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Der Mann mit den vor der Brust verschränkten Armen und dem feindseligen Blick war definitiv jemand vom Sicherheitspersonal. Er war groß, hatte schlechte Laune und gleich Feierabend. Nicht gut. „Ich suche einen Job", versuchte ich mich rauszureden, gab mir aber nicht die Mühe, ehrlich zu klingen. Der Mann betrachtete mich genauer. Ich sah ganz sicher nicht wie jemand aus, der einen Job suchte. Schon gar nicht mit diesem Umhang. „Glaub ich dir nicht, du siehst wie jemand aus, der Ärger macht." Ich seufzte. In unserem Viertel gab es entweder Ärger, oder noch mehr Ärger. Mehr sahen die Wachmänner nicht – nie. Das war, seit wir hier gefangen waren so. Wie hätte es auch anders sein sollen, bei all der Armut. Es war kein Wunder, dass seine Sicht sehr einseitig war. „Hören Sie, ich habe nichts vor, was Ihren Feierabend in irgendeiner Art und Weise gefährden könnte, oder Ihnen Ärger einhandeln könnte. Ich stehe einfach nur hier und warte auf einen Freund. Ich hoffe, dass er mir einen Job verschaffen kann. Wissen Sie, meine Familie ist sehr Arm und wir...", genervt unterbrach er mich. Ruppig schnauzte er: „Ist ja gut! Wenn du in einer halben Stunde nicht hier weg bist, sorge ich dafür, dass du nie wiederkommst! Verstanden?!" „Ja Sir", entgegnete ich so eingeschüchtert, wie es meine spöttische Stimmung erlaubte. Wäre ich nicht auf meine Quelle angewiesen gewesen, hätte ich ihm meine Meinung gesagt und ihm danach seine Waffe geklaut. Gesichert war sie zumindest nicht besonders gut. So eine Waffe hätte hier viel Wert. Konsequenzen wären nichts gewesen, wovor ich mich hätte fürchten müssen. Die Sache war die: wer hier für die Regierung arbeitete, war Strafversetzt worden. Also war niemand von denen freiwillig hier in diesem Armenviertel. Niemand würde zugeben, eine Waffe verloren zu haben, denn dann kämen sie nie wieder von diesem Ort weg. Aus ihrem Ärger heraus behandelten sie uns auch wie Abfall. Ihr Privileg war, dass sie nach Feierabend nach Hause durften. Aus diesem Grund fühlten sich diese Dreckslöcher besser als wir und zeigten es uns wo sie konnten. Ihre abwertende und brutale Art war hier jedoch kaum gefürchtet. Menschen die hier leben mussten, konnten gemeiner und skrupelloser sein und das wussten die Wachleute. Ich glaube, sie hatten sogar ein wenig Angst vor uns, was sie hinter noch rücksichtsloserem Verhalten zu verbergen versuchten. Früher hatte ich oft nachgedacht, was ihre Bestimmungen waren, sie hatten ihre ja noch, aber mittlerweile war es mir egal geworden.

Der Typ spuckte vor mir auf den Boden und ging weiter. Hauptsache, er war weg.

Kurz darauf ertönte eine laute Klingel und die Tore der Fabrik öffneten sich. Hunderte Arbeiter strömten nach draußen und verstreuten sich in alle Richtungen. Ihre Gesichter sahen kaputtgearbeitet und müde aus.

Irgendwo dazwischen entdeckte ich Isaac und löste mich von der Wand der Fabrik. Schnell mischte ich mich unter die Leute und erreichte ihn. Er war 29 und lebte mit seinem Vater hier drinnen. Zwar hatte die Regierung Isaac und seinen Vater identifizieren können und ihnen gesagt, was ihre Bestimmungen gewesen waren, aber das brachte ihnen nun auch nichts mehr. Immerhin kannten sie ihre wahren Identitäten und nicht wie ich, der nicht einmal einen Zettel mit der Adresse meiner Eltern in der Jacke gehabt hatte. Um ihre Identitäten beneidete ich sie und sie sicherlich mich, weil ich mit 18 die Chance hatte, hier weg zu kommen. Wie Isaacs Schwester. Sie war erst 16 Jahre alt gewesen, als sie ihre Erinnerung verlor. Als sie dann 18 gewesen war, hatte man ihre Bestimmung feststellen können und sie hatte den Slum verlassen dürfen. Über 18 kam hier niemand mehr raus, weil die Bestimmung dann nun einmal verloren war und nicht erneut festgestellt werden konnte. Isaac lief zusammengesunken vor sich her und bemerkte mich nicht. Das war ein schlechtes Zeichen, er war nicht gut drauf.

„Issac", sagte ich leise, doch er zuckte trotzdem zusammen. Schnell drehte er sich um und wollte zuschlagen, doch ich duckte mich unter seiner Faust hinweg und brachte mich einige Schritte weit in Sicherheit. „Hey, ich bin es, Ice." Er erkannte meine Stimme und sein Gesicht hellte sich ein wenig auf. „Achso, ich habe dich mit deinem Umhang nicht erkannt – neu?" Ich nickte und wir setzten unseren Weg gemeinsam fort. „Weißt du", setzte er an und ich stöhnte innerlich auf. „Ich hätte laut Bestimmung vielleicht eine Investment Banker werden können, oder Abgeordneter. Ich war ein intelligenter Junger Mann. Aber jetzt ist alles vorbei. Dürfte unsere Schwester nur für uns beide bürgen..." Ich blendete Isaacs depressives Gerede aus und dachte darüber nach, was er gesagt hatte, denn er hatte Recht. Du wachst ohne jegliche Erinnerung an dich selber auf, bist schwer verletzt und merkst, dass es jedem anderen im Umkreis von fünf Kilometern genauso geht. Ihr werdet zusammen eingesperrt und dir wird klar, dass jeder in diesem Loch mit dir verwand sein könnte, ohne es zu wissen. Ein schrecklicher Gedanke. Vielleicht lebte meine Mutter noch, oder ich hatte Geschwister. Wer wusste das schon. „..Bringe ich um!" Irritier guckte ich zu Isaac. Er und umbringen? „Was?" fragte ich nach. „Na den Übernatürlichen, der die Explosion ausgelöst hat. Der für das alles verantwortlich ist!" Achso, ja genau. Angeblich war die Explosion von einem unentdeckten Übernatürlichen ausgelöst worden. Die Bestimmung war eigentlich so eine Art Gen und konnte, sobald man 18 war, gewisse Dinge in der Zukunft offenbaren, zum Beispiel, ob jemand gut oder böse war. Außerdem konnte durch das Gen festgestellt werden, ob jemand ein Übernatürlicher war. Ab 18 zeigten sich erst potentielle übernatürliche Fähigkeiten und die Bestimmung. Deswegen war die Bestimmung auch eigentlich eingeführt worden – um Übernatürliche aufzuspüren. Dass mit der Bestimmung war nur eine Art Nebenprodukt gewesen. Ein Nebenprodukt mit bitterem Beigeschmack. Über die letzten fünfzig Jahre war die Vorhersage der Zukunft jedoch immer wichtiger geworden und gehörte mittlerweile zu einem elementaren Bestandteil dieser Gesellschaft. Da sich bei den unter 18 Jährigen dieses Gen noch nicht gezeigt hatte, hatte es auch nicht ausgelöscht werden können. Meine Bestimmung würde sich mit meinem 18. Lebensjahr zeigen. Innerlich schüttelte ich mich.

Ich war der Meinung, dass es der Regierung einfach nur missfiel, keine Kontrolle mehr über uns zu haben, aber warum ich bis zu meinem 18. Geburtstag hier bleiben musste, verstand ich auch nicht, da ich laut der Regierung noch keine Gefahr darstellte. Mit 17 war ich schließlich neutral. Wahrscheinlich war es einfacher für die Regierung.

„Was willst du eigentlich von mir?", riss Isaac mich aus meinen Gedanken. „Hast du etwas von diesem Billardturnier mitbekommen?", erkundigte ich ohne Umschweife. Er nickte. „Du willst also Informationen?" Diesmal nickte ich. Er schaute sich um und antwortete mit gedämpfter Stimme: „Ist okay, was hast du für mich?" „Brot", antwortete ich kurz abgebunden und befühlte den Laib in der Umhängetasche unter meinem Umhang. Isaacs Augen hellten sich kurz auf. „Das ist gut", murmelte er schnell und versuchte seine Freude so gut es ging, zu verstecken. „Ich werde bald heiraten", wechselte er das Thema, doch ich beendete es sofort wieder. Für Smalltalk war ich nicht hergekommen. „Wer tritt alles an?", verlangte ich zu wissen. Isaac seufzte. „Neben deinem Chef habe ich von vier weiteren Teilnehmern gehört, aber angeblich soll auch einer von der anderen Seite dabei sein. Ein ranghohes Tier." Das klang verdammt interessant. „Weiter?" Er überlegte laut: „Von dem Luca-Clan, den Rockern und dem Conway-Kartell sind auf jeden Fall zwei oder drei Leute da, aber sonst hat mein Vater wenig erzählt." Ich zog zufrieden das Brot aus der Tasche. Das war schon einiges wert gewesen. Das ranghohe Tier erklärte auch, warum die Karten so begehrt waren. Einer von Außerhalb war immer eine große Nummer. Isaac nahm den Laib dankbar an und wir gingen, ohne uns zu verabschieden in zwei unterschiedliche Richtungen davon. Jetzt würde es interessant werden.


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