17. 𝑾𝒂𝒓𝒏𝒖𝒏𝒈𝒆𝒏
(Ein Tag später)
Die Neuigkeiten sind bestürzend. Sira hat Richards Tod natürlich nicht einfach so hingenommen. Auch wenn er nicht in ihr Revier gehört, als Familienoberhaupt muss sie etwas unternehmen.
Eron hat befürchtet, dass etwas passiert. Er hat es gespürt, auch ohne Verbindung zu den anderen. Sein Instinkt hat ihn nicht getäuscht. Deshalb sind furchtbare Dinge geschehen...
Sie hat viele Wölfe dazu angestiftet in die Stadt Allmende einzufallen und dort Menschen anzugreifen. Leider die Falschen. Diese toten Menschen sind unschuldig. Einige davon kannten Lambert nicht einmal. Genau so etwas hat Eron befürchtet. Es sind immer die Unbeteiligten, die in so einem Krieg leiden müssen.
Doch Sira wollte sich rächen. Da sie gegen Lamberts Söldner mit einer Hand voll Wölfen nichts ausrichten kann, hat sie ihren Zorn an den Bewohnern von Allmende ausgelassen.
So wird der Kampf niemals ein Ende finden.
Es macht Eron traurig. Vor allem, weil er dieses Mal weg gelaufen ist, anstelle etwas zu unternehmen. Einerseits hat er es für Nisha getan. Andererseits ist er es vielleicht auch leid zwischen den Fronten zu stehen.
„Wie viele?", fragt Jaques neben ihm.
„Sechs", antwortet Eron knapp und verschränkt die Arme.
Sein Freund schüttelt den Kopf und schaut etwas gequält auf die vielen Menschen vor sich. Auch als Gestaltwandler kann sein Freund dieses Grauen nicht gut heißen.
Lambert macht auf dem Marktplatz einen großen Aufstand. Seine Stimme hallt wie ein Echo von den Hauswänden wieder und dringt selbst in den entferntesten Winkel der Stadt. Zumindest hört es sich für Eron so an.
„Ich habe euch ja gewarnt. Sie kommen bei Nacht und holen eure Frauen und Kinder."
So ein Blödsinn. Er macht sich nur wichtig. Er will die ganze Stadt aufhetzen. Wenn das so weiter geht, wird sich bald niemand mehr um den Wald sorgen. Alle werden froh sein ihn loszuwerden.
„Diese verfluchten Bestien. Doch seid ohne Sorge, meine Freunde. Wir werden eine Mauer bauen, die euch vor diesen Ungeheuern schützen wird. Des Weiteren werde ich meine Freunde aus dem Süden herbei rufen. Zusammen können wir die Wölfe und alle anderen Bestien von hier vertreiben."
Von wegen vertreiben. Er will sie doch eh alle tot sehen und mit Freunden meint er eigentlich bezahlte und schwer bewaffnete Söldner. Eron kennt das Spielchen schon.
„Das hört sich ganz nach einer Treibjagd an", grummelt Jaques unbequem.
Eron antwortet nicht. Mit finstererer Miene starrt er auf Lambert, der stolz die Brust heraus streckt und sich dabei an der glänzenden Weste festhält, an der wie immer seine Taschenuhr funkelt.
„Ohne mich. Da sehe ich lieber zu eine Weile wo anders unter zu kommen."
Eron kann Jaques verstehen. Er hält genauso wenig von Kämpfen. Er würde sich im Wald zwar verteidigen, doch er hasst solche Jagden.
„Du tust vielleicht besser daran."
„Warum kommst du nicht mit mir, Eron? Du musst es doch mal leid sein ständig für andere einzustehen. Was hält dich denn noch hier?"
Das ist eine gute Frage. Bisher hat ihn immer seine Überzeugung in Allmende gehalten. Die Überzeugung das Richtige zu tun. Doch im Wald gilt er als Verstoßener und bei den Menschen ist er auch ein Außenseiter.
Sind es diese offenen und ehrlichen Augen dieses einen Menschen, der so viel für Eron übrig hat? Er kann Nisha nicht in diesem Chaos alleine lassen. Sie hat nichts mit alledem zu tun.
Sie ist der einzige Mensch, der ihm Zuneigung statt Ablehnung gibt und Eron kann das nicht komplett ignorieren.
„Lohnt es sich denn wirklich für einen Menschen sich weiterhin in Gefahr zu begeben?"
Jaques hat seine Gedanken erraten.
„Sie ist kein gewöhnlicher Mensch. Ich habe das Gefühl, dass sie noch eine wichtige Rolle spielen wird. Nur habe ich keine Ahnung was das bedeuten mag."
„Manchmal sprichst du in Rätseln, mein Freund."
Eron stöhnt.
„Ich weiß, ich verstehe mich ja manchmal selbst nicht. Doch kann ich nicht einfach verschwinden und so tun als wäre mir alles egal."
„Wieso kümmern dich diese Menschen? Sie haben dir nichts gegeben, du schuldest ihnen gar nichts", behauptet Jaques eindringlich.
„Das ist korrekt. Doch kann ich das Gleiche auch über den Wald sagen. Was haben die Tiere dort jemals für mich getan?"
Darauf hat der Bär keine Antwort. Eron hat ja selbst keine. Er ist hin und her gerissen und wie immer hilflos.
„Mach was du für richtig hältst. Ich weiß nur eins. Ein Sturm braut sich in Allmende zusammen. Sira versammelt ihre Anhänger und Lambert holt sich ebenfalls Verstärkung. Ich sage dir, bald wird es ungemütlich. Sie du nur zu, dass dich deine Vergangenheit nicht einholt."
Damit klopft Jaques ihm auf die Schulter und lässt ihn alleine.
Wird sich das Grauen noch einmal wiederholen? Erons Kopf fühlt sich an, als würde jemand mit einem Bohrer hinein bohren. Gleichzeitig zieht sich seine Brust schmerzlich zusammen.
Nein, das darf nicht noch einmal geschehen. Er muss seine Familie beschützen. Er muss Nisha beschützen. Er kann auf keinen Fall einfach abhauen.
„Seid also ohne Furcht, meine Freunde. Schon sehr bald kommen meine Männer hier an. Sie werden sich um die Sicherheit der Stadt kümmern und ich werde gleich morgen mit den Bauarbeitern die Baupläne erarbeiten."
Lamberts Stimme hallt über den Marktplatz und bekommt Zuspruch von den Leuten, indem sie begeistert in die Hände klatschen.
Er will eine Mauer bauen. Soll er machen. Doch Eron weiß, dass das nicht Lamberts eigentliche Intention ist. Er hat jetzt einen Vorwand seine Maschinen nach Allmende zu bringen. Das ist für Eron zu nahe. Viel zu nahe. Lambert weiß was Eron zu beschützen versucht und wird alles an Waffen und Männern einsetzen, um es zu zerstören.
Der Mistkerl beendet seine Ansprache und geht durch die Menge genau auf Eron zu. Natürlich hat er ihn gesehen.
Ein vielsagendes und sicheres Grinsen liegt auf seinen schmalen Lippen, als er auf den jungen Wolf zugeht.
Er bleibt einen Meter vor Eron stehen und schaut ihm direkt in die Augen.
„Schon bald werden du und deine Freunde in die Geschichte eingehen. Doch vorher landet ihr noch im Museum."
Eron gehört nicht zu den Männern, die bei so einer Provokation Ruhe bewahren und mit Vernunft antworten. Das wilde Blut in seinen Adern beginnt zu brodeln. Genauso muss es auch damals gewesen sein, bei diesem jungen Wolf.
Es liegt in der Natur der Wölfe so zu reagieren. Es scheint, als würde Lambert das wissen und ihn absichtlich provozieren. An dieser Stelle siegt auch die Wut über die Vernunft und abermals verspürt Eron das Bedürfnis zu kämpfen.
„Ich warne dich, Lambert, wenn du es drauf anlegst, wirst du schon bald meine Antwort darauf erhalten. Du hast doch gesehen was passiert, wenn ihr zu weit geht. Du hast Richard auf dem Gewissen. Glaubst du wirklich, dass das einfach so durchgeht?"
„Ich wusste was ich tue als ich ihm eine Kugel verpasste. Wenn sich deine lieben Freunde weiterhin auflehnen und Menschen töten, habe ich wenigstens einen guten Grund euch alle abzuknallen."
Eron kann kaum seine Wut bändigen. Grummelnd packt er Lambert am Kragen.
„Versteck dich lieber, Bastard, bevor ich dir alle Knochen breche."
Das ist eine Drohung, die Eron nicht so leichtfertig aussprechen sollte. Eigentlich hat er sich geschworen diesem Kampf aus dem Weg zu gehen.
Zwei von Lamberts Männern sehen die Szene und wollen einschreiten, doch Lambert hebt die Hand und sie halten sich zurück.
„Ich warne dich ein letztes Mal. Sollte wieder jemand deinetwegen sterben, dann mach ich dir die Hölle heiß."
Lambert lächelt noch breiter, als ob ihn diese Warnung überhaupt nicht kratzen würde. Dabei sollten ihm die Knie schlottern. Immerhin weiß er wer vor ihm steht.
Er greift an Erons Handgelenke und bringt sein Gesicht nahe an dessen Ohr.
„Pass du lieber auf, dass ich dich nicht einfange. Es wäre interessant alle deine Geheimnisse zu lüften, Gestaltwandler", flüstert er bedrohlich.
Eron kann noch so wütend aussehen, Lambert lässt sich nicht einschüchtern. Das bringt Eron noch mehr zum kochen.
Ruckartig lässt er ihn los und kehrt ihm den Rücken zu. Er muss hier weg, bevor er sich aus der Wut heraus vor all den Leuten in einen Wolf verwandelt.
Er rennt los, so schnell er kann, rennt er aus der Stadt raus in den Wald. So bald er außer Sichtweite der Menschen ist, nimmt er seine tierische Gestalt an.
Sein Ziel ist klar: Er wird seiner Tante einen Besuch abstatten.
Er läuft geschwind durch den dichten Tannenwald, bis er immer lichter wird und Eron bald die Felsen erreicht. Schon ist er in den Bergen.
Hoch oben zwischen den rauen Felswänden hat Sira ihr Versteck. Eine große Höhle dient als Unterschlupf. Ein paar der Wölfe halten Wache und knurren ablehnend, als Eron an ihnen vorbei läuft. Allerdings würden sie es nicht wagen ihn aufzuhalten. Dafür haben sie zu viel Respekt vor ihm.
Vor der Höhle versammeln sich in etwa zwanzig Wölfe mit unterschiedlichsten Fellfarben und mustern ihn nur argwöhnisch. Um den Höhlenfelsen herum wachsen dichte Sträucher und vereinzelte Tannen ragen ihre kargen Spitzen in den Himmel.
Als Sira vor den schwarzen Wolf tritt, wird es unruhig unter den anderen Wölfen.
Die schneeweiße Wölfin baut sich eindrucksvoll vor Eron auf.
Da er auf einen Kampf mit ihr verzichten möchte, nimmt er seine Menschenform an. Nun ist er wehrlos ihr gegenüber.
Sie kommt ihm entgegen und tut es ihm gleich. Ihre hellen Augen fixieren ihn erwartungsvoll und sie stemmt arrogant die Hand in die Seite. Ihre silbernen Haare sind zu einem lockeren, zerzausten Zopf geflochten, der ihr vorne über die Schultern fällt. Ein buntes Band schmückt ihre Stirn und ihre mit kleinen Federn bestückten Ohrringe wackeln bei der kleinsten Bewegung.
Darüber hinaus trägt sie nur eine halblange beige Hose und ein weites Oberteil, das ihr fast bis zu den Knien reicht.
„Ich wusste, dass du herkommen würdest, Eron", sagen ihre vollen Lippen und verziehen sich zu einem schiefen Grinsen. Dabei zeigen sich ein paar Falten in ihrem Gesicht. In Menschenjahren gerechnet wäre sie wohl in etwa so alt wie Lambert. In Wahrheit ist sie schon viel älter.
„Bist du des Wahnsinns, Sira?", fragt Eron immer noch von Lambert gereizt.
Sie tut unschuldig.
„Wer weiß, manche behaupten das auch von dir, lieber Neffe."
Eron kann den leichten Unterton in ihrer Stimme nicht überhören.
„Was hast du nur getan?"
„Was habe ich denn getan? Ich glaube nicht, dass du mir irgendwelche Vorhaltungen machen solltest, Eron."
„Das waren Unschuldige, Sira!", schreit Eron schon fast.
„Kein Mensch ist unschuldig", antwortet Sira nun auch lauter. „Sie haben Richard getötet."
„Nein! Lambert hat sie getötet. Die Menschen, die ihr umgebracht habt, hatten nichts damit zu tun."
Sira stöhnt genervt auf.
„Es ist immer das gleiche mit dir. Wieso ergreifst du Partei für diese Monster? Sie hassen dich, quälen dich und töten unsere Freunde."
„Das gibt dir nicht das Recht sie zu töten. Wer bist du über Leben und Tod zu entscheiden?"
„Ich bin das Familienoberhaupt, Eron!", knurrt Sira ernst. „Das ist mein Revier und du hast dich damals entschieden nicht in die Pfotenstapfen deines Vaters zu treten, der für dich gestorben ist."
Das ist echt zu viel. Wie kann sie es wagen über seinen Vater zu sprechen.
Eron ballt die Fäuste. Als er aber einen Schritt auf Sira zugeht, treten knurrend die andern Wölfe vor. Er ist ein Außenstehender. Sobald er den Leitwolf bedroht, werden sie sich auf ihn stürzen.
In ihren Augen ist er nichts weiter als ein Verräter, weil er die Menschen beschützt.
„Geh zu deiner kleinen Freundin zurück. Sie wird bald das gleiche Schicksal ereilen, wie diese sechs Menschen."
„Ich warne dich, Sira. Wage es nicht Nisha anzurühren."
„Sonst was? Was willst du denn machen, Eron? Willst du gegen deine eigene Familie kämpfen?"
Eron bemüht sich von Kräften sich zu beruhigen. Er sieht Sira lange in die Augen und überlegt sich genau was er sagt.
„Wenn es sein muss, nehme ich es mit allen auf. Mit dir, mit Lambert und allen anderen auch", antwortet er ruhig und bestimmt.
„Du willst nicht mit uns gegen den Feind kämpfen, aber für einen Menschen würdest du gegen deine Familie kämpfen?", fasst Sira ungläubig zusammen.
„Ich sage es ein allerletztes Mal: Lass die Finger von Nisha und den anderen Menschen in Allmende. Ich werde sie beschützen."
Sira rümpft die Nase.
„Du bist ein Narr!"
„Mag sein, doch du bist die größere Närrin von uns beiden."
Eron dreht sich um und will gerade gehen, da spürt er Siras Hand auf der Schulter.
„Sie werden dich töten, Eron. Genauso wie meinen Bruder. Ich habe ihm versprochen auf dich aufzupassen. Ich lasse dir deinen Dickkopf, aber ich werde nicht zulassen, dass sie meiner Familie etwas antun."
„Ich dachte, ich gehöre nicht zur Familie", erwidert Eron verbittert.
„Auch wenn du uns verlassen hast, du trägst das selbe Blut in dir, wie ich."
„Ja, genau deswegen schäme ich mich."
Eron fegt Siras Hand von seiner Schulter und geht.
„Eron! Ich werde mich zügeln, doch wenn sie dir nur ein Haar krümmen, wird die ganze Stadt dafür büßen müssen."
Das ist ein Wort.
Siras Ansichten mögen sich vielleicht von seinen unterscheiden, doch sie ist immer noch seine Tante und wünscht ihm nichts Schlechtes. Deshalb fühlt sich Erons Herz auch an wie ein Stein.
Er kann sie nicht machen lassen, was sie will. Er kann aber auch nicht Lambert nach Belieben walten lassen.
Und jetzt zieht er auch noch Nisha mit hinein. Er war so froh, dass sie ihn versteht und ihm auch helfen will. Doch kann Eron es wirklich verantworten sie in Gefahr zu bringen?
Warum wollte sie unbedingt nach Allmende zurück? Sie hätten noch eine ganze Weile in der Stadt bleiben können. Dafür wäre Eron auch noch länger ein Haustier geblieben. Sie hätten sich aus allem raushalten und verschwinden sollen. Jetzt ist es zu spät für den Rückzug. Erons Warnung ist ernst zu nehmen. Sowohl Sira als auch Lambert können sich darauf verlassen, dass Eron jetzt nicht mehr nur zuschauen wird.
Sechs Menschen sind tot und das ist gewiss nur der Anfang. Das was vor fünfzehn Jahren geschehen ist, wird sich schon bald wiederholen.
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