22. 𝙀𝙞𝙣 𝙇𝙚𝙗𝙚𝙣 𝙛𝙪̈𝙧 𝙚𝙞𝙣 𝙖𝙣𝙙𝙚𝙧𝙚𝙨

Es fühlt sich an, als würde Erons Körper in tausend Stücke zerreißen, als er dumpf gegen die Felswand kracht. Dann fällt er weiter und wieder prallt er auf einen Felsvorsprung. Gequält kneift er die Augen zusammen und versucht noch sich festzuhalten. Doch etwas scheint ihn nach unten zu ziehen. Sein Körper rollt über das harte Gestein. Tausend Stiche drücken sich in sein Fleisch und seine Seele, bis er schließlich genauso unsanft auf den mit Tannennadeln und Zapfen übersäten Boden aufklatscht.

Eine Weile rührt er sich nicht. Er blinzelt zwischen den Spitzen der Tannen hindurch. Hier dringt die Sonne kaum zum Boden des Waldes.

Sein flacher Atem zeigt, dass Eron noch am Leben ist. Doch alles tut ihm weh. Kein Wunder. Wie viele Meter tief ist er gerade gefallen? Es ist eher ein Wunder, dass er noch lebt.

Eron versucht ganz vorsichtig seine Hände und dann seine Arme zu bewegen. Ganz eindeutig ist der Schmerz auch ein Zeichen dafür, dass er noch am Leben ist. Doch er kann sich noch bewegen. Ganz langsam rollt er sich auf die Seite und hebt sich umständlich auf die Knie. Was denn...nichts gebrochen?
Wie kann er nur so viel Glück haben?

Irgendwie schafft es Eron sich auf die Füße zu stellen. Er reckt den schmerzenden Kopf nach oben. Lambert muss annehmen, dass er tot ist. Kein normaler Mensch würde so einen Sturz unbeschadet überstehen.
Naja ganz unbeschadet ist er wohl auch nicht. Er spürt das warme Blut über seine Stirn laufen und seine Schulter fühlt sich an, als wolle sie ihm jeden Moment abfallen.

Er stützt sie mit dem anderen Arm und setzt unsicher einen Fuß voran. Laufen geht. So kann er wenigstens nach Lui suchen.
Also muss er als Mensch langsam voran stolpern. Er hasst es so verletzlich zu sein. Um ihn herum nichts als Bäume und Dunkelheit. Selbst Eron hat keine Ahnung wo er sich gerade befindet. Es ist einer der dunkelsten Teile des Waldes.

Er geht ein Stück weit und hält Ausschau nach seinem kleinen Bruder. Verdammt, warum musste Lui sich auch einmischen. Er hätte bei den anderen bleiben sollen.
Eigentlich sollte Eron nicht so über den Kleinen denken. Lui hat so viel Mut aufgebracht sich vor Lamberts Pistole zu werfen und Eron damit das Leben zu retten. So viel Mut hätte Eron nicht einmal sich selbst zugetraut.

„Lui wo bist du?", ruft er laut durch den stillen Wald. Es sind nicht einmal Vögel zu hören. Kein Lüftchen weht und kaum ein Sonnenstrahl erwärmt die Erde.

Erschöpft und voller Sorge wandert Eron am Fuße des Berges entlang und ruft ständig Luis Namen. Er weiß nicht wie viel Zeit vergeht, bis er ihn endlich findet. Sein Herz setzt aus und all seine Schmerzen sind vergessen, als er den Wolf reglos zwischen den Tannen liegen sieht.

"LUI!", schreit Eron aufgewühlt und eilt zu ihm. Er sinkt vor ihm auf die Knie und hebt den Wolf hoch, sodass er zur Hälfte auf seinen Oberschenkeln liegt. Er wimmert schwach und atmet schwer.
Lui hat es viel schlimmer erwischt. Doch was Eron nun fast den Verstand raubt ist die blutende Schusswunde an Luis Bauch.

Also hat Lambert ihn doch erwischt. Selbst wenn nicht, der Sturz hat ihn wie ein rohes Ei am Boden aufkommen lassen.
Erons zitternde Hand legt sich auf die Wunde in der Absicht damit die Blutung zu stoppen. Vergebens.

„Oh Gott, Lui, warum hast du..."
Erons Stimme klingt seltsam fremd und verängstigt. Seine goldenen Augen wandern über Luis Körper und zählen die zahlreichen Verletzungen. Doch die schweren inneren Verletzungen vermag er gar nicht erst zu erahnen.

Lui schafft es trotz der Schmerzen sich in einen Menschen zu verwandeln.
„Was machst du? Spar deine Kräfte. Ich werde dich nach Hause bringen."
Luis Hand legt sich auf Erons. Ein schwaches Lächeln bildet sich auf dem Gesicht des Jungen.
„Schon gut, Eron...Ich schaffe das nicht mehr. Doch bin ich froh, dass es dir gut geht. Dir darf...einfach nichts passieren. So gebe ich mein Leben gerne für deines."

„Was redest du denn da? Du bist viel zu jung, als dass du solche Reden schwingen solltest."
„Ich bin dein Bruder und...das ist meine Art mich bei dir zu entschuldigen."
„Was? Wofür denn bitte?", fragt Eron verwirrt und halb panisch.
Er weiß wie hoffnungslos es ist. Luis Verletzungen sind einfach zu schwer. Er würde es vermutlich nicht einmal zu einem Arzt nach Allmende schaffen.

„Ich habe dich so lange als Außenseiter behandelt, nur weil Sira es befohlen hat. Als Bruder tut es mir leid. Vater hätte sich für mich...geschämt."
Eron kann kaum glauben was er da hört. Hat sich Lui dafür etwa die ganze Zeit schuldig gefühlt? Toulouse und Boris etwa auch? Das treibt ihm die Tränen in die Augen.

„Ich bitte dich, Lui..."
„Verzeih uns...Eron!"
Mehr sagt Lui nicht und der Druck seiner Hand lässt nach. Als Wolf könnte Eron genau hören wie sein junges Herz aufhört zu schlagen, aber so hat er kaum eine Gewissheit. Es ist die Stille und das fehlende Heben und Senken seiner Brust, was ihm letztendlich vermittelt, dass sein Bruder aufgehört hat zu atmen.

Eron nimmt den Oberkörper des Jungen und drückt ihn an seine Brust. Er schreit aus tiefster Seele, weil es einfach so schrecklich wehtut. Die Schuldgefühle drohen ihn zu erdrücken und das imaginäre Messer in seinem Herzen will ihm auch das Leben nehmen und bringt es doch nicht zu Ende. So sinnlos es ihm auch erscheint dieses Leben zu führen, warum hat er den Sturz überlebt? Was soll er jetzt nur machen?

Hätte er doch bloß nicht gegen Lambert gekämpft. Das einzige Mal, wo er sich hat mitreißen und sich von seinen Gefühlen hat überwältigen lassen. Nun ist Lui tot und Eron gibt sich die Schuld daran. Es ist als hätte er Lui selbst auf dem Gewissen.
„Oh Lui, warum hast du das nur getan?"



~



Völlig verschwitzt vom Laufen und leicht verdreckt vom Wald knie ich zitternd auf dem Gestein und starre immer noch in die Tiefe unter mir. Dort unten ist alles ganz schwarz. Ich kann nicht einmal weinen. Ich bin zu entsetzt.

Auch Zaza neben mir sieht hinab in die Finsternis des Tals. Wir sind beide zu spät gekommen. Da ich nicht gut klettern kann, mussten wir einen längeren Weg einschlagen und sind gerade rechtzeitig gekommen, um Eron und Lui sterben zu sehen.
Nun habe ich nicht mal den Willen aufzustehen. Dabei will ich diesen Mörder unbedingt zur Strecke bringen.

Doch was kann ich allein schon ausrichten? Lambert hätte keine Skrupel mich auch in den Abgrund zu stürzen oder zu erschießen.
„Wieso? Wieso nur...?"
Verzweifelt schlage ich die Faust auf den harten Boden. Immer und immer wieder, bis sie anfängt zu bluten. Ich spüre den Schmerz nicht. Ich fühle nur den Schmerz in der Brust.

Währenddessen steckt Lambert seine Waffe weg und dreht sich zum Gehen um. Er nimmt seine Soldaten und zieht sich nach Allmende zurück.
Ich lasse mich auf mein Gesäß sinken und sehe zu dem Eichhörnchen. Ja auch Zaza sieht man es an, dass er wirklich traurig ist und das als ein Tier. Seine Augen sind genauso ausdrucksstark wie die von Eron.

Auf einmal ist es ruhig. Als hätte man den Klang der Natur ausgeschaltet. Selbst die Krähen sind weg.
Heute Morgen habe ich noch mit Eron über die Vorboten des Unheils geredet. Dass es so endet, hätte niemand gedacht.

Ein Heulen durchbricht die Totenstille. Erst eines dann zwei und schließlich hört man ein ganzes Rudel aufheulen. Es hallt von den Felsen wieder und zieht sich über den gesamten Berg. Auch Lambert muss das noch hören.

„Zaza, sind das etwa...?"
Ich brauche die Frage nicht zu beenden. Zaza versteht mich auch so. Er wird wieder munter und läuft am Rand der Klippe auf und ab.
„Gehen wir bitte zu ihnen."

Wieder führt Zaza mich durch den Wald. Langsam kann ich nicht mehr laufen. Trotzdem bewege ich mich. Ich blende einfach die Müdigkeit und die schmerzenden Füße aus.

Ich merke kaum, wie mir eine kalte Träne übers Gesicht läuft. Zaza schnalzt zwar einmal, aber ich habe keine Lust großartig über die Bedeutung nachzudenken. Mein Herz ist schwer und auf meinen Kopf schlägt ein Vorschlaghammer ein. Zumindest fühlt er sich so an. Außerdem pochen meine aufgeschlagenen Fingerknöchel.

Es dämmert schon, als wir das Tal erreichen. Noch immer höre ich vereinzeltes Heulen von Wölfen. Das klingt beängstigend und gleichzeitig so traurig. Kann ich bitte auch heulen?

Die Sonne scheint schon lange hinter dem Berg versunken zu sein, als Zaza plötzlich stehen bleibt und ich sofort auf dem Boden sinke. Ich kann einfach nicht mehr.
Seufzend schaue ich zwischen den Bäumen hindurch und sehe tatsächlich einen Wolf.

Er schaut mich direkt an. Doch diese Augen verkünden Unheil. Er ist hasserfüllt und fängt laut an zu Knurren.
„Lass es gut sein, Nisha hat keine Schuld daran."
Sira tritt als Mensch neben den dunkelgrauen Wolf und legt beruhigend ihre Hand auf seinen Rücken. Das hält ihn tatsächlich davon ab sich auf mich zu stürzen.

„Sira..."
Fast hätte ich mich erleichtert in ihre Arme gestürzt, aber ich komme einfach nicht mehr auf die Beine.
„Es tut mir so schrecklich leid! Ich konnte ihnen nicht helfen", jammere ich und kann mein Schluchzen nicht mehr aufhalten.
„Alles gut, Nisha. Ich weiß, dass es nicht deine Schuld ist. Dieser Lambert hat Lui getötet und beinahe auch Eron. Dafür wird er büßen."

Ich horche auf. Was hat Sira da eben gesagt?
„Heißt das Eron ist...?"
Sie nickt lächelnd.
„Eron ist wohlauf. Wie auch immer er diesen Sturz überlebt hat."
Ein Seufzer der Erleichterung entschlüpft meinem Munde.

„Komm mit mir, Mädchen, ich bringe dich zu ihm."
Ich nicke begeistert und stehe auf. Es scheint mir mit letzter Kraft zu gelingen. Die Nachricht, dass Eron überlebt hat, gibt mir wohl neue Energie und blendet sämtliche Schmerzen und Erschöpfung aus.

Wir gehen ein Stück durch Wald und sehen immer mehr Wölfe, teilweise auch in ihrer menschlichen Form. Sie alle machen ernste Mienen. Als ich den Ort unter den Felsen sehe, halte ich inne aufgrund des Bildes vor meinen Augen.
„Eron...", sage ich kaum hörbar. Zaza hüpft über mir auf eine Tanne. Dann gehe ich langsam zu dem jungen Mann der gekrümmt am Boden kniet und seinen toten Bruder im Arm hält. Hinter ihm stehen Toulouse und Boris als Wölfe und fiepen herzzerreißend.

Verflucht, wie lange sitzt er schon so da?
Ich kann sein Gesicht kaum erkennen. Doch fühle ich seinen Schmerz. Armer Lui. Er war doch noch so jung. Wolf hin oder her, er hätte nicht so sterben müssen.

Sira tritt an Erons Seite und legt vorsichtig eine Hand auf seine Schulter.
„Komm Eron, lass ihn gehen. Lass seine Seele an einen besseren Ort gehen."
In Zeitlupe bewegt sich Erons Kopf und seine goldenen Augen öffnen sich.
Ich hasse seinen unerträglichen Schmerz darin zu sehen. Dabei hat sein Gesicht keinen Ausdruck. Es wirkt bis auf seine Augen völlig leer.

Er tut mir so unendlich leid. Nur was kann ich schon für Eron tun? Ich kann Lui nicht wieder lebendig machen, ich kann nicht seine Verletzungen heilen und ich kann auch nichts gegen Monsieur Lambert ausrichten. Ich bin ein winziger Wicht im Universum. Was soll ich nur hier? Warum erlebe ich das alles, wenn ich doch nichts ändern kann?

Während ich in meinem Mittleid fast zu ersticken drohe, empfange ich ein seltsames Gefühl. Sofort spüre ich Erleichterung und mein Kummer wird von irgendetwas unterdrückt.

Ich wische mir die Tränen vom Gesicht und erkenne den Grund für meine Empfindungen. Dieses Wesen ist mir vertraut und doch so einzigartig und unberührbar: Der Waldgott.

„Überlasse ihm Lui, Eron", bittet Sira ruhig aber eindringlich.
Nur schwer löst sich Eron von dem Jungen. Er legt ihn vorsichtig auf den Boden und zieht sich dann langsam zurück.
Mit dem Blick noch auf Lui gerichtet verwandelt sich Eron zurück in den schwarzen Wolf.

Langsam humpelt er an mir vorbei. Seine Augen sind genauso traurig und leer wie zuvor als Mensch.
Ich schaue ihm besorgt hinterher, bis Sira an meine Seite tritt.
„Lass ihn für eine Weile in Ruhe."
„Er wird doch nichts dummes anstellen?"
Sie schüttelt den Kopf.
„Heute nicht. Doch du solltest nach Hause gehen, Nisha. Du siehst furchtbar aus. Quäle dich nicht wegen Lui. Das hätte er nicht gewollt."

Ich soll mich nicht quälen? Wie soll ich das anstellen? Mein Herz veranstaltet gerade Tauziehen mit meinem Verstand. Mal sehen was am Ende dabei heraus kommt.
„Er ist verletzt", merke ich an.
„Mach dir keine Gedanken deswegen. Ich kümmere mich darum."

Mir bleibt nichts anderes übrig als niedergeschlagen und voller Sorge um Eron nach Hase zu gehen. Doch das was mich am meisten quält, ist dass er mich nicht einmal angesehen hat zum Schluss.
Zaza hüpft vom Baum und landet elegant auf seinen braunen Füßen. Moment, Füße?
Ich bleibe stehen und schaue in die dunklen Augen eines Jungen. Wobei Junge wohl nicht mehr ganz stimmt. Er ist zwar jung, aber kein Kind mehr.

Seine rotbraunen Haare liegen glatt und seidig am Kopf, sie verdecken die Hälfte seines Gesichtes und passen farblich perfekt zu dem rötlich braunen Fell, dass er sich um seinen gesamten Körper geschlungen hat. Er hat es lediglich mit einfachen Lederbändern fixiert. So sieht es aus wie ein einzigartiges Kostüm aus einem Theaterstück.

Er trägt eine Kette um den Hals. Ein festes Band, an dem ganz viele verschiedene Nüsse hängen. Sie klappern bei jeder Bewegung und grüne Blätter kleben von Kopf bis Fuß an ihm.

Zaza versucht vorsichtig ein Lächeln mit seinen schmalen Lippen. Dabei wird sein schmales Gesicht etwas breiter und freundlicher.

„Nisha...es wird alles wieder gut."
Seine Stimme ist herrlich leicht und hell. Er streckt seinen braun gebrannten Arm aus und hält mir seine Hand entgegen.
„Komm, ich bringe dich sicher nach Hause."

Von Zaza strahlt eine angenehme Wärme aus. Ich dachte er zeigt sich nicht vor Menschen.

Ich kann gar nicht sagen wie froh ich darüber bin, dass er es jetzt doch vor mir tut. Nun muss ich nicht allein durch diesen düsteren Wald gehen und mich vielleicht noch dabei verirren. Nickend lege ich meine Hand in seine und lasse mich von ihm führen.

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