Kaffee inner Pappe
Anders stieg aus der Bib und trampelte einmal quer über den Innenhof der Uni, den sogenannten Steingarten. Er hieß so, weil in nautilusförmiger Anordnung einige Felsbrocken dort hingekarrt worden waren. Anders fand ihn echt schön und freute sich, dass die Uni alles ein bisschen schick gemacht hatte und trotzdem simpel gehalten hatte. Keine protzigen Primeln, die man jedes Jahr erneuern muss, oder so.
Anders lief mit staubigen Turnschuhen über vertrocknetes Gras und über einen geologischen Barfußpfad, alles einmal diagonal: sein Weg. Schräg durch, zwischen Sitzgelegenheiten, Bäumen, der Nautilus-Pseudo-Endmoräne und einem kleinen Teich, wenn man denn darauf vertrauen konnte, dass unter den gewaltigen Mengen an Entengrütze und Seerosen noch ein bisschen gammeliges Wasser versteckt war.
Und vorbei an den Messstationen. Kleine fragile Teile, sehr teuer, sehr unscheinbar. Könnten genauso gut Wegbeleuchtungen, Hundekackemülltütenspender oder auch etwas ganz anderes sein. Nur eben viel mehr wert – Anders hatte mal etwas von 2.000 Euro gehört. So viel hatte der alte Honda Civic von seinem Onkel gekostet, der keinen Stoffhimmel mehr hat und einem deshalb immer das Gefühl gibt, man würde Panzer fahren, wenn man schaukelnd an die Metalldecke guckt. Eine ganze Weile hatte sein Onkel akupunkturartig in liebevoller Ungeduld versucht, den herabfallenden Himmel mit Stecknadeln an Ort und Stelle zu halten. Als ihnen dann die ersten Nadeln auf den Kopf geregnet sind, hatte er den Himmel herausgerissen. Das ist nicht der einzige Makel des Hondas. Doch TÜV bekommt er immer noch. Von Yuri, einem Russen mit Hühnerhof. Es ist schon fast ein Hühnerfreizeitpark, weil die gefiederten Genossen gerne auf die PKWs und Trecker hochklettern und sich dort die Welt aus der Vogelperspektive ansehen. Eine Perspektive, für die Hühner etwas mehr kämpfen müssen als ihre Artverwandten. TÜV und Hühnerkacke, das Gütesiegel vom Hinterhof. Und in einem Jahr bekommt Anders' Onkel das Kennzeichen mit H, die Oldtimer-Medaille. Also, nicht sein Onkel, der Honda. Anders war stolz auf beide. Und auf Yuri natürlich auch.
Anders lief weiter über den Uniplatz; seine Linie war diagonal und absolut gerade, er wich keinen Millimeter ab, auch nicht, als sich ein Trampelpfad anbot oder ihm andere Studierende oder die Fahrradständer in den Weg kamen. Dann betrat er die absolut hässliche Cafeteria mit dem absolut hässlichen Namen "Ein Stein" und marschierte hindurch zu seinem Ziel: dem Kaffeeautomaten. <3.
Er war perfekt vercrackt, nichts an ihm fehlte zur vollkommenen Makelhaftigkeit. Vom ranzigen Abtropfgitter bis zur hellblau schattierten beleuchteten Werbegrafik war alles dabei. Die Schriftart ein Krampf. Der Inhalt auch: "Motivation auf Knopfdruck." Schööön kapitalistisch.
Anders konnte sich gut vorstellen: In Zukunft würden sie alle bei ihren Psycholog*innen eine Krankenkarte bekommen, die regelmäßig geupdated wird. Die würden sie dann immer mit sich herumtragen, und da wären alle Rezepte drauf. Und dann könnten sie an solche kaffeeautomatenartigen Automaten gehen und ihr Kärtchen dranhalten, und schwups kullerten das Ritalin und die Benzos raus. Und wenn sie wollten, auch noch eine gute alte Koffeintablette.
Bei dem Gedanken begann Anders auf einmal, den klapprigen Automaten vor sich noch mehr zu lieben als eh schon; noch dümmer und unschuldiger wirkten auf einmal seine Macken auf ihn. Er schob passend 90 Cent rein und drückte auf Haselnusscappuccino XL. Und musste wie immer wieder lächeln darüber, dass es diesen Scheiß überhaupt gibt. Das blaue Display flackerte einmal auf und sagte ihm "Hasel. Capp. XL. 90CT." und darunter kämpfte sich ruppig ein hässlich programmierter Ladebalken Pixel für Pixel nach vorne. An der Becherausgabe fielen die letzten Tropfen, rotes Licht wurde zu Grün, und Anders entnahm seine zuckerüberladene, pulvermlichbeschaumte halbe Mahlzeit aus den emsigen Plastikärmchen.
Eigentlich dürfte es die Größe XL gar nicht geben.
Seinen halben Liter in kleinen Schlückchen abarbeitend schlenderte Anders zurück zur Bibliothek. Eine Kippe wäre jetzt auch schön. Er stellte den Pappbecher ins tote gelbe Gras, kramte sein Drehzeug raus und machte sich ans Werk. Für eine Sekunde hatte er den lustigen Gedanken, die Papes und den fitzeligen Tabak mit dem Pappbecher und den strohigen Grashalmen zu verwechseln und sich daraus eine massive Zigarre zu drehen, die nach Druckertinte, Pappbeschichtung, Erde und Staub schmecken würde. Die Naturzerstörung und die zerstörte Natur zusammen – in einer Kippe. Wär doch schon fast eine Performance wert. Ob Anders einen Zug davon aushalten würde? Brennen würde es sicher gut, vielleicht zu gut. Vielleicht sollte er ein verdammter Künstler werden und verdammte Performances machen.
Aber wer war er schon. Er begnügte sich lieber mit depressionsfördernder, krebserregender, tierversuchserprobter, sauer stinkender Ware aus dem Plastiktütchen. Lieb mit Fingerspitzen rauspflücken, krümeln, Tütchen zuschnipsen lassen, rollern rollern rollern, Filter reinschieben, nochmal rollern, kurz anschauen, okay, Zunge flitzt übers Papier. Einmal drüberdrücken.
Meisterwerk.
Macht immer wieder Spaß.
Anders trank zwar Automatenkaffee, aber Industriezigaretten waren wirklich eine wahre Trostlosigkeit.
Wenige Sekunden später stand er, schwindelig von Zucker, Koffein und Nikotin, zwischen einer Hauswand und einem Baum im Schatten und schwitzte. Es machte richtig Spaß, und Anders war echt erstaunt. Er kämpfte am letzten Fünftel Liter, und auch wenn er das schon einmal festgestellt hatte: XL dürfte es halt wirklich, wirklich nicht geben. Lieber würde er für Größe L 90 Cent zahlen. Oder auch für Größe M. Er würde für alles mehr zahlen, meinetwegen sollten die volleren Getränke billiger sein, für die, die es schon nötig haben, sich das anzutun.
Anders hatte früher mal Kaffee schwarz getrunken und konnte es kaum noch nachvollziehen.
Einmal war er im "Paunsdorf Center" auf der Grünen Wiese – straight outta Leipzigs Speckgürtel – unterwegs gewesen. Wobei er fand, dass man da echt nicht von grüner Wiese reden dürfte. Zumindest ist es danach ja grauer Parkplatz. Jedenfalls: Anders hatte im Paunsdorf Center auch auf einen billigen Kaffee gegeiert und dabei professionell einen Bäcker erspäht. Der Bäckermann an der Theke erklärte im russischen Akzent einem Mädchen mit östlichem Akzent etwas. Und er wirkte so traurig wie die belegten Käsebrötchen – trocken von heute Morgen, mit dem Aussehen von gestern. Manchmal, wenn Leute ein scheiß Leben haben und es Anders aber gerade zu gut geht und er dabei zu unreflektiert und unempathisch ist, dann schämt er sich augenblicklich. Wenn er dann auf eine dumme Art versucht, unauthentisch Freude in die Welt zu tragen, schämt er sich sofort noch mehr. Also ließ er es bleiben, Freude zu erzwingen, und wurde lieber einfach etwas leiser.
"Was möschten Sie?", sagte der Mann und betonte das "Sie" wie "Sie unten den vielen anderen, ja, Sie da."
"Ähm, einen Kaffee schwarz bitte, Größe... ja... XL." Anders kramte die Münzen passend heraus und legte sie in das Schälchen auf die Theke. Der Mann nickte und nahm sie und drehte sich weg. Anders wartete, schob seine Schuhe auf dem Marmorboden hin und her und konzentrierte sich auf eine Fliege auf der Zuckerglasur eines welligen süßen Teilchens, das wie DDR und Altersheim aussah. Der Mann machte seine Arbeit, so, als machte er sie für niemanden, nicht mal für sich selbst. Als Anders sich sicher war, dass er dabei wirklich nicht um sich sah, betrachtete er ihn ganz genau, wie er in die Kaffeemaschine starrte.
Als der Mann sich wieder umdrehte, fühlte Anders sich ertappt. "Dankeschön. Bitte ohne Deckel." Der Mann hob die Augenbrauen und hielt in seiner Bewegung inne, legte dann den Plastikdeckel weg. "Genau, danke," sagte Anders. Der Mann stellte den Pappbecher ab, sah ihn an und sagte auf einmal mit ganz vielen rollenden R's:
"Schwarzer Kaffee... ist... gute Seele! Das ist immer wichtig: die Sonne scheint, Menschen friedlich, die Welt ist gut und der Kaffee auch. Hier." Er schob ihn Anders in einer kleinen, unnötigen Bewegung noch etwas näher über die Glastheke und nickte. Anders musste lächeln. "Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!" sagte er und sah ihn ehrlich an, und der Mann nickte nur wieder. Früher hatte Anders nicht verstanden, warum die, die meistens unbeschwert und glücklich sind, nicht dann Liebe geben können, wenn es wirklich darauf ankommt, sondern dann immer schwanken und stolpern und sich dumm und gekünstelt anstellen. Mittlerweile versteht er es. Oder glaubte dies zumindest.
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