Kapitel 2 - Dunkle Geschichten

»Mylady, ich weiß, dass Euch der Gedanke belastet, einen Fremden zu heiraten«, schnaubte Grindor, der alte, schneeweiße Hengst sorgenvoll, als er die Träne in Farahs Gesicht bemerkte. »Aber wenn es der Wille Eures Vaters ist-«

»Meinen Vater kümmert es nicht, was ich will! Alles, was ihn interessiert ist sein Geld und wie er es am besten vermehren kann! Ich will niemals so werden wie er! Meine Töchter sollen heiraten, wen sie wollen!«

Grindor strich Farah sanft eine fuchsfarbene Strähne von der Stirn und lächelte sie wissend an.

»Auch Euer Vater wurde gegen seinen Willen mit Eurer Mutter verheiratet. Ich weiß es, als wäre es gestern gewesen. Zu damaliger Zeit hatte ich noch die Aufgabe, Eurer Mutter das Wissen der Welt näher zu bringen. Und seht Euch an, wie glücklich sie nun ist. Sie hat drei wundervolle Töchter, eine schöner als die andere, die zu wundervollen Königinnen heranwachsen werden.«

Grindor gab sich große Mühe, Farah ein Lächeln zu entlocken, doch sie fühlte sich hundeelend, warf sich auf das Bett ihres Gemaches und weinte ihren Schmerz in ihr Kissen hinein.

»Mylady, wenn ich nur irgendetwas tun kann, um Euch selig zu stimmen, dann sagt es mir! Ich kann Euch doch nicht weinen sehen!«

Farah drehte ihren Kopf und schniefte mit roten Augen.

»Ihr wisst doch, was mich auf andere Gedanken bringt!«, schnaubte sie trotzig und wischte sich eine weitere Träne aus ihrem Gesicht.

»Aber Mylady!«, brummte Grindor entrüstet, »Ich kann Euch doch nicht bis ins hohe Alter mit Räubergeschichten bei Laune halten!«

Farah legte die Ohren an und warf sich voller Trotz zurück auf ihr Bett, woraufhin ihr Lehrer sich missmutig an ihre Bettkante gesellte und ein neues Geschichtsbuch aus seiner Tasche holte, das die junge Stute noch nie zuvor gesehen hatte.

Es war ganz in lindgrünes Leder eingebunden - Das war die Farbe ihres Königshauses - und es hatte zierliche, goldene Beschläge. Farahs Trauer war mit einem Mal wie weggeblasen.

»Es sollte eigentlich ein Geschenk zu Eurer Hochzeit sein, aber ich kann es Euch in solch einem Moment nicht unterschlagen«

»Was ist das?«, hauchte Farah mit neugierig gespitzten Ohren. Ihre Nase schien immer länger zu werden, als sie das Buch anstarrte.

»Bisher habe ich Euch nur den Teil von Errens Geschichte erzählt, der mit unserem Königreich verwebt war, doch in diesem Buch sind alle Begegnungen und Funde von Errens ›Hinterlassenschaften‹ niedergeschrieben. Einige der Dinge in diesem Buch sind eigentlich nicht für so junge Stuten wie Euch bestimmt, aber ich traue Euch zu, dass Ihr sie verkraften könnt. Schließlich war es schon immer Euer Wunsch, wie eine echte Räubertochter zu sein.«

Vor Glück vergaß Farah, ihre Haltung zu bewahren. Mit einem überglücklichen Freudenschrei fiel sie ihrem Lehrer um den Hals.

»Ich danke dir, Grindor! Ich danke dir so sehr.«

»Alles für meine kleine Räuberin. Aber jetzt geh fein schlafen. Es erwarten dich große Veränderungen, mein Kind.«

Farah schenkte ihrem alten Lehrer einen liebevollen Kuss auf die Wange, bevor sie sich eine Decke überwarf und sich Schlafen legte. Doch plötzlich schwoll in den königlichen Hallen ein gewaltiges Geschrei an.

Es wurde lauter und mit einem lauten Knall wurde die Tür zu ihrem Gemach aufgerissen. Zwei von Eiriks Wachen stürmten in den Raum. Sie trugen Kampfrüstungen und waren bis auf die Zähne bewaffnet.

»Was zum Henker ist hier los?!«, schnaubte Grindor aufgeregt, als die Wachen sich hektisch im Zimmer umsahen. Als einer der Wächter Farah erblickte, atmete er erleichtert auf.

»Mylady, entschuldigt uns bitte vielmals für die Störung! Ihr solltet Euer Schlafgemach heute Nacht besser nicht verlassen. Anordnung des Königs!«

Farah wusste nicht so recht, wie ihr geschah. Die Wachen sahen verängstigt aus. Aber was konnte ein ganzes Königshaus in solch einen Aufruhr versetzen?

»Erlauben Sie mir die Frage, was geschehen ist?«, erhob Grindor das Wort, als er auf die Tür zuschritt.

»Es wurden Bewegungen im direkten Umfeld der Burgmauern gesichtet, Sir«, antwortete eine der Wachen, ein hell gescheckter Hengst namens Sir Burnaby. »Wir können noch nicht genau sagen, ob sie von Tieren oder von Eindringlingen stammen, deshalb hat der König strenge Kammersperre ausgerufen, bis das Problem behoben ist.«

Ganz plötzlich hatte Sir Burnaby Farahs vollste Aufmerksamkeit. Ein Fremder in der Nähe Burg? Das war aufregend und beängstigend zugleich. Am liebsten wäre sie sofort auf den höchsten Turm der Burg geeilt, um selbst nach dem Eindringling Ausschau zu halten.

Doch die Wachen nahmen Grindor in ihre Mitte, als sie gingen, und verschlossen die Türen hinter sich. Farah hörte, wie die andere Wache vor ihrer Tür ihren Posten einnahm und den Eingang zu ihrem Gemach bewachte. Sie würde ihr Zimmer also wirklich nicht verlassen können. Aber das machte ihr nichts aus. Sie hatte schließlich ein nagelneues Geschichtsbuch, das es zu erkunden gab.

Mit klopfendem Herzen schlug sie die ersten Seiten der Lektüre auf, die Grindor ihr geschenkt hatte. Die leicht gelblichen Seiten rochen nach eingetrockneter Tinte und unendlichen Abenteuern.

Doch schon als Farah die nächsten Seiten aufschlug, wandelte sich ihr Erstaunen in Entsetzen. Über all die Jahre hatte sie Erren, den Räuberkönig für einen Verfechter des Guten gehalten, der sich von Eiriks Schreckensherrschaft nichts vormachen ließ, doch die Illustrationen seiner Tatorte erschütterten sie bis ins tiefste Mark.

Fohlen und werdende Mütter, enthauptet, erstochen, zerfetzt. Hinterhältig mit einem Pfeil direkt in die Augen geschossen. Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter, als sie bemerkte, wie nah alle der Aufzeichnungen beieinander lagen.

»›24.04.1572, Fohlenmord in Errendale, eine Gruppe junger Fohlen wird mit durchtrennten Kehlen im Wald zu Errendale aufgefunden. Sechs an der Zahl. Sie alle sind Knappen des Hauses Van Alvarr, die zusammen mit ihren Vorgesetzten auf einem Erkundungszug zu den Grenzen ihres Reiches waren. Die Ritter werden wegen Missachtung ihrer Aufsichtspflicht für eine Woche an den Pranger gestellt. Ein Zusammenhang mit Erren, dem Räuber ist nicht sicher nachweisbar.

10.04.1578, Massenmord an der Schippenmühle. Eine angesehene Botschafterin des Hauses van Alvarr, Alwenn von Ravensteyn, wird bei Nacht auf dem Weg zum benachbarten Königreich Windmore brutal niedergeschlagen. Die Fackel, die sie bei sich trägt entzündet Stroh und Heu und das Feuer breitet sich schnell auf die nahegelegene Mühle zwischen den Dörfern Kilgrim und Carraigeer aus. Den Betreibern der Mühle gelingt die Flucht, doch ihre Fohlen erliegen wenig später an den Folgen einer Rauchvergiftung. In den Überresten der Flammen wird zum ersten Mal eine gusseiserne Pfeilspitze mit den Initialen RN gefunden.

14.04.1578, Hinterhalt auf Gefangenentransport. Die zur Todesstrafe verurteilten Schwerverbrecher Odmar und Regnir werden auf dem Weg zur Vollstreckung ihres Urteils befreit. Alle Leibgardisten, die unter Auftrag standen, den Transport zu überwachen, werden durch einen einzelnen Kopfschuss getötet. Geld, Waffen und Proviant sind nicht mehr vorzufinden. Dem Zugpferd gelingt mitsamt der Kutsche die Flucht. Alle Pfeile tragen die Initialen RN.‹«

Farah hatte genug gelesen. Diese Geschichten und die dazugehörigen Detailzeichnungen würden sie in dieser Nacht sicherlich in ihren Träumen heimsuchen.

Mit zitterndem Atem löschte sie die Kerze neben ihrem Bett und schloss die Augen. Kurze Zeit später jedoch, meinte sie am Fenster ein Rascheln zu hören.

Sie schlug die Augen auf und erblickte ein völlig vernarbtes Gesicht, das in ihr Gemach blickte. Ein schriller Schrei entfuhr ihr, woraufhin die Wache vor ihrem Gemach sofort hereingestürmt kam.

»Mylady!«

»Da draußen, am Fenster! Ich habe eine Gestalt gesehen!«, wieherte Farah schrill. Doch dort, vor dem Fenster, war niemand. Der Ritter atmete tief durch und lächelte Farah nur amüsiert an.

»Mylady, Ihr habt sicher nur schlecht geträumt. Kein Wunder bei Eurer Lektüre«, er nickte zu dem lindgrünen Buch, das aufgeschlagen auf Farahs Nachttisch lag. Doch sie wusste genau, was sie gesehen hatte.

»Wie soll ein Pferd es schaffen, die Burgmauern zu erklimmen? Wir haben Hufe, keine Krallen.«

Die Wache machte mit einem freundlichen Schnauben kehrt und trottete zu ihrem Posten zurück. Farah stand noch eine Weile am Fenster und blickte hinaus in die Dunkelheit. Und als sie selbst schon beinahe an ihrem Verstand zu zweifeln begann, da entdeckte sie die schimmernde Gestalt eines goldenen Pferdes, das auf der anderen Seite der Burgmauern im Wald stand und ihr direkt in die Augen blickte, bevor es zurück in den Wald galoppierte.

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