Kapitel 6 -Freiheit in Gefangenschaft


Farah traute ihren Augen nicht. Sie hielt tatsächlich einen Pfeil von Erren, dem Räuber, in den Hufen. In den vergangenen Tagen hatte sie gemischte Gefühle zu dem Helden ihrer Kindheit entwickelt. Mittlerweile konnte sie gar nicht mehr verstehen, wie sie jemals denken konnte, dass Räuber auch nur in geringster Weise ehrenhaft sein konnten.

Robin Hood war ein ehrenhafter Räuber gewesen, doch der existierte nur in ihren Büchern. Und höchstwahrscheinlich hatte der Autor bei den Formulierungen der Geschichte vieles geschönt, um seine Hauptfigur besser dastehen zu lassen.

Morden war niemals ehrenhaft. Und wer das glaubte, der war schlichtweg ein Narr!

Farah packte ihr Buch in ihre Reisetasche und band sich ihren Dolch mit einem Fetzen des Kleides, das sie heute noch getragen hatte, um das Vorderbein. So, das hatte sie in dem Buch gelesen, tat es Erren immer, damit er eine schnell greifbare Waffe hatte, wenn alle anderen Möglichkeiten versagten. Dann öffnete sie das Fenster zu ihrem Zimmer und rammte den Pfeil von Erren zwischen die Mauersteine ihrer Zimmerwand, die direkt gegenüber dem Fenster lag. Dann sprang sie schreiend zur Tür und hoffte, dass ihr Plan aufging.

»Sir Leon! Helfen Sie mir!«

Sir Leon stürzte mit weit aufgerissenen Augen in ihr Gemach. Sofort bemerkte er das geöffnete Fenster und den Pfeil, der in der Wand steckte.

»Man hat versucht, mich zu erschießen!«, klagte Farah mit Tränen in den Augen und presste sich zitternd an die Schulter ihres Leibwächters. Sir Leon zog den Pfeil aus der Wand, legte ihn vor sich und entdeckte die Initialen, die in das Holz geritzt waren. Sofort riss er alarmiert den Kopf in die Höhe und eilte zum Fenster. Er streckte den Kopf hinaus und suchte den Waldrand hinter der Burgmauer nach einer Gestalt ab, doch da war nichts.

»Mylady, ich werde sofort Verstärkung anfordern!«, schnaubte Sir Leon ernst. »Solange werdet ihr Fenster und Türen verschlossen halten und Euch im hinteren Bereich Eures Zimmers aufhalten. Ich verspreche Euch, dass das nicht wieder vorkommen wird!«

Farah nickte zitternd und beobachtete, wie Sir Leon ihr Gemach verließ. Er schloss die Tür nicht ab. Farah hätte am liebsten Luftsprünge gemacht, wenn das nicht alle Pferde in den umgebenden Räumen auf sie aufmerksam gemacht hätte.

Flink schwang sie sich ihre Tasche um die Schultern und steckte den Pfeil hinein, den Sir Leon zurückgelassen hatte. Dann warf sie sich ihren dunkelgrünen Mantel über und stahl sich hinaus in die Hallen der Alvarrsburg.

Auf leisen Hufen eilte sie hinaus in den Burgvorhof und von dort aus in den Garten. Wo konnte es hier nur einen geheimen Weg hinaus geben?

Farah bewegte sich in den Schatten und suchte die Mauer nach Lücken ab. Die Sonne war beinahe völlig verschwunden. Wenn sie nicht bald fündig wurde, dann würde sie nur absolute Dunkelheit umgeben und sie konnte sich eine Ausrede einfallen lassen, warum sie die Anweisungen ihres Vaters und die ihrer Leibwache missachtet hatte. Soweit durfte es nicht kommen!

Als sie zu der Stelle kam, an der sie den Pfeil in der Turmmauer entdeckt hatte, knackste etwas unter ihren Hufen. Sie war auf einen Ast getreten.

»Wacholderzweige«, murmelte Farah verwundert. »Die gibt es im königlichen Garten nicht.«

Plötzlich fiel Farah eine Spur von Blättern und Zweigen auf, die sie zum Eingang des Burgkellers führte.

»Die Katakomben! Warum bin ich nicht gleich darauf gekommen!«, lachte die junge Stute leise und schlich sich die Stufen in den Keller hinunter. Sie nahm sich eine Fackel aus einer Halterung und entzündete sie an einem Feuerkessel an der Wand.

Immer tiefer führte die Laubspur sie in die verzweigten unterirdischen Gänge der Burg hinein. Farah klopfte das Herz bis zum Hals. Sie würde es tatsächlich schaffen. Sie würde entkommen und sie würde nach Hause zurück kehren. Zurück zu ihrer lieben Mutter und zu ihrer kleinen Schwester, die sie mit Sicherheit schon sehr vermisste.

Doch auf einmal endete die Spur. Vor Farah lagen drei Tunnelöffnungen, die in verschiedene Himmelsrichtungen führten und plötzlich verließ sie der Mut.

Wie hatte sie nur glauben können, dass Erren so dumm war und eine Spur aus Laub hinterließ? Es sei denn...

Farah leuchtete in einen der Tunneleingänge hinein und sah, dass die Blätter nicht mehr dort lagen, wo Erren sie verloren haben musste. Vielmehr sah es danach aus, als hätte jemand versucht, seine Spuren mit einem Besen oder einem Ast zu verwischen, damit niemand ihm folgen konnte.

Doch warum hatte Erren die Spur nur bis hierher verwischt? Konnte es sein...? Weiter kam Farah in ihren Gedanken nicht, da sprang sie eine Gestalt aus dem Gang zu ihrer Linken an.

Vor Schreck ließ sie die Fackel fallen und riss zitternd den Dolch aus ihrer improvisierten Beinhalterung.

Im flackernden Schein der erlöschenden Fackel erblickte sie einen fürchterlich entstellten, goldenen Hengst, der das Ende eines Seils zwischen den Zähnen hielt.

»Dummes Ding!«, schnaubte der Hengst mit einer tiefen, kratzigen Stimme. Er mochte etwa fünf Jahre älter als Farah selbst sein, doch er wirkte wie ein altes Pferd, das alle Seiten des Lebens bereits kennen gelernt hatte.

»Erren«, schnaufte Farah mit weit aufgerissenen Augen. Bei der Erwähnung seines Namens blitzte ein Funke in den Augen des Hengstes auf. War es Stolz? War es Hochmut? Für Farah war der Fremde genauso wenig zu durchschauen, wie die hinterlistigen Pläne ihres Vaters.

Mit einer hastigen Bewegung stampfte Erren die Fackel aus, woraufhin Farah völlig die Orientierung verlor. Ohne etwas zu sehen, stach sie mit ihrem Dolch zu. Plötzlich schlug ihr jemand die Waffe weg, schnürte ihr das Maul zu und band ihren Hals mit einem Seil ab. Völlig blind und daran gehindert, sich zu wehren oder um Hilfe zu rufen, wurde sie von dem Seil in eine Richtung gezerrt, die sie nicht deuten konnte. Farah wehrte sich, doch sie hatte keine Chance. Das Seil lag zu fest um ihren Hals und schnürte sich nur noch enger zusammen, sobald sie sich gegen den festen Zug wehrte.

Frische Luft strich ihr um die Nase, als sie das Ende der Katakomben erreichten. Doch die Nacht war so schwarz, dass sie selbst hier draußen nur schemenhafte Umrisse der Bäume und umliegenden Felsbrocken erkennen konnte.

Erren führte sie eine weite Strecke in den Wald hinein und Farah meinte mehrere Male, dass sie mehrfach im Kreis gelaufen waren, bevor sie an einer düsteren Höhle ankamen.

Sie hatte keinen blassen Schimmer, welche Himmelsrichtung sie zurück nach Keldor führen würde, falls ihr eine Flucht gelang. Sie war diesem Mörder von nun an also schutzlos ausgeliefert.

Erren stieß sie in eine Ecke seiner Höhle, die als einzige relativ trocken war. Sie war mit weichem Heidekraut ausgepolstert.

Er nahm ihr den Knebel ab und schnürte ihr jeweils die beiden Vorder- und die beiden Hinterbeine zusammen. Farah trat nach ihm, doch er wich ihren Hufen geschickt aus und schien gar keine Notiz von ihren trotzigen Wehrversuchen zu nehmen.

»Lass uns einiges klar stellen!«, knurrte er, während er die Seile verknotete. »Wenn du etwas erledigen musst, dann tu das gefälligst vor der Höhle! Deine Fesseln sind locker genug, dass du im versammelten Schritt gehen kannst.«

Farah blickte ihm verwundert in die Augen.

»Oh nein, ich weiß, was du jetzt denkst!«, schnaubte Erren genervt, »Ich finde dich sowieso, wenn du einen Fluchtversuch unternimmst. Und wenn du es wagst, um Hilfe zu rufen, dann werde ich mich nicht zieren, dir ein Bein abzuhacken oder dir die Zunge heraus zu schneiden! Solange Eirik dich nur lebendig zurück bekommt, kann er sich schon glücklich schätzen. Also hüte dich davor, mir auf den Nerv zu gehen!«

Farah nickte stumm und beobachtete, wie Erren zum Höhleneingang stapfte und ein Feuer entzündete. Heiße Tränen kullerten ihr die Wangen herab, als sie sich auf ihrem Bett aus Waldkräutern niederließ. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, den Spuren eines Räubers zu folgen?

Erren kam nach einer Weile zu ihr und stellte ihr einen Teller mit warmer Kräutersuppe vor die Nase.

»Iss das und lege dich dann schlafen! Es liegen ein paar sehr aufregende Tage vor dir.«

Schweigend begann Farah die Suppe zu schlürfen. Sie schmeckte gut, doch ihre Kehle war vor Furcht so trocken, dass sie schon nach wenigen Schlucken satt war.

Missmutig schob sie den Teller von sich und warf einen letzten Blick auf den Räuber, der am Feuer saß und seine Initialen in Pfeile schnitzte, bevor sie ihre Augen schloss und erschöpft in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel.

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