem Finger zeigen möchte."


„Ich denke Mister Smith, dass die Menschen eher dazu neigen, auf das Böse anstatt auf das Gute zu hören. Ich zähle mich selbstverständlich auch dazu. Und wissen Sie was, das ist unsere wahre Todsünde. Das Böse ernährt sich von Unwahrheiten, Lügen und vom, ja, vom Vertrauen. Mit dem Vertrauen ist die Liebe verbunden, dem Guten. Also hören Sie: Das Böse ernährt sich vom Guten, weil das Gute nicht diese einfachen Mittel hat. Das Gute braucht die Wahrheit und bringt Vertrauen. Vertrauen muss man sich erarbeiten und wird vom Bösen missbraucht. Aber wie ich Ihnen bereits erklärte, ich vermag nicht über Gut und Böse zu urteilen." Ich setze ein ehrliches Lächeln auf und blicke aus dem Fenster. Ich überschlage die Beine.


„Ich glaube, das war erstmal genug Politik für heute, vielen Dank erneut Mister Lavoisier, Sie haben uns sicher geholfen." Der Moderator blickt in die Kamera, nimmt die nächste Karteikarte und nippt an seinem Glas. Seine Augen treffen mein Gesicht und ich verschränke meine Finger.


„Mister Lavoisier, Sie haben als Autor ja bereits einige Bücher veröffentlicht. Besonders in ihrem letzten sprechen Sie von Ihrer puren Banalität zur grenzenlosen Freiheit und Andersartigkeit. Sie stützen sich unteranderem auf Robert Blum. Aber wie können Sie es ertragen, dass Sie dann doch einige Rechtschreibfehler haben?" Mein Gegenüber verdreht wieder den Kopf und wartet nur auf meine Antworten. Schade eigentlich, ich hatte eben noch Gefallen gefunden.



„Wissen Sie, wie soll man von der Freiheit des Individuums und der Andersartigkeit sprechen, wenn man sich nicht traut selbst anders zu sein? Fehler passieren, Fehler machen uns doch erst menschlich, richtig? Und vor allem, ist die Andersartigkeit denn überhaupt ein Fehler? Eine Revolution startet im Kopf Mister Smith." Ich ziehe meinen Mund ein Stück zur Seite und bin mir sicher; ich wirke ein wenig arrogant.

„Denken Sie denn, dass Sie so überhaupt berühmt und geachtet werden?" Der Moderator wirkt eher wie eine Schlange, als wie ein Mensch. Seine Augen lechzen wieder nach falschen Antworten und erhoffen sich eine Unwissenheit meiner geschriebenen Worte.


„Mister Smith, ich glaube Sie haben meine Bücher leider nicht verstanden. Es geht mir nicht darum, dass ich von Ihnen und allen mit Lobgesängen überschüttet werde. Es geht mir auch nicht darum, die ganzen Preise zu erhalten. Der einzige Sinn meiner Bücher jedoch besteht darin, dass meine Mitmenschen die Welt verstehen, ergänzen und erkennen sollen. Dazu benötigt es nicht die exakte, simple Schreibung."

„Vielen Dank für die eindringlichen Worte Mister Lavoisier, Sie haben uns alle zum Nachdenken gebracht. Unsere Zeit ist jetzt aber leider vorbei."



Mister Smith steht auf, gibt mir die Hand, ich bleibe sitzen, er dreht sich und lächelt zufrieden in die Kamera.


Der Ton wird ausgeschaltet, die Kamera zeigt kein Bild mehr. Das Licht verdunkelt und die Kulisse hinter mir zerfällt.


-


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