Kapitel 2 - Scabor
Erren hatte Faenja nicht davon abhalten können, am nächsten Morgen nach dem Bau der Wölfe zu suchen. Nachdem sie erwacht waren, hatten sie ihr Lager abgebrochen und all ihr Hab und Gut zusammengesucht, damit sie für die Weiterreise gerüstet waren.
Insgeheim bereute Erren es, dass er der klugen Stute das Fährtenlesen beigebracht hatte. So schnell wie sie Neues dazu lernte, hatte es keinen Sinn sie auf eine falsche Spur zu führen, damit sie den Nachwuchs der toten Wölfin niemals fand und ihn hoffentlich schnell wieder vergessen würde.
Bald schon hatte Faenja die Spuren der Wölfe bis zu einer Lichtung zurückverfolgt, die an einen steilen Hügel angrenzte. Ein kleiner Bach durchkreuzte die Lichtung und überall waren Spuren von Pfoten, Reste von Kadavern und auch von Pferden. Von ungewöhnlich vielen Pferden.
Erren legte angespannt die Ohren an, als er sich umblickte. Das war eindeutig nicht normal. Pferde passten eigentlich nicht ins Beuteschema von Wölfen, solange sie mit Fackeln und Waffen unterwegs waren. Meistens hatten die Tiere dann mehr Respekt vor den Pferden, als andersherum.
Doch so ausgehungert, wie dieses Rudel gewirkt hatte, so scharf, wie diese Tiere auf Pferdefleisch gewesen und dabei nicht einmal vor dem Verzehr ihrer eigenen Rudelgenossen zurückgeschreckt waren, musste hier irgendetwas faul sein. Erren spürte es in seinen Knochen. Er hatte nach all den Jahren unter Räubern ein Gespür dafür bekommen, wenn etwas Böses im Busch war. Und die Anzeichen wiesen hier eindeutig auf Unstimmigkeiten hin.
»Wo kommen nur die ganzen Kadaver her?«, murmelte er verwundert. »Die Körper sind zu schwer für Wölfe, um sie über lange Strecken durch den Wald hierher zu schleifen.«
Ein Funke Hoffnung blitzte in Faenjas Augen auf.
»Vielleicht gibt es hier in der Nähe ja eine Stadt!«, schnaubte sie aufgeregt.
»Möglich«, murmelte Erren, wurde jedoch von dem kläglichen Fiepen eines fast schneeweißen Wolfswelpen mit silbrig grauem Rücken aus den Gedanken gerissen. Das kleine Tier war im Eingang des Wolfsbaus aufgetaucht und beobachtete nun, neugierig schnuppernd, die Fremdlinge auf der Lichtung. Ein kleines Knurren stieg in seiner Kehle auf, als Erren sein Schwert zog und langsam näher kam.
»Erren?«, schnaubte Faenja, der beim Anblick der toten Geschwisterchen des Welpen einen kalter Schauer den Rücken hinunter lief. Doch ihr Gefährte beachtete sie nicht, sondern hob nur das Schwert und setzte zum Schlag an.
Winselnd stolperte der Welpe mit weit aufgerissenen, goldgelben Augen rückwärts, als die Klinge herab sauste und im letzten Moment auf das harte Metall von Faenjas Klinge stieß, die sich schützend zwischen den Hengst und den Welpen gestellt hatte.
»Was machst du denn da?«, der Ärger in ihrer Stimme war unüberhörbar. Warum musste diese Stute manchmal nur so unglaublich dumm und starrköpfig sein?
»Das Vieh wurde von seiner Mutter mit Pferdefleisch großgezogen. Wenn er überlebt, wird er ein eigenes Rudel gründen, das Jagd auf Pferde machen könnte. Auch auf unser Fohlen! Willst du das?«
Faenja blähte die Nüstern und schob sich noch weiter zwischen den Erren und den Welpen, der sich mit großen Augen hinter ihrer drahtigen Fessel versteckte und zitternd zu dem goldenen Hengst empor blickte.
»Ich kümmere mich um ihn!«, schnaubte die Stute bestimmt. Erren konnte sich ein Lachen nicht unterdrücken.
»Ha! Du?!«, wieherte er höhnisch. »Na dann lass dir mal ein paar Fangzähne und Krallen wachsen!«
Faenja kniff die Augen zusammen und schnaubte mit angelegten Ohren. Erren wusste, dass sie ihn beißen würde, wenn er weiter stichelte, darum ließ er nun nur ein Ohr hängen und legte einen etwas ernsteren Tonfall auf.
»Das Vieh ist kein Hund, Faenja. Das ist ein wildes Tier, das in einem Rudel leben und jagen muss. Ich will ihm nur unnötiges Leid ersparen.«
»Wir könnten sein Rudel sein! Er könnte mit uns reisen und jagen und ich könnte ihn abrichten, uns zu beschützen. Und außerdem – hast du seine Schnauze gesehen? Ich könnte wetten, dass er Hundeblut in sich hat. Das kommt oft vor, wenn Pferde mit Hunden durch die Wälder reisen. Seine Schnauze ist außerdem einfach zu breit für die eines Wolfes.«
»In Skjells Namen. Bist du komplett verrückt geworden?! Lass dich von deinem Mutterinstinkt nicht übers Ohr hauen! Du bist ein Pferd und kein Wolf!«, rutschte es dem Hengst heraus. »Und ob Wolfsblut oder nicht: Ich sage es noch einmal. Das ist ein wildes Tier! Außerdem ist er viel zu jung. Der ist ja kaum entwöhnt.«
»Er hat schon Zähne! Er kann Fleisch fressen«, entgegnete Faenja stur. »Ohne seine Mutter stirbt er, Erren!«
»Na und?«
»Na und ich könnte das verhindern! Bitte! Bitte, lass es mich wenigstens versuchen! Wenn ich es nicht schaffe, stirbt er sowieso.«
Erren peitschte angespannt mit dem Schweif. Er konnte nichts Gutes darin erkennen, einen Wolfshund auf die Reise mitzunehmen. Einen so jungen noch dazu. Er würde sie nur unnötig aufhalten. Von dem lächerlichen Mutterinstinkt, den Faenja für das Ding zu empfinden schien, ganz zu schweigen.
Er stöhnte genervt auf und schloss die Augen.
»Und wenn du es schaffst, haben wir eine fleischfressende Killermaschine an unserer Seite, die...«
»Die uns vor Wölfen und Feinden warnen und verteidigen kann!«
Dagegen hatte Erren in der Tat kein Argument mehr. Prüfend blickte er von dem zitternden Haufen Fell zu Faenja und wieder zurück, bevor er seufzend den Kopf senkte.
»Bitte, dann nimm ihn eben mit!«, schnaubte er, wenig begeistert. »Aber du gibst ihm keinen Namen, bis er nicht über den Berg ist. Ich habe keine Lust, mir dein Geheule anzuhören, wenn du dem Vieh nachtrauerst.«
»Ah, Danke!«, wieherte Faenja überglücklich, sprang nach vorne und drückte Erren sanft die Nüstern an die Wange, bevor sie sich zu dem Welpen hinunter bückte und ihn sanft im Nackenfell griff, um ihn hochzuheben. Der kleine zappelte fiepend, als die Stute ihn in ihre Reisetasche an ihrem Schwertgurt setzte, schien sich jedoch recht schnell für seine neue Umgebung zu interessieren und tauchte in der Tasche ab, nur, um wenig später mit zwei Streifen Trockenfleisch im Maul wieder aufzutauchen, auf denen er gierig herum kaute.
»Sein Fell schimmert wie Silber«, murmelte Faenja leise. »Beinahe, wie die Silbermünzen von Keldor. Die Scabors. Scabor! Das wird dein Name sein.«
»Faenja! Was habe ich gerade gesagt?!«, wieherte Erren wütend, doch seine Gefährtin hatte ganz andere Dinge im Kopf, die offenaber nichts mit ihrem Gefährten zu tun hatten. Viel zu niedlich war der Ablick des Welpen, der nach dem Verzehr der Trockenfleischstücke, müde gähnend, den Kopf auf den Rand ihrer Tasche sinken ließ und dann die Augen schloss, um zu schlafen.
»Ist er nicht reizend?«, lächelte die Stute überglücklich. Ihr Gefährte legte jedoch nur die Ohren an und bahnte sich wieder seinen Weg zurück durch das Lager.
»Ja. Ganz liebreizend«, knurrte er sarkastisch, als er schließlich auf einer kleinen Anhöhe ankam und sein Blick dem Bach folgte, der durch die Lichtung auf ein lichtes Waldstück zu floss, das auf ihrem Weg lag. »Wir müssen jetzt weiter. Wir haben schon viel zu viel Tageslicht mit diesem Unsinn vergeudet.«
Mit siegreichem Grinsen und aufgestelltem Schweif folgte Faenja dem goldenen Hengst in das unbekannte Gebiet, weiter in den Osten.
»Schon merkwürdig, woher die ganzen Pferdeknochen kamen«, schnaubte Faenja leise, als sie zum Trinken eine kurze Rast an dem kleinen Bach einlegten. Sie waren seinem Lauf noch nicht besonders lange gefolgt, doch der Wald hatte sich bereits stark gelichtet und gab endlich wieder den Blick auf den Himmel frei. »Vielleicht gibt es hier ja doch ein paar Räuberbanden.«
Erren schüttelte nur mit dem Kopf, nickte jedoch im selben Zuge wieder.
»Jain. Wovon sollten Räuber hier denn leben, wenn sie keine Beute finden?«, mahnte er Faenja sanft. »Wir sind seit ungefähr zehn Mondkreisen unterwegs, befinden uns also fern abseits von Skjell und all seinen Königreichen. Ich nehme an, es bedeutet, dass wir sehr nahe an einer Art der Zivilisation sein müssen.«
Faenja spitzte neugierig die Ohren.
»Eine Art der Zivilisation?«
»Wenn diese Pferde ohne Waffen in den Wald gingen, sind sie entweder lebensmüde oder sie wissen nicht, wie man Waffen herstellt«, folgerte Erren mit einem Hauch von Ironie in seinem Tonfall.
»Oder die Wölfe haben sie bereits tot gefunden und zu ihrem Bau geschleppt.«
Ein erstauntes Glitzern, funkelte in Errens Augen auf. Er nickte und hob dann prüfend die Nüstern in den Wind.
»Daran hatte ich gar nicht gedacht, aber du könntest Recht haben. Aber wie ich bereits sagte. Ein Pferd zu seinem Bau zu schleppen ist schwierig, es sei denn, wir sind näher, als...«
Erren stoppte mitten im Satz, sprang über den Bach und kletterte den steilen Abhang hinauf, der die andere Seite des Baches begrenzte. Faenja folgte ihm etwas langsamer, um ihren Wolf nicht zu wecken, doch schon als sie die Kuppe des Hügels erreicht hatte, stockte ihr der Atem.
Zu ihren Hufen lag ein Tal, das vom Meer begrenzt wurde. Das Wasser bildete am Horizont eine sanft in der Morgensonne glitzernde Linie, die sich endlos weit zu erstrecken schien.
Die Küste, die an das Meer grenzte, war steil und felsig. Es sah beinahe aus, als hätte eine riesige Schlange sich in Furchen durch das Gestein gefressen, bevor sie im Meer verschwunden war.
In diesen Furchen war das Meerwasser eingeflossen und hatte stille schnell tiefer werdende Seen gebildet, deren Oberfläche sanft vom Wind gekräuselt wurde.
»Ein Fjord!«, hauchte Faenja begeistert. Sie sah das Meer nicht zum ersten Mal, doch der Anblick in dieser neuen Welt, war etwas völlig Neues für sie.
»Ein Fjord?«, fragte Erren, verwundert, dass es tatsächlich einen Namen für diese Schönheit gab. »So etwas habe ich in der Tat noch nie gesehen.«
In der Talsenke des Fjordes gab es eine Stelle, an der der Hang abflachte. Dort waren bei genauerem Betrachten kleine Bauten zu erkennen.
Erstaunt blickten die beiden Pferde hinunter auf die Stadt, die von Pferden in dem Fjord errichtet worden war. Keiner sagte auch nur ein Wort. Als Faenja jedoch zu ihrem Gefährten blickte, bemerkte sie etwas in seinem Blick, das ihr Angst einjagte.
»Kein Schornstein raucht in diesem Dorf«, murmelte er. »Nicht einmal Boote sind auf dem Wasser. Da stimmt irgendwas nicht.«
»Vielleicht ist es für die Fischer schon zu spät, um hinaus zu fahren«, mutmaßte die fuchsfarbene Stute, als sie sich an die Flanke ihres Gefährten schmiegte. »Vielleicht gibt es in dem Fjordsee auch gar keine Fische. Ich bin schon sehr gespannt, was diese Pferde hier tun und ob sie dieselben Bräuche haben, wie wir.«
Erren schwieg, als sie ihren Weg fortsetzten. Lediglich Scabors hungriges Japsen durchschnitt die Stille hin und wieder, bis Erren schließlich die Nase voll hatte und Faenja ein Eichhörnchen von einem Baum schoss, damit sie ihren Wolf damit füttern konnte.
Scabor schien schnell zu verstehen, dass er nun seine Zähne zum Fressen benötigte. Er schlang die Happen, die die Stute ihm fütterte gierig und in wenigen Bissen hinunter.
Trotz der kurzen Futterpause für den Welpen, kamen die Pferde sehr schnell voran und es war nicht einmal besonders lange nach Mittag, da erreichten sie das Ufer des Fjordsees.
Als Erren seinen Kopf senkte, um zu trinken, stellte er mit Verwunderung fest, dass das Wasser im See salzig schmeckte. Viel zu salzig, um es zu trinken.
»Wir sind in der Nähe des Meeres«, lachte Faenja, für die es aus irgendeinem Grund selbstverständlich gewesen war, nichts von dem Wasser zu trinken.
»Ich weiß nicht, was ein Meer ist«, murmelte Erren. »Und ich wusste auch nicht, dass es so etwas wie Fjorde in Skjell gibt.«
Faenja schüttelte amüsiert ihre Mähne. Woher sollte er das auch wissen? Schließlich war er bei Räubern aufgewachsen. Sie wusste es ja auch nur, weil sie einen Hauslehrer gehabt hatte, der ihr alles beigebracht hatte, was sie wissen musste, um eine kluge und weise Königin zu werden.
»Im Norden des Alviss Reiches gibt es welche. Das Land wird dort auch vom Meer begrenzt. Das ist diese endlose Fläche aus Salzwasser, die wir vorhin gesehen haben.«
»Und was ist hinter dem Horizont? Es sieht aus, als würde die Welt einfach aufhören«, schnaubte Erren. Für einen Moment wirkte er mehr wie ein neugieriges Fohlen, das seine Mutter ausquetschte, als wie ein gerissener Räuber, der ganze Horden von Pferden alleine in die Flucht schlagen konnte.
»Das weiß ich leider nicht. Ich weiß, dass Farin von Alviss mehrere Schiffe ausgesendet hat, um das Ende zu erkunden, doch die Schiffe verschwanden einfach und kehrten nicht wieder. Allerdings erreichte den König eine Brieftaube, dass die Seemänner das Land aus den Augen verloren hatten und sich um sie herum nichts als Wasser erstreckte. Es geht also immer weiter. Vielleicht stoßen sie irgendwann ja wieder auf Land.«
Erren blickte starr auf das Wasser. Faenja hatte Schwierigkeiten zu erraten, ob er nun erstaunt oder verängstigt von ihrer Geschichte war.
»Ich war mit Grindor schon an mehreren Fjorden«, wechselte sie schnell wieder das Thema. »Die Pferde dort lebten von der Fischerei und dem Herstellen von Netzen und Töpferwaren.«
»Umso merkwürdiger, das noch immer keine Schiffe auf dem Wasser sind«, bemerkte ihr Gefährte, der nun endlich aus seiner Starre erwachte.
Flink machten sich die Pferde auf den Weg, damit sie die Stadt noch vor Anbruch der Dunkelheit erreichten.
Es dauerte nicht lang, da erreichten sie das Städtchen. Doch was sie erwartete, war nicht das, was sie sich zuvor ausgemalt hatten. Erren behielt recht damit, dass irgendetwas hier nicht stimmte.
Viele der Häuser waren eingefallen und verwüstet, Türen standen offen, Fensterläden hingen in den Angeln, Ziegel lagen auf den Straßen, Karren waren umgekippt und überall verstreut lagen Körbe und Scherben von Töpfen und Krügen.
Ratten krochen aus allen Löchern der Straßen, die uneben vom Unkraut geworden waren. Die Natur hatte sich die Stadt bereits zurückgeholt. Daran bestand kein Zweifel.
Und weit und breit war kein Lebenszeichen von Pferden zu sehen. Selbst Scabor hatte sich winselnd in Faenjas Tasche zurückgezogen und versteckte sich vor irgendetwas. Was stimmte hier nur nicht?
Ein Schild mit der Aufschrift Sjørgren fiel den beiden plötzlich vor die Hufe, als sie das Rathaus des Dorfes erreichten. Erschrocken machten die Pferde einen Satz zurück und waren im selben Moment erleichtert, dass die schwere Holztafel keinen von ihnen getroffen hatte.
»So heißt wohl das Kaff hier«, murmelte Erren missmutig. »Wie spricht man das denn aus? Sj- Sjor...gren«
»Schörgren. Das durchstrichene Ø ist eine alte Schreibweise des Ö und sj eine alte Form des sch Früher haben alle Pferde in Skjell so geschrieben, aber irgendwie scheint es aus der Mode gekommen zu sein.«
»Aha«, knurrte Erren. »Eine Geisterstadt. Hätte nie gedacht, dass ich sowas mal sehen würde.«
Faenja hätte auch nie erwartet, dass sie so etwas einmal erleben würde. Aber es war beunruhigend. Die ganze Stadt war völlig verwüstet. Es sah nicht danach aus, als hätte Sjørgren ein friedliches Ende gefunden – vielmehr wirkte es, als habe die Bevölkerung auf einen Schlag in Panik ihre Häuser verlassen. Womöglich waren die Pferde dann unbewaffnet in den Wald geflohen und dort von den Wölfen überrascht worden.
Nur was war so furchterregend und so beängstigend, dass es ein ganzes Dorf in Angst und Schrecken versetzen konnte?
Erren und Faenja konnten es sich nicht erklären, doch sie wussten genau, dass Sjørgren ein düsteres Geheimnis barg, das es aufzuklären galt.
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