5. 𝑲𝒐̈𝒏𝒏𝒆𝒏 𝑻𝒓𝒂̈𝒖𝒎𝒆 𝒘𝒂𝒉𝒓 𝒘𝒆𝒓𝒅𝒆𝒏?
Eron steht vor mir und mustert mich eindringlich. Wieso dieser Gesichtsausdruck? Weiß er etwa von dem Traum? Oder hat er doch mitbekommen, dass ich das Gespräch belauscht habe?
„Das muss ein Schock für dich sein."
Er hat ja keine Ahnung.
Er stemmt den rechten Arm in die Seite und starrt mich weiterhin finster an. Ich hasse das! Er kann unmöglich wissen, was in mir vor sich geht.
„Es war ein Unfall", erklärt er plötzlich und seine Miene wird etwas weicher.
„Nimm es dir nicht so zu Herzen. Wir leben nunmal am Rande eines gefährlichen Waldes. Da kann sowas passieren. Ich sage den Leuten immer wieder sie sollen nicht in den Wald gehen, aber sie hören nicht auf mich."
„H-hast du mich deswegen gewarnt?"
Er nickt unmerklich.
„Solange ihr in der Stadt bleibt, wird euch nichts geschehen. Diese Jäger...Ich will nicht sagen, dass ich ihnen so ein Ende gewünscht hätte. Jedoch haben sie gegen die Regeln verstoßen, indem sie zu ihrem Vergnügen Tiere gejagt haben. Deshalb verdienen sie eine Bestrafung."
Ich fasse es nicht. Wie kann er so reden?
„Kein Mensch sollte so enden", antworte ich etwas verquer.
„Das stimmt. Doch es sollte auch kein Tier gequält und abgeschlachtet werden, nicht wahr?"
Er wartet einen Moment auf meine Reaktion. Ich werde noch immer nicht schlau aus ihm. Wieso ist er überhaupt zu mir gekommen? Die ganze Zeit bleibt er auf Abstand und kümmert sich kein Stück um mich. Also warum kommt er jetzt und sagt mir das?
Eron seufzt auf einmal. Sein Gesicht entspannt sich komplett und er dreht sich halb zum gehen um.
„Allmende ist eine schöne Stadt. Allerdings hat sich hier jeder an gewisse Regeln zu halten. Geh nicht in den Wald, Nisha."
Damit kehrt er mir den Rücken zu und geht zum Hof zurück. Ich schaue ihm solange nach, bis er hinter dem Zaun verschwindet.
Ich soll nicht in den Wald gehen? Ich bin weder ein Jäger noch habe ich vor den Tieren zu schaden. Also kann er sich seine Warnung sparen. Ich lasse mir von dem Typ nicht vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe. Auch wenn das alles seltsam ist, Träume können nicht wahr werden. Das ist alles nur ein merkwürdiger Zufall.
Manchmal träumt man eben von Dingen, die noch geschehen werden, ohne dass man es erklären kann.
Eron will sich doch nur aufspielen. Warum habe ich mich überhaupt um ihn bemüht? Der Kerl hat sie doch nicht mehr alle.
Kein Wunder, dass die Leute ihn nicht mögen. Kaum passiert etwas schlimmes, redet er allen ein paar komische Dinge ein und pflanzt Ängste in ihrem Unterbewusstsein. Was das Ganze soll weiß ich noch nicht, aber ich werde es herausfinden.
Das sagt sich so leicht. Mein Name ist leider nicht Sherlock Holmes oder Mulder. Außerdem ist es nicht meine Aufgabe die Welt zu verbessern.
Ich lasse Trevors Hof hinter mir und mache stattdessen meine Besorgungen in der Stadt. Mittags bin ich wieder zu Hause. Während ich mir was zu Essen koche denke ich zurück an den Traum.
Warum hat es sich so echt angefühlt? Sollte das wirklich mehr als nur ein Traum gewesen sein, kann man dann sagen, dass ich die beiden Männer umgebracht habe? Ich will mir das eigentlich nicht vorstellen.
Also beruhige ich mich mit dem Gedanken, dass Träume nicht wahr werden können. Außerdem habe ich mich in meinem Traum nicht selbst bewegt. Ich habe das Ganze vielleicht aus der Sicht der Schlange gesehen, doch eigentlich habe ich nur zugeschaut. Ich habe nicht gehandelt.
Ich lege das Kochbesteck beiseite und sinke in die Hocke. Verflucht, zwei Menschen sind tot. Egal was auch passiert sein mag. Es ist was anderes sowas im Fernsehen zu sehen oder im realen Leben. Warum koche ich eigentlich? Nicht aus Hunger. Eigentlich nur, um mich abzulenken. Doch könnte ich im Moment keinen Bissen hinunter bringen.
Das Klingeln meines Telefons bringt mich aus dem Gleichgewicht. So falle ich etwas unsanft auf meine vier Buchstaben.
„Autsch!"
Dann stehe ich auf, schalte schnell den Herd aus und laufe ins Wohnzimmer.
„Hallo?"
„Oh Nisha, schön von dir zu hören. Du hättest dich schon längst melden sollen."
Das ist Viannes vorwurfsvolle Stimme.
Sofort sind alle Sorgen vergessen und das schlechte Gewissen drängt sich in den Vordergrund.
„Ist alles in Ordnung bei dir? Hast du dich schon eingelebt?"
Vianne hat alles Recht der Welt sich Sorgen zu machen. Schließlich hat sie mich mit drei Jahren bei sich aufgenommen und mir seit dem alles gegeben.
Ich kann mich nicht an meine echten Eltern erinnern. Dank Vianne und André haben sie mir auch nie gefehlt. Meine Tante hat mich damals nach Europa gebracht, als ich kaum drei Jahre alt war. Doch sie konnte sich nicht dauerhaft um mich kümmern - wollte es wohl auch nicht - und hat mich zur Adoption frei gegeben.
Seit dem habe ich meine Tante nie wieder gesehen. Das ist nicht schlimm. Vianne und André sind meine Welt und die besten Eltern, die man sich nur wünschen kann.
Ich verbringe eine ganze Stunde damit Vianne von Allmende zu erzählen. Den kürzlich ereigneten Todesfall lasse ich vorerst aus.
Sie freut sich für mich. Ich versuche ihr einen glücklichen Eindruck zu vermitteln. Gerade heute fällt es mir schwer. Ich bereue meinen Umzug nicht. Allerdings ist mit einem Todesfall nicht zu spaßen. Es wird eine Weile dauern, bis ich das verdaut habe.
Immerhin schafft Vianne es mich auf andere Gedanken zu bringen und meine Stimmung zu lockern.
Nach dem Telefonat mit ihr bin ich wieder gut drauf und beschließe nach dem Essen noch etwas raus zu gehen. Natürlich um zu malen.
Also schnappe ich mir meine Malsachen, etwas zu trinken und ein paar der übrig gebliebenen Kekse und gehe hinaus in die Natur.
Wohin lockt es mich denn heute? Eigentlich möchte ich etwas spazieren gehen. Allerdings nicht durch die Stadt. Nur gibt es außer der Stadt und dem Wald nichts anderes hier. Also was bleibt mir dann noch?
Allerdings habe ich jetzt noch mehr Respekt vor dem Wald. Eron hat mich gewarnt dort hinein zu gehen. Es ist nicht wegen ihm, aber ich beschließe heute mal auf ihn zu hören. Gerade nach dem Traum und den beiden toten Jägern. Es macht immer noch keinen Sinn, aber ich rede mir immer wieder ein, dass Träume nicht wahr werden können.
Also gehe ich zurück auf die Hügel. Dort suche ich mir ein schönes Plätzchen in der Sonne und beginne ein neues Werk.
Dieses Mal wird der Wald nicht mein Modell. Ich male irgendwas aus meiner Fantasie. Es ist selten, dass ich einfach drauf los male.
Ich beginne mit einer Zeichnung. Ganz vertieft in das Bild merke ich nicht, was ich da eigentlich zeichne. Erst nach einiger Zeit lehne ich mich zurück und starte in das Paar unheimliche gelbe Augen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten Erons Augen gemalt zu haben. Ich kann mich nur selbst bemitleiden. Hat er mich so sehr eingeschüchtert oder so sehr beeindruckt?
Ich seufze und lege die Stifte weg. Dann fällt mir noch etwas auf. Das sind keine normalen Augen. Damit meine ich nicht die seltsame Farbe oder die dunkle Umrandung. Ich habe sie schmaler gemalt. Jetzt wirken sie wie die Augen eines Tieres. Ich drehe wirklich am Rad. Seit wann zeichne ich so einen Schwachsinn?
Meine Hand reißt das Blatt aus dem Zeichenblock und zerknüllt es. Wütend über mich selbst werfe ich es den Hügel hinunter.
Anschließend lasse ich mich ins weiche Gras fallen und sehe in den Himmel. Was geschieht nur mit mir? Ich habe seltsame Träume von Tieren und male schließlich auch welche. Ich fühle mich zwar sehr mit der Natur verbunden, aber sowas ist mir noch nie passiert.
Die Lust am Malen hat sich verpufft. Irgendwann beginne ich die kleinen Wölkchen zu zählen, bis meine Lider schwer werden und ich völlig unerwartet einschlafe.
Natürlich bin ich müde. Nachts schlafe ich ja nicht sonderlich gut. Diese seltsamen Ereignisse rauben mir die Kraft.
Es schadet ja nicht ein Nickerchen zu halten.
Es ist dunkel unter den dicht beieinander stehenden Tannen. Kaum ein Lichtstrahl dringt zwischen den Ästen hindurch. Wo bin ich? Schon wieder im Wald?
Ich sehe mich um.
Es ist ruhig und vollkommen einsam hier draußen.
Bin ich wieder ein Tier? Nein, dieses Mal bin ich ich selbst.
Hinter mir knackt etwas.
Als ich mich umdrehe ist nichts zu sehen.
Meine braunen Augen suchen den Boden ab, in der Erwartung einer Schlange zu begegnen. Doch da ist nichts.
Oder doch? Ich spüre, dass ich nicht mehr alleine bin. Nur was beobachtet mich aus der Dunkelheit?
Angestrengt bohrt sich mein Blick auf eine Stelle. Ich will es sehen. Was ist dort draußen?
Plötzlich sehe ich sie, die goldenen Augen. Es fühlt sich an, als ob mir jemand einen Kübel Eis über den Kopf schüttelt. Wie erstarrt stehe ich da und kann mich nicht einen Millimeter vom Fleck rühren. Ich habe Angst. Dieses Mal ist es meine eigene Angst. Doch vor was? Was ist das für ein Tier? Ich habe keine Ahnung was alles in diesem Wald lebt.
Ein leises Knurren löst meine Körperstarre. Leider bringt mir das überhaupt nichts. Als ich einen unsicheren Schritt zurück trete, stolpere ich über eine Wurzel und falle rücklings auf den mit Tannennadeln übersäten Waldboden.
In der selben Sekunde springt ein schwarzes Wesen aus der Dunkelheit direkt auf mich zu.
Mein Herz bleibt stehen, als ich den Wolf auf mich zu rasen sehe. Sein Fell ist so schwarz wie die Nacht und glänzt sobald ein winziger Lichtstrahl darauf fällt. Er ist groß und eindrucksvoll. Beängstigend und zugleich wunderschön. Ich habe noch nie so einen Wolf gesehen.
Nicht dass ich jemals einen gesehen hätte, doch die Wölfe aus Büchern und Medien sehen irgendwie anders aus.
Er setzt erneut zum Sprung an und...springt über mich hinweg. Ich dachte mein letztes Stündlein hätte geschlagen.
Der Wolf verschwindet wieder im Wald, als würde er etwas jagen.
Ich schrecke hoch und stelle fest, das ich schon wieder geträumt habe. Zitternd streife ich mir die Locken aus dem Gesicht. Ich kann einfach nicht so weitermachen. Ich muss etwas gegen diese Träume unternehmen.
Wenn meine Träume wirklich wahr werden, dann muss ich das unbedingt verhindern. Vielleicht gibt es wirklich Wölfe dort draußen, oder schlimmeres.
Ich will nicht so enden wie diese Jäger. Ich will nicht, dass dieser letzte verrückte Traum wahr wird.
Mein Blick bleibt am Wald hängen. Majestätisch wie immer starrt er zurück. Naja nicht wirklich. Es fühlt sich nur so an. Wenn es tatsächlich solche Tiere dort draußen gibt, dann wird nichts und niemand sie daran hindern in die Stadt zu kommen. Was nützt es also sich dem Wald fern zu halten?
„Solange ihr in der Stadt bleibt, wird euch nichts geschehen."
Das waren Erons Worte vorhin. Sind wir wirklich sicher in Allmende? Ich habe das seltsame Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt. Es fängt mit meinen Träumen an und hört mit Eron auf. Wer zum Teufel ist der Typ?
Er sagt er kennt den Wald. Vielleicht weiß er ja, was dort draußen vor sich geht und warum ich ständig von Tieren und vom Wald träume.
Es widerstrebt mir zwar, aber ich sollte mit ihm darüber reden.
Wahrscheinlich wird er mich für verrückt erklären oder über mich lachen - falls er sich überhaupt dazu herab lässt mir zuzuhören.
Doch das wird er. Vorhin hat er ja auch mit mir geredet. Er hat mich das erste Mal angesprochen. Also vielleicht habe ich ja Glück und ich erfahre endlich mehr über ihn. Es erscheint mir wichtig ihn besser kennenzulernen und endlich ein paar Antworten zu bekommen.
Wer er ist, woher er kommt und was er alles über den Wald weiß.
Entschlossen packe ich meine Sachen zusammen und gehe die Hügel hinunter. Ich laufe direkt auf die Felder zu, als sich plötzlich über den Bäumen neben mir einige Vögel erheben.
Also eigentlich sind das Krähen.
Schon wieder Krähen?
Aus dem Augenwinkel erhasche ich eine Bewegung am Rande des Waldes und bleibe augenblicklich stehen. Ich sehe gerade noch eine dunkle Gestalt zwischen den Bäumen verschwinden. Das ist jetzt aber kein Traum, oder?
Was war das? Also ein Mensch auf keinen Fall.
Ich erinnere mich an den Wolf aus meinem Traum. Kopfschüttelnd gehe ich langsam weiter. Jetzt verlier nicht den Verstand, Nisha. Sowas kann nicht passieren. Mal abgesehen davon, dass es hier doch gar keine Wölfe gibt - glaube ich zumindest.
Ich will das nicht herausfinden und beeile mich. Ich renne schon den Hügel hinab. Bei den Feldern angekommen, werde ich wieder langsamer und hole kurz Luft.
Ich höre mein Herz aufgeregt schlagen.
Ich habe Angst. Nur wovor?
Als ich mich neugierig ein letztes Mal umdrehe, erwarte ich nicht wirklich etwas zu sehen.
Umso mehr bin ich überrascht, als ich eine bekannte Person in den Wald gehen sehe. Sekunde mal, hat er nicht vor einigen Stunden noch behauptet, man solle nicht in den Wald gehen? Was soll das? Hat er uns alle wirklich nur verrückt machen wollen?
Der kann was erleben. Ich schultere meine Tasche mit den Malsachen und folge Eron unauffällig in den Wald. Ich will jetzt wissen was er dort zu suchen hat.
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