25
Am nächsten Morgen war mir immer noch schlecht. Ich hatte mich entsprechend meiner eigenen Prognose hoffnungslos überfressen. Außerdem quälte mich allein die Vorstellung, aufzustehen und mein Bett zu verlassen. Müde wälzte ich mich hin und her, doch der Zeitpunkt, wo ich aus der warmen und sicheren Umgebung raus musste, rückte unweigerlich näher. Sun drängte. Allerdings sprach nichts für das Aufstehen. Mein Bett war bequem, warm, kuschelig, angenehm, entspannend, erholsam, behaglich, wohltuend..... „Jetzt steh endlich auf, die Arbeit verrichtet sich nicht von alleine!", rief Sun und klopfte energisch gegen meine Zimmertüre. Seine Stimme klang gereizt und das war kein gutes Zeichen. Mürrisch schlug ich die Bettdecke beiseite und kämpfte mich auf die Beine. Nein, ich war kein Morgenmensch, ganz sicher nicht.
Obwohl es noch dunkel war, musste ich aufstehen und wach werden. Einmal die Woche war das nicht zu umgehen. Ich fragte mich, wie Sun das jeden Morgen schaffte. Im Halbschlaf griff ich nach meinen Klamotten und zog sie an. Es waren allerdings keine schwarzen, sondern ein graues Hemd und eine ausgeblichene Jeans. Schwarz und Mehl vertrug sich offenkundig nicht besonders gut.
Wenige Minuten später war ich fertig und folgte Sun nach unten in die Küche. Er hatte bereits einen Teig erstellt und knetete ihn kräftig durch. Kommentarlos trat er zur Seite und ich machte weiter. Meine Muskeln waren einfach kräftiger als seine und so zählte das zu meinen Aufgaben. Das Backen war der einzige Zeitpunkt am Tag, an dem Sun und ich nicht miteinander redeten, weil ich a) zu schlecht gelaunt war, b) die Stille ganz gut war, eine meditative Wirkung hatte und c) weil ich wirklich zu schlecht gelaunt war. Draußen war es noch stockduster und der Nebel nicht zu sehen. Dennoch öffnete Sun, als der zu Brötchen verarbeitete Teig in den Ofen geschoben worden war, die Ladentüre und begutachtete die Lage draußen. Es gehörte zu seiner morgendlichen Routine. Als er wieder reinkam sagte er mit verklärter Miene: „12-15° C, und eine Regenwahrscheinlichkeit von ca. 10 %." Ich nahm es still zur Kenntnis und reinigte weiter die Arbeitsfläche. Danach verschwand ich wieder nach oben und legte mich zurück ins Bett. Jetzt konnte ich noch ein paar Stunden schlafen und wenn ich wieder wach würde, würden die Brötchen alle verkauft sein. Anschließend musste ich mich mal nach diesem Liam umschauen, für den ich nach Abschluss meines Auftrages endlich Zeit hatte. Ich war gespannt, ob er wirklich etwas von mir wollte und wenn ja, was.
Liams Sicht.
Verspielte Sonnenstrahlen tanzten mit den hin und her schaukelnden Vorhängen vor meinem Fenster. Das Fenster stand weit offen und ließ die frische Morgenluft zu mir hinein. Trotz der kalten Temperaturen, schlief ich gerne mit offenem Fenster. Ich mochte die Kälte. Schlagartig wurde mir klar, dass es bereits hell war und ich sprang voller Energie aus meinem Bett. Schnell verschwand ich im Bad, um eine entspannende Dusche zu nehmen. Ich war schon so dicht an ihm dran, dass ich mir sicher war, ihn in nächster Zeit zu finden. Am allerbesten vor seinem 18 Geburtstag. Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter, doch ich verdrängte den aufgekommenen Gedanken sofort und stellte das Wasser wärmer, wenngleich mein Schauer nicht daher rührte. Ihm würde nichts passieren, ich würde es rechtzeitig schaffen!
Schnell wuschelte ich meine kurzen blonden Haare mit einem Handtuch trocken, schlüpfte in meine warme Winterkleidung und beeilte mich, zum Frühstück zu kommen.
Ich war zwar erst 14, doch das Haus und alles, was einmal meinen Eltern gehört hatte, gehörte jetzt mir. Meine Mutter war vor sieben Jahren gestorben. Keine Ahnung weshalb, darum hatte mein Vater immer ein großes Geheimnis gemacht und er war vor zwei Jahren einer Krankheit erlegen. Das Geheimnis um ihr Ableben hatte er in den Tod genommen. Wir hatten uns ohnehin nicht gut verstanden.
Zum Glück hatte ich genug Geld und ein Haus geerbt. Ich lebte ganz gut, obwohl ich viel Besitz für wohltätige Zwecke gespendet hatte. Auch das Haus stellte ich armen Menschen zur Verfügung, besonders den 18 Jährigen, die das Randviertel verlassen durften, da ihre Bestimmungen gut waren und sie keine Übernatürlichen waren. Die armen Leute hatten nichts außer ihrer Kleidung und mussten sich erst an die Offenheit, den besseren Lebensstandard und Ruhe außerhalb des Randviertel gewöhnen.
„Liam ich wünsche dir einen guten Morgen", begrüßte mich die einzige Hausangestellte und wies auf den Frühstückstisch „Alles so, wie Sie es mögen." Ich nickte dankbar und setzte mich vor die Pfannkuchen, Marmeladenbrote und Obstsorten, die bunt angerichtet serviert worden waren. Morgens war ich immer gut gelaunt und freute mich auf alles, was kommen würde. Die Menschen bezeichneten mich als freundlich und gerecht und ich war gerne so, es machte mir keine Mühe.
Ein unscheinbarer Mann in dunklem Anzug und mit Sonnenbrille trat an mich heran. Er hatte ein Klemmbrett im Arm und hielt einen Stift bereit. „Guten Morgen Sir. Wie fühlen Sie sich?" Ich beantwortete seine Frage mit einem fröhlichen „Sehr gut" und biss kräftig in einen großen Apfel hinein. Er war schön saftig und sofort hob sich meine Laune noch ein bisschen mehr. Freundlich und geduldig beantwortete ich seine restlichen Fragen und lud ihn wie jeden Morgen zum Kaffee ein, was er wie jeden Morgen ablehnte. Er war von der Regierung und daher seriös. Anscheinend gehörte Kaffee trinken zu den Dingen, die man nicht tun sollte. Meine Haushälterin und Vormund scheuchte ihn dann wie jeden Morgen vor die Türe und beklagte sich anschließend kopfschüttelnd: „Die wissen doch, dass du gut bist, wieso prüfen die dich jeden Morgen aufs Neue?" und jeden Morgen erklärte ich: „Weil sie so jemanden wie mich eben noch nie hatten. Außerdem macht der arme Mann auch nur seine Arbeit." Ich hatte Verständnis mit deren Maßnahme, Marta nicht. Sie seufzte. „Wie dem auch sei, ich habe dein Lunchpaket fertig gemacht." Ich bedankte mich freundlich und verließ wenig später das helle, schöne Haus, mit den hohen Fenstern und Räumen, um in eine Welt einzutauchen, die das genaue Gegenteil zu dem war, wie ich lebte.
Das Randviertel, so war der offizielle Name, war der Ort, an dem die Leute ohne Bestimmung und Erinnerung zu unser aller Sicherheit untergebracht waren. Durch den Verlust der Bestimmung waren sie potentiell gefährlich und deshalb dort sicher untergebracht. Sie konnten im Randviertel selbständig leben und hatten wenige Einschränkungen. Gut, sie lebten ein bisschen verarmt, aber davon abgesehen ging es ihnen eigentlich ganz gut. Ich focht dieses System eigentlich nicht an. Mein Vater war an seiner Errichtung beteiligt gewesen und er hatte es mir ganz genau erklärt.
Am großen Tor zeigte ich meinen Ausweis, passierte verschiedene Schleusen und Kontrollen und konnte anschließend durch eine letzte, kleine Türe in das Viertel gelangen. Sofort hüllte mich leichter Nebel ein, der, je näher man an die Fabriken heran kam, dichter wurde. Durch die hohe Mauer und die eng aneinander stehenden Häuser drückte sich der Nebel in das Randviertel hinab und blieb dort bis zu Abend, wo er sich mit dem Ausschalten der Fabriken auflöste. Praktisch sah man hier fast nie die Sonne.
Von der nebeligen Aussicht ließ ich mir aber nicht meine gute Stimmung versauen, sondern schulterte vergnügt meinen Rucksack und macht mich auf den Weg, um ihn zu finden.
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