13. 𝑫𝒆𝒓 𝒘𝒂𝒉𝒓𝒆 𝑴𝒐̈𝒓𝒅𝒆𝒓

Der Schmerz in Erons Herz ist unerträglich. Jedes Mal wenn sie ein Tier auf diese Weise töten, zerreißt es ihn innerlich.

Er gibt sich selbst die Schuld an diesem Umglück. Wäre er nicht bei Nisha geblieben in dieser Nacht, aus Angst ihr könnte etwas zustoßen, dann hätte er Richard vielleicht beschützen können. Lambert hat ihn bestimmt betäubt und dann in die Stadt geschleppt, nur ihm dann vor den Augen der Polizisten eine Kugel in den Kopf zu jagen.

Eron kann es sich bildlich vorstellen.
Wütend und verzweifelt bleibt er vor Nishas Haus stehen, geht in die Hocke und legt sich die Hände an den Hinterkopf. Am liebsten würde er schreien.

Was hält ihn denn immer noch davon ab Lambert einfach zu töten?

Einzig und allein der Wunsch nicht auch ein Mörder zu werden und damit seine Seele zu verdammen. Nur fällt es ihm in so einem Moment unheimlich schwer nicht gegen seine Vorsätze zu handeln.

Als sich eine warme Hand auf seine Schulter legt, blickt Eron hoch in Nishas trauriges und mitfühlendes Gesicht.
„Es tut mir leid, Eron."
Er erhebt sich und entfernt sich ein paar Schritte von ihr.
„Du kanntest den Wolf, nicht wahr?"

„Ja ich kannte ihn", antwortet Eron ehrlich. „Er gehört nicht zu meiner Familie und eigentlich lebt er nicht in der Nähe. Trotzdem kannte ich ihn."
„War er auch ein Gestaltwandler wie du? Und hat Lambert das gewusst?"

Eron nickt nur. Ja, Lambert weiß von Erons wahrer Natur. Er hat es vor fünfzehn Jahren herausgefunden. Für ihn, der eigentlich dreimal so lange lebt wie ein Mensch, sind fünfzehn Jahre nur ein Augenblick. Dennoch sieht man es Eron an, dass er seit fünf Jahren als Mensch lebt. Er ist sehr gealtert. Kein Wunder, dass Lambert ihn auf den ersten Blick nicht erkannt hat. Oder zumindest es so vorgegeben hat.

Doch Eron würde diesen Mistkerl überall wieder erkennen, egal wie viel Zeit verstreicht. Wie alt mag er jetzt sein? Um die Fünfzig vielleicht? Er hat sich in den vergangenen fünfzehn Jahren kaum verändert. Er hat nur ein paar Zornesfalten dazu bekommen.

„Eines verstehe ich nicht", sagt Nisha nachdenklich. „Wenn er doch weiß was du bist, warum hat er es niemandem gesagt?"
„Weil er damit einen großen Nachteil bekommen würde. Er würde nichts tun, was seine Arbeit und seine Geldquelle gefährdet."

Eron rauft sich seine dunklen und eh schon zerzausten Haare.
„Abgesehen davon müsste er das auch beweisen, sonst glaubt ihm keiner."

Nein, Lambert würde ihn eher einfangen und heimlich sezieren, als vorher ohne Beweise zu behaupten, dass es Gestaltwandler gibt. Es ist nicht so, dass er es nicht schon versucht hätte. Doch bisher kann er mit einem Gestaltwandler in seiner tierischen Form nichts anfangen. Er muss ihn als Mensch in die Finger bekommen und selbst dann wird es noch schwierig für ihn Beweise zu finden.

„Was machen wir jetzt?"
Das ist eine gute Frage. Am liebsten würde Eron Lambert den Kopf abreißen. Nur würde ihn das nicht besser machen. Er will kein Blut vergießen. Nur wie kann er den Mann anders aufhalten?
„Ich bin ratlos, Nisha. Ich versuche seit fünf Jahren Hilfe zu finden, doch niemand versteht mich. Alle schimpfen über die Tiere, die Menschen töten. Doch den wahren Mörder wollen sie nicht sehen."

„Ich glaube dir, Eron. Nach allem was ich gesehen habe, kann ich dir nur glauben. Außerdem sagt mir mein Instinkt, dass Lambert ein Fiesling ist."

Sie wäre wirklich der erste Mensch, der ihm glaubt.
„Ich bin sehr froh darüber", antwortet er mit einem Lächeln.
Als sie es erwidert, steigt ein ungewohntes Gefühl der Wärme in ihm auf. Sie meint es aufrichtig. Er spürt ihre Zuneigung. Eron kann es sich noch nicht erklären, dennoch ist es irgendwie erleichternd und bringt ihn dazu diesem Menschen, dieser Frau, zu vertrauen.

„Ich will dich verstehen, Nisha."
Sie legt verwirrt den Kopf schief.
„Tust du das immer noch nicht?"
„Ich bin nicht sicher."
Sie wirkt leicht enttäuscht, überspielt es aber mit einem Lächeln.
„Schon gut. Vertrauen wächst nicht auf Bäumen, oder wie war das?"
Eron nickt. Anschließend deutet er aufs Haus.
„Geh hinein. Du siehst müde aus."
„Du solltest dich auch ausruhen. Es bringt nichts sich die Nacht um die Ohren zu hauen, weil du dir Sorgen machst. Du kannst für den Wolf jetzt nichts mehr tun."

„Vielleicht doch."
Sie legt wieder den Kopf schief.
„Eine Sache ist da noch. Das macht ihn zwar nicht wieder lebendig, aber es macht seinen Tod etwas erträglicher."
Nisha versteht ihn nicht. Kein Wunder. Nur ist es nicht an der Zeit darüber zu reden. Morgen ist auch noch ein Tag.
„Geh schlafen. Morgen kannst du mir helfen."
„Wirklich?"
Der Gedanke ihm zu helfen, scheint sie zu begeistern.
Eron nickt wieder.
„Ich freue mich."
Das weiß er.


~



Trotz des Lächelns, sehen seine Augen traurig aus. Ich erkenne seine Verzweiflung und die Hilflosigkeit. Ich möchte ihm so gerne helfen. Was hat er nur vor?

Wäre ich nicht so müde, hätte ich direkt danach gefragt. Doch mein Körper schreit nach Ruhe. Also gehe ich zurück in meine Wohnung und schlüpfe ins Bett. Kaum liege ich auf dem großen Kissen, sinke ich in einen erholsamen und traumlosen Schlaf und wache nicht vor Zehn Uhr am nächsten Morgen auf.

Nach einem üppigen Frühstück und einer kalten Dusche öffne ich die Balkontür und freue mich über das schöne Wetter. Kaum zu glauben, was letzte Nacht geschehen ist. Das wirkt wie in weiter Ferne, wie ein Traum, der leider zur bitteren Realität geworden ist.

„Guten Morgen!"
Ich erschrecke etwas über den unerwarteten Gruß von nebenan.
Eron steht auf seinem Balkon und lehnt lässig an der Wand.
Ihm sieht man die wenigen Stunden Schlaf nicht an. Wie kann man nur rund um die Uhr so gut aussehen?
Seine Haare sind noch feucht von der Dusche und fallen ihm strähnig ins Gesicht. Sein helles Shirt hängt ihm locker am Körper.

„G-Guten Morgen", grüße ich verlegen zurück. „Bist du schon lange wach?"
Eron schüttelt den Kopf.
„Oder hast du gar nicht geschlafen?"
Sein leichtes Schmunzeln lässt vermuten, dass ich richtig getippt habe. Hat er sich etwa die ganze Nacht den Kopf zerbrochen?
Ich bin auch traurig, dass der Wolf - oder Gestaltwandler - so sterben musste. Eron scheint es noch mehr mitzunehmen. Vermutlich kann ich mir nicht einmal ansatzweise vorstellen wie er sich fühlt.

Stimmt, meine Eltern habe ich praktisch nie kennen gelernt. Ich kann mich nicht mal an den Krieg in Syrien erinnern. Ich bin bei einer freundlichen Familie groß geworden, mit den besten Zieheltern der Welt. Ich kenne das Gefühl von Verlust nicht.

„Sag mal...", beginnt er leise, „willst du gar nichts dagegen machen?"
Wogegen?
Er schaut kritisch auf die zerzauste Wolle auf meinem Kopf. Oje, wie peinlich. Ich hätte mir die Haare waschen sollen. Allerdings würden sie dann noch schlimmer aussehen.
Ich grinse immer noch verlegen und schaue bewusst weg.

„Du solltest das nicht so lassen. Ich weiß wie unangenehm Knoten im Fell sein können."
Ich vergesse immer, dass er gar kein Mensch ist. Er kann mich vermutlich sehr gut verstehen mit meinem Haarproblem.
Schnell husche ich nach drinnen, suche ein Haargummi und binde meine Mähne zu einem Knäuel zusammen. Problem gelöst!
Eron schüttelt amüsiert den Kopf.

„Du wirst mir mit jeder Minute sympathischer."
Dieses Geständnis habe ich jetzt nicht erwartet. Doch ehe ich etwas darauf erwidern kann, löst er sich von der Wand und beugt sich über die Brüstung zu mir herüber.
„Lass uns in den Wald gehen, Nisha."
Wie bitte? Sonst sagt er immer ich soll nicht in den Wald.

Also mehr überraschen kann er mich heute nicht. Ich spüre meine Wangen erröten und mein Herz macht einen Satz.

Eine halbe Stunde später spazieren wir durch die gelben Felder auf den Wald zu. Ich bereue es mir keine kurze Hose angezogen zu haben, wie Eron. Mir ist viel zu warm. Andererseits können mich so auch nicht die Sträucher an den Beinen kratzen.
Ihm scheint das nichts auszumachen. Als Wolf ist er wohl abgehärtet. Ein Blick auf seine starken Waden bestätigt die Annahme.

Als wir ein paar Meter durch den Wald gegangen sind, bleibt Eron auf einer kleine Lichtung stehen und sieht hinauf in die Baumkronen der gigantischen Eichen.
„Zaza?", ruft er laut.
Die einzige Antwort kommt von den zwitschernden Vögeln.
„Komm her, Zaza."
Eron wartet einen Moment. Dann stemmt er ungeduldig die Arme in die Seiten.
„Sie tut dir nichts!"

Einen Augenblick später höre ich ein leises Quieken oder eher ein Schnalzen. Dann hüpft ein rotbraunes Eichhörnchen mit braunen Augen und einem langen wuscheligem Schwanz auf Erons Schulter. Wo kam es denn her?

„Da bist du ja. Zaza, ich möchte dir meine Freundin Nisha vorstellen."
Eron dreht sich wieder zu mir um und das kleine Tier auf seiner breiten Schulter starrt mich lange an.
Hat er mich gerade als seine Freundin bezeichnet. Meine innere Sonne geht auf.

Zaza zuckt ein paar Mal mit der Nase hin und her und beobachtet mich misstrauisch.

Ich nicke grüßend und lächle freundlich. Ich habe keine Ahnung, wie ich sein Vertrauen gewinnen kann. Mutig strecke ich die Hand aus.
„Sie ist nicht wie die anderen Menschen. Also ich vertraue ihr. Dann kannst du das auch, Zaza."
Zaza schaut erst zu Eron, dann wieder zu mir. Zögerlich springt das kleine Eichhörnchen von Erons Schulter und läuft auf mich zu.

Wenn Eron in seiner Tiergestalt gewesen wäre, hätte das ein lustiges Bild ergeben. Er der düstere und gefährliche Wolf, auf dessen Rücken ein niedliches und unschuldiges kleines Eichhörnchen sitzt. Fehlt nur noch die Nuss in der Hand.

Ich hocke mich hin, um den kleinen Ding mein Gesicht näher zu bringen. Erneut sieht Zaza skeptisch zu Eron. Sein Gesicht ist so ausdrucksvoll. Es ist auf keinen Fall ein ganz normales Tier. Ich kann fast fühlen, was es denkt.

„Du bist mutig genug dich bei einem Wolf auf die Schulter zu setzen, misstraust aber einem unbewaffneten Menschen?", frage ich, um Zaza zu ermutigen.
Das Eichhörnchen legt den Kopf schief, was total süß aussieht.
Es folgt ein meckerndes Qietschen und Zaza springt geschwind auf den Baum neben Eron zurück. Ich kann kaum folgen, so schnell klettert Zaza die Rinde hinauf.

„Hab ich ihn vergrault?"
Eron schüttelt den Kopf und behält seinen Freund im Auge. Kaum eine Minute später plumpst eine fette Eichel ins Gras. Zaza springt wieder vom Baum hinab und greift mit den winzigen Tierpfoten danach. Es folgt wieder ein Schnalzen und dann streckt er mir die Nuss entgegen.
Eron hebt staunend die Augenbrauen.

Ich gehe zu Zaza und nehme die Nuss vorsichtig mit zwei Fingern entgegen.
„Dankeschön! Ich weiß das sehr zu schätzen. Du musst sehr viel Nahrung für den Winter sparen. Für dich ist jede Nuss kostbar. Daher danke ich dir von Herzen für das Geschenk."

Nun sieht Eron mich an, als würde er mich zum ersten Mal sehen.
„Was?"
Findet er das lächerlich? Habe ich mich blamiert?
Er lächelt und schüttelt den Kopf.
„Habe...ich etwas falsches gesagt?"
„Nein."
„Warum siehst du mich dann so komisch an?"

„Weil du eigentlich mit so einem Geschenk nichts anfangen kannst, es aber dennoch zu schätzen weißt. Du bist einfach ein besonderer Mensch."
Zaza schnalzt bestätigend.

„Hast du mich deshalb hier her gebracht? Damit deine Freunde mich kennen lernen?"
„Auch deshalb. Doch es gibt noch einen anderen Grund."
Ich lausche gespannt und putze nebenbei das bisschen Dreck von der Nuss zwischen meinen Fingern.

„Du hast eine Verbindung zum Wald. Deshalb auch deine Träume. Der Wald hat dir gezeigt was er fühlt, indem er dir seine Probleme gezeigt hat. Du verstehst die Tiere und respektierst die Pflanzen."
Er deutet mit dem Kopf auf meine Finger, die immer noch die Eichel putzen, obwohl sie schon längst glänzt.

„Ich muss dir gar nichts beibringen. Du kannst die Tiere doch schon längst verstehen."
Er irrt sich. Ich habe Zaza gerade nicht verstanden.
„Du kannst zwar nicht mit ihnen reden, so wie ich jetzt mit dir rede. Doch zumindest kannst du dich verständigen. Genau das wollte ich dir selber und Zaza beweisen."

Er macht eine kurze Pause und schaut dann auf seinen kleinen Freund, der ihm wieder auf die Schulter klettert.

„Weißt du, Zaza ist sehr schüchtern und zeigt sich niemals vor Menschen. Geschweige denn, dass er seine menschliche Gestalt preis gibt. Er hat dir heute schon eine Nuss geschenkt, als Beweis, dass er dir vertraut. Noch nicht genug damit er sich dir zeigen würde, aber es reicht, um ihm ein Freund zu sein."

„Und wie kann ich dir damit hilfreich sein?"
„Du kannst mir helfen Lambert aufzuhalten."
Ich verstehe nicht, in wie fern ich da helfen soll. Ich mag vielleicht eine Verbindung zum Wald und zu Eron haben. Doch wie hält das diesen Mörder auf?

„Du kannst die Menschen überzeugen uns zu helfen. Sie müssen endlich verstehen, dass sie die Natur mehr schätzen müssen. Sie zerstören ihren eigenen Lebensraum und für andere Lebewesen auch."

„Glaubst du denn ich kann da überhaupt was erreichen?"
„Mehr als ich jedenfalls. Du bist noch nicht lange in der Stadt. Die meisten Leute sind dir gegenüber unvoreingenommen."

Ich würde ihm so gerne helfen. Wirklich! Nur weiß ich nicht, ob ich viel ausrichten kann.
„Wenn wir die Leute in Allmende überzeugen könnten sich gegen Lambert zu stellen, könnten wir ihn aufhalten. Soll er doch woanders sein Werk verrichten."

Eron hat recht. Je mehr Leute sich für den Wald einsetzen, desto überzeugender werden wir sein.
Allerdings wird das ein hartes Stück Arbeit.

Noch sind viele Menschen in Allmende voller Angst vor dem Wald und Schrecken vor den gefährlichen Tieren zurück. Wenn sie bloß wüssten, dass nicht die Tiere für die Menschen gefährlich sind, sondern andersherum. Man redet nur von den toten Menschen im Wald. Keiner redet von den gejagten Tieren. Wer ist hier wirklich der Mörder und wer das Opfer?
Auf beiden Seiten wurde Blut vergossen. Das muss endlich ein Ende finden. Ich werde versuchen Eron zu unterstützen.

Leichter wäre es, wenn die Menschen von den Gestaltwandlern wüssten, doch kann ich nicht darüber sprechen. Das würde meine Freunde nur in Gefahr bringen. Die Menschheit ist einfach noch nicht bereit für so viel Fantasie.

Das erinnert mich an die britischen Sci-Fi Serien in denen es immer heißt: Die Menschheit ist noch nicht bereit für den ersten Kontakt mit den Außerirdischen. In diesem Fall sind es Gestaltwandler und keine Aliens. Trotzdem fühlt es sich ähnlich an. Ich kenne nun ein Geheimnis.
Wer weiß wie viele Geheimnisse und unentdeckte Phänomene es noch auf dieser Welt gibt. Allein durch Zerstörung werden wir Menschen sie wohl nie entdecken.

Ein jeder will nur leben. Wollen Tiere und Pflanzen das etwa nicht?
Ich will leben, Eron will leben, Zaza will leben, diese große Eiche neben uns will auch nur leben und ihre Blätter im Sonnenlicht baden. Müssen wir dafür um Erlaubnis bitten?

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