18. 𝘿𝙞𝙚 𝙂𝙚𝙨𝙘𝙝𝙞𝙘𝙝𝙩𝙚 𝙫𝙤𝙢 𝘼𝙣𝙛𝙖𝙣𝙜 𝙙𝙚𝙨 𝙆𝙧𝙞𝙚𝙜𝙚𝙨

Es war schön die Familie zu besuchen und meine Freunde wieder zu sehen. Natürlich gehe ich nicht jedes Mal mit ihnen in die Kneipe, aber wir sind lange nicht mehr aus gewesen. Daher habe ich auch das genossen.

Ein weiches Schmunzeln huscht über meine Lippen, als ich das Foto auf dem Handy betrachte. Maren hat ein Bild von mir und Eron gemacht, als wir nebeneinander auf dem Bett eingeschlafen sind. Ein Beweis dafür, dass mir der mysteriöse Mann vertraut, sonst wäre er niemals so friedlich neben mir eingeschlafen. Gut, der Alkohol hat auch seine Rolle gespielt. Ich bin erstaunt wie lange Eron durchgehalten hat, dafür dass er noch nie vorher getrunken hat.

Ich bin froh ihn heile wieder nach Hause gebracht zu haben. Er fühlt sich in der Großstadt auf Dauer nicht wohl, ebenso wie ich.

Nun sind wir wieder in Allmende und sogleich hat uns die Nachricht von sechs Todesfällen ereilt. Sechs Menschen wurden in der vorletzten Nacht ermordet und von den Tätern fehlt jegliche Spur. Die Polizei ist überfordert. Doch Eron ist kein bisschen überrascht. Er hat enttäuscht gewirkt, als er von den Opfern hörte. Gleichzeitig schien er zu wissen wer dafür verantwortlich ist.

Die Leute in Allmende sind zurecht beunruhigt. Sechs Morde fallen in solch einer kleinen Stadt auf, nein, das fällt in jeder Stadt auf. Deshalb hat dieser merkwürdige Typ mit der Taschenuhr, Monsieur Lambert, den Leuten Sicherheit versprochen. Was für eine Sicherheit kann er schon versprechen? Und was wird Eron wegen des Mannes unternehmen? Sein Hass auf den Mann scheint sich täglich zu steigern.

Ich war gerade in der Innenstadt angekommen, weil mir die nette Madame Durelle im Hausflur entgegen gekommen war und mir von dem Tumult in der Stadt erzählt hatte.
Eigentlich hatte ich ja zu Jérôme Bonnet gehen und ihn nach einem Job in seinem Restaurant fragen wollen. Doch auch an diesem Tag soll das wohl nicht sein.

Ich habe mir natürlich Gedanken um Eron gemacht, als ich Lambert auf dem Marktplatz zu den Menschen habe sprechen hören. Er hat abseits am Rande der Menge gestanden und ziemlich wütend ausgesehen. Noch schlimmer wurde es, als Lambert später auf ihn zugegangen war. Als Eron ihn wütend am Kragen gepackt hat, ist mir für einen kurzen Moment das Herz in die Hose gerutscht. Zum Glück ist das nicht eskaliert.
Danach ist Eron verschwunden und ich habe ihn seit dem nicht mehr wieder gesehen.

Wo ist er nur hin gegangen? Es wird schon dunkel draußen und er ist noch immer nicht zurück.
Hat er nicht gesagt er möchte auf mich aufpassen? Bei meinen Eltern hat er so einen Zirkus veranstaltet und mich nicht aus den Augen gelassen und nun ist er von der Bildfläche verschwunden.

Ich mache die Balkontür einen Spalt breit auf. Gerade so weit, dass ein Wolf hindurch passt. Falls er sich heute Abend doch noch einfallen lässt vorbei zu kommen.

Gegen Zehn Uhr verliere ich allerdings die Hoffnung. Ich weiß nicht wo er sich herumtreibt und was er macht, aber kann er sich nicht vorstellen, dass ich mir Sorgen um ihn mache?

Reichlich überrascht werde ich, als es kurz nach Zehn noch an der Tür klingelt.
Ich eile praktisch zur Tür.

Doch im Flur ist niemand zu sehen. Wie merkwürdig ist das denn?
„Hallo?", rufe ich irritiert.
Keine Antwort. Wenn ich nicht an Gestaltwandler und andere merkwürdige Dinge glauben würde, wäre das nur halb so unheimlich. Doch in diesem Moment bekomme ich eine Gänsehaut. Meine innere Stimme rät mir wegzulaufen, doch ich reagiere zu spät.

Als eine kalte Hand sich von hinten auf meinen Mund legt und jemand meine Arme festhält, bin ich machtlos. Ein kräftiger Mann zieht mich unsanft durch den Flur und die Treppe hinunter aus dem Haus hinaus. Dort warten andere Leute. Sie tragen merkwürdige zerrissene Kleidung und haben alle miteinander zerzauste Haare.
Gestaltwandler!

Ich kann mich gegen so viele nicht
wehren und lasse zu, dass sie mich leise mit sich schleppen. Niemand bekommt davon etwas mit. Innerhalb weniger Minuten haben sie mich durch die Felder bis zum Wald geschleppt. Erst dort nimmt der dunkelhaarige Mann seine Hand von meinem Mund.

„Hör zu, wenn du dich nicht wehrst und mit uns kommst, wird dir nichts geschehen."
„Wer seid ihr? Was wollt ihr?", frage ich gereizt und schlage seine Hände zurück. Endlich lässt er mich los. Trotzdem könnte ich nicht vor ihnen weglaufen.
Wollen sie mich auch töten, genau wie diese sechs unschuldigen Menschen?

„Sira will dich sehen."
Sira ist doch die weiße Wölfin. Was will sie denn ausgerechnet von mir? Wenn sie mich umbringen möchte, soll sie es gleich tun. Mir fällt beim besten Willen kein anderer Grund ein.
Wo steckt denn nur Eron?
„Folge uns!", befiehlt mir der knurrige Typ und geht voraus.
Ich habe keine Wahl als ihnen zu folgen wenn ich nicht verletzt werden möchte.

Insgesamt begleiten mich fünf ziemlich mürrisch und vor allem stark aussehende  Kerle. Die sind sicher nicht zum Scherzen aufgelegt.
Also folge ich ihnen still schweigend durch den düsteren Wald und tröste mich damit, dass sie mich gleichzeitig auch beschützen müssen, wenn sie mich lebendig zu Sira bringen wollen.

Es geht eine ganze Weile bergauf, die Landschaft wird immer karger und immer steiler, bis zuletzt nur noch Felsen übrig bleiben. Mir kommt es fast so vor, als würden wir stundenlang über die Felsen klettern. Für einen Wolf mag das einfach sein, doch ich rutsche immer wieder an den glatten Steinen ab.

Einmal bleibe ich so ungeschickt an einer Kante hängen, dass ich mir das Schienbein trotz langer Hose aufschneide. Ich zische vor Schmerz und werde gerade rechtzeitig von einem der kräftigen Typen aufgefangen. Das scheint ihm lästig zu sein und er stellt mich ganz schnell wie einen ekeligen Käfer wieder auf die Beine.

Doch von da an ist der Weg nach oben noch beschwerlicher. Langsam humple ich vorwärts und halte mich dieses Mal besser an den kantigen Felsen fest.

Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichen wir einen kleinen Vorsprung, auf dem ein grauer Wolf thront und nur bedrohlich knurrt. Doch er bleibt vorerst wo er ist.

„Warum muss ich denn hier her kommen, wenn Sira mich sehen will? Es wäre leichter gewesen, wenn sie zu mir gekommen wäre."
„Sie hat ihre Gründe", ist alles was ich von den Gestaltwandlern als Antwort erhalte.

Ein paar Minuten später erreichen wir eine Art Plateau. Zu meiner großen Überraschung befindet sich dort eine große Höhle und ein weit auslaufender Felsen, von dem aus man in das beeindruckende Tal sehen kann. In weiter Ferne ragen die Berge in den nachtschwarzem Himmel und werden von dem glitzernden Sternenzelt zugedeckt.

Also für die Aussicht hat sich schon der Aufstieg gelohnt. Trotzdem tut mein Bein weh und ich weigere mich noch einen Schritt zu gehen. Zudem schauen mich einige gelbe Augen misstrauisch an. Ich kann nicht mehr zählen wie viele Wölfe um mich herum sind.

„Ihr solltet sie nicht verletzen", tadelt eine ältere Frau mit fast silbernen Haaren. Sie ist echt schön. Sofort weiß ich, dass sie Sira sein muss.

„Das ist nicht ihre Schuld", sage ich ehrlich und setze mich auf einen Stein, um mein etwas blutendes Bein zu entlasten. Wieso ergreife ich eigentlich Partei für sie?
„Tut mir leid."
Sie meint es wohl ehrlich. Doch das hilft mir auch nicht gegen die Schmerzen.

„Von wegen", entgegne ich ihr ablehnend. „Ihr wärt doch froh, wenn ich aus Versehen bei einer Kletterpartie ums Leben komme. Doch dann wird Eron euch die Hölle heiß machen, das verspreche ich euch."
„Keine Angst, Mensch, mein Neffe ist schon auf dem Weg hier her. Er hat dein Blut gerochen."
Hat sie mich deshalb entführt? Um Eron eine Falle zu stellen?
„Wagt es nicht ihm etwas anzutun!", motze ich voller Sorge.
„Ich habe nicht vor Eron etwas anzutun. Ganz im Gegenteil, ich will ihn beschützen."

„Ach ja? Ihr habt ihn doch ausgestoßen, oder irre ich mich?"
Sira lacht höhnisch und stemmt den Arm in die Seite.
„Hat Eron dir das erzählt? Das ist nicht wahr. Mein Neffe hat uns vor fünf Jahren aus eigenem Antrieb verlassen."
„Und warum?"
„Sagen wir...unsere Ansichten gehen etwas auseinander. Jedenfalls war es seine Entscheidung zu gehen. Ich habe ihm lediglich verboten wieder zu kommen."

Ich mache einen verächtlichen Laut und befreie die Wunde von den zerrissenen Jeansstücken. Das brennt höllisch.

„Ich glaube dir nicht."
„Warum sollte ich lügen? Ich hätte davon keinen Vorteil."
„Und was willst du dann von mir?"
„Eron scheint sehr viel Wert auf deine Gesundheit zu legen und ich wollte einfach wissen warum."

Die anderen Wölfe um uns herum werden unruhig.
„Er ist hier", sagt der dunkelhaarige Mann, der mich aus der Wohnung entführt hat.
„Ich wusste er würde mich nicht lange warten lassen", meint Sira mit einem zufriedenen Lächeln.
Mein Blick wandert zur Seite auf den steilen Pfad, dem ich zuvor gefolgt bin.
Zwischen den einzelnen Tannen erscheint der schwarze Wolf. Vorsichtig tritt er voran und hält bedrohlich den Kopf gesenkt.

„Wie ich sehe willst du deine Drohung wahr machen, da du dich in dieser Gestalt zeigst."
Sira lächelt immer noch, doch Eron knurrt so ernst, dass selbst ich Respekt vor ihm bekomme. Er wirkt unheimlich wütend. Er keift die Wölfe in meiner Nähe an und sie weichen etwas von mir zurück.
Dann sieht er mich an und anschließend mein verletztes Bein. Er kommt zu mir.
Ich erschrecke richtig, als seine warme Zunge das Blut ableckt.

„Eron! Was soll das?", rufe ich peinlich berührt und versuche ihn sanft wegzudrücken.
„Lass ihn!", unterbricht mich Sira mit einem jetzt ernsteren Gesicht. „Er reinigt deine Wunde."

Er macht was? Mir ist das viel zu unangenehm. Doch ich lasse ihn einen Augenblick gewähren, bis er sich wieder Sira zuwendet und sie erneut anknurrt.
„Ich fasse es einfach nicht, dass dir ein Mensch so wichtig ist."
Von dem schwarzen Wolf kommt nur ein noch lauteres Knurren, vermischt mit einem rauen Bellen. Ich zucke kurz zusammen. Wird er so weit gehen seine Tante anzugreifen?

Sira geht zwei Schritte zurück. Derweil eilen drei jüngere Wölfe, die noch um einiges kleiner sind als Eron aus der Höhle und stellen sich zwischen Sira und den wütenden schwarzen Wolf.
Ein leises Fiepen des kleinsten rötlich-braunen Wolfes besänftigt Eron tatsächlich. Er wendet sich ab und kommt wieder zu mir. Als wollte er mich als seinen Besitz erklären, legt er sich murrend auf mein Bein.

Erst zische ich, weil es weh tut. Dann entspanne ich mich unter dem warmen Körper und dem weichen Fell.
„Ich bin erleichtert, dass dir deine Brüder nicht egal sind", sagt Sira und verengt die Augen. „Was tust du nur, Eron? Sie ist ein jämmerlicher und egoistischer Mensch."

„Und als solcher hat sie kein Recht zu leben?", grummelt jemand neben mir.
Plötzlich hockt Eron als Mensch neben mir und hält nur seine Hand auf mein Schienbein. Das fühlt sich so komisch an, gleichzeitig auch beruhigend. Ich habe das Gefühl er zieht den Schmerz aus meinem Bein.

„Sie soll leben", antwortet Sira harsch. „Doch wo anders. Das ist unser Wald, unser Zuhause. Sie gehört hier nicht hin."
„Entschuldige mal", werfe ich ein, „wer hat mich denn hier hin geschleppt?"
Sira schenkt mir einen mörderisch bösen Blick, der mich sofort zum Schweigen bringt.

„Du bist nur hier, weil ich wissen wollte wie weit Eron bereit ist für dich zu gehen. Sag mir, Junge, wärst du bereit deine Familie umzubringen, nur um diesen Menschen zu schützen?"
„Wie kannst du ihm diese Frage stellen? Ihr seid immer noch seine Familie. Er liebt euch. Also zwingt ihn doch nicht eine Wahl zu treffen."
„Du hast ja keine Ahnung!", ruft Sira laut. „Du weißt nichts über seine Familie und über ihn selber. Eigentlich sollte Eron die Menschen mehr hassen als jeder andere von uns."

„Hör auf damit, Sira. Nisha hat nichts mit alledem tun. Also zieh sie da nicht mit hinein", bittet Eron fast schon etwas gequält.
„Du hast sie in den Wald gebracht. Du hast sie bereits in dein Geheimnis eingeweiht, also erzähle ihr auch die ganze Wahrheit und nicht halbe Lügen. Erzähle ihr, dass du uns damals freiwillig verlassen hast und warum."

„Hör endlich auf damit. Sie hat weder mit Lambert zu tun noch mit euch."
„Und warum beschützt du sie dann?"
Eron lässt ab von meinem Bein und stellt sich Sira gegenüber.
„Weil ich es leid bin, dass ständig Unschuldige sterben!", ruft er aufgebracht. „Nisha ist nicht so wie die andern Menschen. Sie versteht die Tiere, sie schätzt die Pflanzen und sie hat eine Verbindung zum Wald, die selbst ich nicht verstehen kann. Es ist ihr nicht egal was dort draußen passiert."

„Sie hat doch keine Ahnung, was passiert. Sag es ihr endlich, Eron!"
Mein Blick wandert zwischen beiden hin und her. „Sag es ihr, damit ich sehen kann wie groß ihr Verständnis wirklich ist."

Eron zögert. Auf seinem Gesicht bildet sich wieder dieser traurige Gesichtsausdruck. Als Mensch sehe ich es noch deutlicher.
Sira lässt ihn stehen und kommt zu mir.
„Ich will dir etwas zeigen."
Sie hilft mir aufzustehen und führt mich von der Höhle weg über die Anhöhe. Ich hoffe, dass Eron uns begleitet, doch er bleibt wo er ist.

Ich sehe immer wieder über die Schulter, als ich zwischen den Tannen hindurch humple. Merkwürdiger Weise geht es meinem Bein besser. Ich bekomme nur keine Zeit mich damit zu beschäftigen.
Wir erreichen die andere Seite des Felsens und stehen plötzlich vor einem Abgrund.
Sira packt meinen Arm und zieht mich genau bis zum Rand des Felsens.
„Sieh dir die Wahrheit an!", befiehlt sie mir und deutet hinunter ins Tal.

Ich folge ihrer Aufforderung und senke den Blick. Entsetzt halte ich die Luft an. Meine Augen weiten sich und starren auf das furchtbare Bild unter mir.

Der gesamte rechte Teil des Waldes bis hinter die ersten kleinen Berge ist komplett abgeholzt. Nein sogar abgebrannt. Ich sehe in der Ferne grelle Scheinwerfer, die ihr Flutlicht auf eine Gruppe von gelben Fahrzeugen strahlen. Das sind gigantische Maschinen, die den Wald roden. Doch nicht nur die Maschinen töten den Wald hektarweise. Anscheinend verbrennt man das lästige kleine Gehölz vorab, um die Arbeit für die Maschinen zu erleichtern.

Rauch steigt auf in den noch eben so klaren Himmel. Er verdeckt die Sterne und wird von den Flammen in ein unheimliches orangenes Licht getaucht.
Ich spüre einen stechenden Schmerz in der Brust und fasse mir ans Dekolleté. 

Das ist schrecklich. So unsagbar schrecklich. Ich will nicht wissen wie viele Tiere in diesem Feuer stündlich umkommen. Mein Herz wird so schwer, dass es mich hinunter auf den Boden zieht.

Als ich zu Sira aufsehe, starrt sie mich fragend an. Meine Reaktion hat sie wohl nicht erwartet.
„Das ist Lamberts Werk. Er vernichtet den Wald, um dort mehr Platz für Häuser zu schaffen", erklärt sie ruhig.
„Kann man das nicht verhindern?", frage ich, als der Schmerz in der Brust langsam abklingt.
„Das haben wir versucht. Dabei haben wir mehr verloren, als du dir vorstellen kannst", sagt Sira mittlerweile auch etwas ruhiger. „Ich erzähle dir, wie alles begann..."

Es begann vor vielen Jahren, als die Menschen anfingen Allmende zu bauen. Die Stadt wuchs und mit der Zeit kamen mehr Menschen. Eines Tages kamen die Leute von Lamberts Firma und streiften durch den Wald.
Wir dachten uns nichts weiter dabei. Warum sollten wir auch. Wir hatten bis dahin nichts mit den Menschen zu tun. Bis sie eines Tages ihre Maschinen anrollten und anfingen alles zu roden.

Entsetzt darüber suchten einige Gestaltwandler das Gespräch mit den Menschen. Da sie sich in menschlicher Gestalt zeigen konnten, hatten sie die Möglichkeit für die Tiere zu sprechen.
Doch ihre Worte wurden abgelehnt und sie zum Teufel geschickt. Viele Male sind auch wir Wölfe zu den Arbeitern gegangen und haben versucht mit ihnen zu reden. Jedes Mal wurden wir enttäuscht.

Wir fühlten uns hilflos und wütend. Der Zorn verbreitete sich besonders unter den jungen Wölfen. Einer hatte sich nicht gut im Griff und verwandelte sich vor den Menschen in seine Tiergestalt. Von diesem Moment an, war alles anders.

Aus Angst vor diesem komischen Wesen eröffneten die Menschen das Feuer auf ihn. Er kämpfte um sein Leben und riss dabei einige von den Arbeitern in den Tod. Daraufhin holten sich die Arbeiter Verstärkung, indem sie Söldner und stärkere Waffen unter der Führung von Lambert in den Wald schickten. So viele unserer Freunde mussten damals sterben. Wer nicht erschossen wurde, erlag letztendlich den Flammen.

Mein Bruder, Erons Vater, hat dieses Leid irgendwann nicht mehr ertragen. Damals war er unser Familienoberhaupt und ein stolzer und ehrenvoller Wolf. So führte er uns mutig in den Kampf gegen diese Mörder.

Wenn ich gewusst hätte, was uns erwartete, hätte ich ihm damals davon abgeraten. Doch ich war selbst gefangen in meiner Wut.
So konnte ich ihn nicht aufhalten und musste dabei zusehen, wie er von dutzenden Kugeln niedergeschossen wurde. Ich konnte Eron gerade noch vor dem gleichen Schicksal bewahren, doch für seinen Vater war es zu spät.

So mussten wir unser Heil in der Flucht suchen und dabei zusehen wie sie mit ihren Maschinen einfach über die toten Wölfe gerollt sind und sie in den Boden gedrückt haben. Ich sehe heute noch die in Blut getränkte Erde und das beängstigende Feuer, dass uns bis in die Berge vertrieben hat.

Wie gefesselt habe ich Siras Erzählung gelauscht und nicht gewagt einen Mucks von mir zu geben.
Eine Träne, glitzernd wie der Abendstern, löst sich aus ihrem Augenwinkel und läuft langsam über ihr blasses Gesicht.

Auch aus meinen Augen kullern heiße Tränen und tropfen lautlos auf den grauen Steinboden, wo sie feuchte Abdrücke hinterlassen.

„So hat der Krieg vor fünfzehn Jahren begonnen. Nein, eigentlich schon eher. Dieser Konflikt zwischen Mensch und Natur zieht sich über die gesamte Welt und besteht schon länger als fünfzehn Jahre. An manchen Orten ist er schon beendet und an anderen fängt er gerade erst an."
Sira macht eine Pause und sieht wieder ins Tal hinaus.

„Nach diesem Niederschlag haben wir eine Grenze zu den Menschen gezogen und verhindert, dass sie unseren Wald betreten. Wir haben sie weitestgehend in Ruhe gelassen, so lange sie uns in Ruhe gelassen haben. Allerdings gilt das nicht für die Maschinen, die den Wald zerstören. Trotzdem wollten wir wenigstens die Leute aus Allmende fern halten. Doch jeder, der die Grenze überschreitet und in den Wald geht, darf angegriffen werden. So haben wir es vor Jahren beschlossen."

„Hat Eron deshalb die letzten Jahre über die Menschen davon abgehalten in den Wald zu gehen?"
Sira nickt.
„Genauso wie er jedes Tier und jeden Gestaltwandler davon abgehalten hat in die Stadt zu gehen", erklärt Sira seufzend. „Eine Zeit lang traute sich niemand mehr in den Wald. Doch neuerdings werden Lamberts Männer forscher und kommen uns immer näher. Sie töten einfach die Tiere im Wald. Das kann ich auf keinen Fall dulden."

In diesem Moment wird mir erst klar, welch eine Bürde Eron die ganze Zeit zu tragen gehabt hat. Mein Herz wird noch schwerer, als ich begreife was Eron all die Jahre ertragen musste. Die Menschen in Allmende hassen ihn, sie tun so furchtbare Dinge und trotzdem beschützt er sie. Er steht zwischen allem, hat so Grausames erlebt und zeigt dennoch wahre Stärke.

Mühsam hieve ich mich auf die Beine und laufe los. Ich gehe so schnell mich mein verletztes Bein voran kommen lässt. Ich achte nicht auf Sira oder die anderen Wölfe, die mich überrascht über mein Verhalten anknurren.

Zielstrebig gehe ich auf Eron zu, der noch immer bei den jungen Wölfen steht.
Ich bremse nicht vor ihm, sondern lege leicht schluchzend meine Arme um seine Schultern.

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