Es ist wohl verständlich, dass ich in dieser Nacht kein Auge zubekomme. Allein der Gedanke daran, dass ein Wolf nebenan wohnt, macht mich nervös. Allerdings nicht aus Angst, eher aus Neugier.
Während ich mich unruhig auf der Matratze wälze, überlege ich ob er mich wohl hören kann? Wie gut sind seine übermenschlichen Sinne durch Wände und Türen?
Ich schüttle meine Gedanken ab und drehe mich auf den Bauch. Mein Gesicht vergrabe ich im Kissen und stöhne genervt. Der Schlaf will einfach nicht kommen.
Gegen Drei Uhr stehe ich auf, weil ich es leid bin darauf zu warten endlich schlafen zu können, während mich ständig meine Gedanken überrollen.
Nachdenken kann ich auch, wenn ich auf bin. Also mache ich mir einen Kaffee und schalte alle Lampen im Wohnraum an. Es ist zwar eigentlich nicht hell genug für Künstleraugen, aber trotzdem baue ich meine Staffelei auf und bereite ein paar Farben vor. Was soll ich auch sonst machen um diese Uhrzeit? Fernsehen und Radio wären zu laut und raus gehen möchte ich im Dunkeln nicht.
Wobei ein wenig frische Luft nicht schaden könnte. Also mache ich noch die Balkontür auf und genieße die Kühle Brise, die mir entgegen weht.
Im selben Moment bemerke ich eine Gestalt einige Meter vor dem Haus.
Ein Junge, nicht älter als sechzehn steht dort und schaut zu mir hinauf. Er trägt kurze Hosen und ein zerrissenes Sweatshirt mit Kapuze, die er sich über den Kopf gezogen hat. Dennoch erhellt das Licht der Straßenlaterne sein Gesicht.
Was macht ein Kind um diese Uhrzeit noch hier draußen? Es ist mitten in der Nacht.
Der Junge sagt nichts und rührt sich auch nicht. Erst als ich neben mir etwas flattern höre, wende ich meinen Blick von dem Jungen ab und schaue zu Erons Balkon hinüber. Vor Schreck hätte ich mich fast verschluckt. Die gesamte Balkonumrandung ist voll mit schwarzen Krähen.
Wieso bemerke ich sie jetzt erst?
Als ich die Tür geöffnet habe, hätte ich sie hören oder sehen müssen. Es ist, als wären sie vorher nicht dort gewesen.
Wie merkwürdig.
Ich sehe wieder zu dem Jungen hinunter, der plötzlich direkt unter meinem Balkon steht. Auch das habe ich nicht bemerkt. Wann ist er dorthin gegangen?
Das ist echt unheimlich.
„Verschwinde, Toulouse, du machst ihr Angst."
Das ist Eron, der in diesem Moment hinaus auf seinen Balkon tritt.
Er kennt den Jungen also. Doch wer ist das?
„Eron, du musst nach Hause kommen. Sira will mit dir sprechen."
„Und warum kommt sie dann nicht selbst zu mir?"
„Sie fürchtet du könntest ihre Absicht falsch verstehen und denken, dass sie hinter ihr her ist."
Meint er mich damit?
„Außerdem weißt du doch, dass sie keinen Fuß in die Stadt der Menschen setzt."
„Das sah vorhin aber ganz anders aus", knurrt Eron und verjagt damit die Krähen, die laut protestierend wegfliegen.
„Wir haben nur das getan, was wir immer tun. Sie hat die Grenze überschritten."
„Sie wusste es nicht besser", verteidigt Eron mich.
„Doch, du hast sie schließlich mehrmals gewarnt."
Eron wird wütend.
„Wie lange beobachtet ihr mich schon, Toulouse?
„Du weist warum wir das machen. Sieh dich doch mal um. Jeden Tag werden es mehr Krähen und du ignorierst das einfach."
„Lass die Krähen aus dem Spiel. Sira will doch bloß verhindern, dass ich Erfolg habe. Sag ihr: Ich lasse mich nicht aufhalten. Geh, bevor ich deine Anwesenheit auch noch als Vertragsbruch ansehe."
„Was willst du machen, Eron? Dich abermals auf deinen Bruder stürzen?"
„Lasst Nisha in Ruhe! Das ist meine letzte Warnung, Toulouse. Ich werde sie von nun an beschützen. Ist das klar?"
Ich höre den Jungen knurren.
„Du willst einen Menschen beschützen? Wie tief kann man nur sinken. Eines Tages werden dich deine Naivität und dein Glaube noch umbringen. In Anbetracht der vielen Krähen um dich herum wird das wohl sehr bald sein."
„Wenigstens habe ich eine Überzeugung", schnauft Eron gereizt. „Du tust doch nur was Sira dir sagt."
Toulouse lacht.
„Wenn du dich damals dafür entschieden hättest Familienoberhaupt zu werden, würdest du heute die Befehle geben anstelle von Sira."
Sofern ich das richtig verstehe ist der Junge dort unten sein jüngerer Bruder. Haben sie so eine Art Rudel? Meinen sie das mit Familie? Und Sira ist die Anführerin.
Ich erinnere mich an die große, weiße Wölfin, die mich im Wald umbringen wollte. Das muss Sira gewesen sein.
„Ich wollte ihren Kampf einfach nicht weiter führen. Damals hielt ich es für besser zu gehen."
„Du hast deine Familie im Stich gelassen", sagt Toulouse vorwurfsvoll.
„Ich versuche meiner Familie zu helfen. Doch was verstehst du schon. Du bist nicht einmal erwachsen. Geh nach Hause, Toulouse. Sag Sira, dass ich demnächst vorbei kommen werde. Allerdings lasse ich mich nicht herbeirufen wie ein dressierter Hund. Ich lasse mir von niemanden was sagen."
„Pft!"
Toulouse dreht sich um und geht Richtung Wald. Ich hoffe nur das Gespräch hat nicht die Nachbarn geweckt.
„Vergiss das hier einfach. Mein kleiner Bruder spielt sich gerne mal auf. Dabei vergisst er manchmal mit wem er redet", erklärt Eron nachdem er sich wieder etwas beruhigt hat.
„Darf ich dich mal etwas fragen?"
Eron nickt und lehnt sich über die Balustrade.
„Wieso reden sie davon, dass du sterben wirst?"
„Weil es sehr wahrscheinlich ist. Ich lebe ziemlich ungesund."
Ich lege verwirrt den Kopf schief.
„Wie meinst du das?"
„Meine Familie glaubt ich werde eines Tages von einem Menschen getötet. Sie haben schlechte Erfahrungen gemacht. Deshalb kann ich ihre Gedanken irgendwie verstehen. Außerdem gibt es Zeichen. Sehr viele Zeichen."
Spricht er von den Krähen?
„Ich denke auch, dass sie recht haben", fährt Eron fort. „Allerdings hat mich die Angst bei den Menschen den Tod zu finden bisher nicht abgeschreckt. Also lasse ich mich auch jetzt nicht entmutigen. Endlich habe ich ein wenig Hoffnung bekommen. Ich denke, dass ich auf dem richtigen Weg bin."
Ich verstehe kein Wort von dem was er sagt. Wenn ich nur wüsste was er vor hat.
Ich wünsche mir so sehr, dass er es mir endlich erzählt.
„Woher weißt du das?"
Er lehnt sich weiter vor und grinst mich so breit an, dass ich eine Gänsehaut bekomme. Er hat so ein schönes Lächeln. Er muss es öfters zeigen.
„Sagen wir es ist Instinkt."
Hört er nun, wie mein Herz schneller schlägt? Ich kann nicht anders als sein Grinsen zu erwidern.
„Ich würde dir gerne vertrauen, Nisha", meint Eron plötzlich, immer noch lächelnd. Doch die Worte klingen mehr als ernst.
„Ich möchte auch, dass du mir vertraust, Eron. Ich werde alles daran setzen dich nicht zu enttäuschen."
„Vertraust du mir denn?"
Ich nicke selbstverständlich.
„Gut", antwortet er knapp darauf und richtet sich auf. „Dann kann ich dich auch beschützen."
Ich fühle mich geehrt und ich bin total erfreut das von ihm zu hören. Gerade weil ich ihn mag und mehr Zeit mit ihm verbringen möchte. Dennoch komme ich nicht darum herum zu fragen:
„Wieso möchtest du mich denn beschützen?"
Er antwortet nicht direkt. Seine Miene wird nachdenklich und ernst.
„Bitte sag es mir!", flehe ich eindringlich.
„Wenn ich dir die Antwort jetzt gebe, wirst du es noch nicht verstehen", sagt er endlich nach langem Zögern.
„Das ist mir egal, ich will es hören. Ich möchte, dass du mir alles sagst, damit ich dich eines Tages vielleicht verstehen kann."
„Es wird dir nicht gefallen."
Genervt rolle ich mit den Augen.
„Jetzt sag schon."
„Weil ich dich ehrlich gesagt ausnutzen möchte."
Mir bleibt der Mund offen stehen.
Er hat recht ich verstehe ihn nicht und im ersten Moment gefällt mir seine Antwort nicht.
„Nicht so wie du denkst", wirft er schnell ein und lächelt über mein dummes Gesicht.
„Ich möchte, dass du mir hilfst."
„Wobei? Geht es hier darum, dass du jemanden umbringen willst? Also dabei werde ich dir ganz bestimmt nicht helfen."
Ich verschränke die Arme vor der Brust und schenke ihm einen kritischen Blick.
„Keine Angst da ziehe ich dich nicht mit hinein. Außerdem will ich nicht wirklich jemanden umbringen. Auch nicht Monsieur Lambert. Wenn ich das wollte, hätte ich ihm schon längst den Kopf abgebissen."
Ich schlucke bei dem letzten Satz.
„Da er noch lebt, waren meine bisherigen Ansätze dem Kerl zu schaden eher ein Witz. Nein, ich möchte ihn loswerden ohne Blut zu vergießen. Ich möchte bei den Menschen wieder das Bewusstsein für ihre Umwelt und die Natur wecken. Sie sollen sich dafür einsetzen und den Wald beschützen."
„Was genau passiert denn mit dem Wald?"
„Schreckliche Dinge, Nisha. Halte mich für einen Öko-Freak, aber ich liebe mein Zuhause. Du würdest es auch nicht gut finden, wenn man morgen am Tag mit einem Bulldozer ankommt und dein Haus abreißt."
Nein, das fände ich schrecklich. Ich kann ihn schon verstehen, aber wie will er das den Leuten in Allmende klar machen? Die Menschen dort können ihn ja nicht einmal leiden. Also hat er die ganze Zeit versucht jemanden zu finden, der sich wie er für den Wald einsetzt.
Ich möchte ihm so gerne helfen, doch was kann ich schon tun? Ich bin selbst noch fremd in dieser Stadt. Ich habe nicht einmal einen richtigen Job und lebe bisher noch von meinen Ersparnissen.
„Also ist Monsieur Lambert dafür verantwortlich, dass der Wald zerstört wird?"
Eron nickt schwach.
„Er ist einer der reichsten und mächtigsten Männer in ganz Frankreich. Seinetwegen sind..."
Eron kommt nicht dazu den Satz zu beenden, denn ein angsteinflößender Schuss donnert durch die Nacht. Erschrocken sehen wir beide in die Richtung wo dieser herkam.
Das war nicht im Wald. Es kam aus der Stadt.
Mit einem Satz hebt sich Eron über die Balustrade seines Balkons und landet unter ihm auf dem Rasen. So schnell kann ich nicht mal „spring" sagen.
„Warte!", rufe ich noch hinterher und würde am liebsten hinterher springen. Doch wenn ich das versuchen würde, würde ich mir nur alle Knochen brechen.
Also schließe ich die Balkontür und laufe aus dem Haus. Wieso kann er denn nie auf mich warten. Wahrscheinlich hole ich ihn mit seinen langen Beinen eh nicht mehr ein.
Falsch gedacht! Eron wartet schon an der nächsten Kreuzung auf mich.
„Hast du eine Ahnung was das war?"
Er nickt und sieht Richtung Stadtzentrum.
Schnellen Schrittes geht er voran und ich folge nur mit Mühe. Ich weiß dass er eigentlich viel schneller wäre ohne mich und dass er Rücksicht nimmt.
In dieser Sekunde bin ich froh noch nicht geschlafen zu haben. Ich hätte sonst das Gefühl etwas wichtiges zu verpassen.
Nur ein paar Minuten später erreichen wir das Polizeipräsidium, bis Eron wie angewurzelt vor mir stehen bleibt.
Einige Polizisten haben sich vor der Wache auf der Straße versammelt. Bei ihnen steht auch dieser Lambert, mit erhobener Waffe. Hat er geschossen? Worauf?
Ich gehe etwas näher ran, bleibe direkt bei Eron stehen und schaue vor uns auf die Straße.
Dort, auf dem schwarzen Asphalt im Schein der Laternen liegt ein grauer, toter Wolf.
Erschrocken halte ich die Luft an und sehe zu Eron auf.
Der Ausdruck auf seinem Gesicht ist kaum zu beschreiben.
Er ist kreidebleich und starrt auf das tote Tier auf der Straße.
„Ich habe euch ja gewarnt, aber ihr habt nicht auf mich hören wollen. Nun seht ihr, was sich dort draußen in eurem Wald herumtreibt. Das ist eine Katastrophe. Das verzögert mein Projekt um einiges. Ich dachte ich hätte die Biester damals von hier vertrieben. Anscheinend sind sie wieder gekommen."
Das darf nicht wahr sein. Er hat den armen Wolf erschossen. Bitte lass es kein Gestaltwandler sein. Bitte lass es niemand sein, den Eron kennt.
Angesichts seines Gesichtsausdrucks schmelzen meine Hoffnungen dahin.
„Was haben Sie getan?", frage ich erst leise.
„Was haben Sie getan!", schreie ich beim zweiten Mal.
Jetzt schenken mir alle ihre Aufmerksamkeit.
„Ach nein, war ja klar dass der hier auftaucht. Habe ich eines deiner lieben und teuren Kuscheltiere umgebracht, Eron? Das tut mir aber leid."
Das klingt so ironisch, dass mir schlecht wird.
„Anscheinend können Sie sich doch an mich erinnern", stellt Eron ganz ruhig fest. Er ist zum zerreißen angespannt.
„Ja so langsam dämmert es mir wieder. Es fiel mir ein als dein kleiner Freund versucht hat mir die Kehle aufzureißen. Das weckte Erinnerungen in mir. Ist schon eine Weile her nicht wahr?"
Bei seinen Worten tritt er despektierlich gegen den Bauch des toten Wolfs.
Das ist für Eron zu viel. Er kann seine Wut nicht mehr länger zurück halten und stürzt sich auf den Mann. Mit voller Wucht schlägt er ihm seine geballte Faust ins Gesicht, so dass Lambert zurück taumelt und sich seine glänzende Taschenuhr von seinem Sakko löst und auf den Boden plumpst.
„Du verdammter Mörder!", ruft Eron laut und will sich erneut auf den feinen Mann stürzen und zuschlagen, als ihn zum Glück die Polizisten zurück halten. Der Polizist von vorher stellt sich vor Eron auf und schiebt ihn zurück, während seine Kollegen ihn an den Armen festhalten.
„Bist du übergeschnappt, Eron? Willst du wegen Körperverletzung ins Gefängnis?"
„Loslassen!", brüllt der wütende junge Mann.
Lambert fasst sich halb lachend, halb erbost an die blutende Lippe.
„Das hatte ich von jemandem wie dir erwartet. Du bist genauso wie dein Vater."
Erons Kraft ist überwältigend. Er reißt sich von den zwei Männern los und haut Lambert erneut ins Gesicht.
Fassungslos und auch hilflos stehe ich daneben. Ich kann leider nicht mehr tun als zusehen. Der Mann hat keine Ahnung mit wem er sich anlegt. Oder doch? Weiß er vielleicht, dass Eron ein Wolf ist?
Wieso sollte er sonst seinen Vater kennen?
„Erwähnen Sie niemals wieder meinen Vater, oder..."
„Oder was?", unterbrich Lambert provozierend. „Ich rate dir dich endlich zusammen zu reißen. Ich denke nicht dass diese Herren dein schlechtes Benehmen noch länger tolerieren werden."
Wie aufs Stichwort, ergreifen die Polizisten Eron erneut. Dieses Mal fester. Als ob das was nützen würde. Eron kann sich innerhalb von Sekunden in einen Wolf verwandeln. Ich habe es selbst gesehen.
Zugegeben, es macht mir etwas Angst Eron so zu sehen. Ich hoffe, dass er niemals auf mich wütend ist.
„Hör endlich damit auf, Eron, sonst stecke ich dich für eine Nacht in eine Ausnüchterungszelle", droht der Polizist.
Erons zorniges Gesicht verwandelt sich nach und nach in Verzweiflung und auch Trauer.
Er senkt den Blick auf den toten Wolf hinter sich.
Langsam beruhigt sich Eron und die Polizisten lassen ihn vorsichtig und argwöhnisch los.
„Betet heute Nacht zu euren Göttern. Schon sehr bald werdet ihr das hier bereuen."
Wieder ballt er seine Fäuste, kann sich aber beherrschen.
„Bitte komm mit mir, Nisha", sagt Eron leise zu mir und verlässt die Szene.
Ein letztes Mal sehe ich auf das tote Tier und fühle Mitleid. Mussten sie ihn denn erschießen? Ich bin mir ganz sicher, dass es kein normaler Wolf gewesen ist.
Als ich aufsehe, trifft mein Blick den von Monsieur Lambert. Die Art wie er mich ansieht, zeigt ganz deutlich dass er kein Stück bereut was er gerade getan hat. Jetzt verstehe ich, warum Eron ihn einen Mörder nennt und er kann ihn nicht einmal dafür Anzeigen, weil niemand von den Gestaltwandlern weiß.
An seiner Stelle wäre ich schon längst Amok gelaufen.
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