23
Liams Sicht
Ich hatte versagt. In zwei Tagen würde er 18 Jahre alt werden und ich hatte keine Chance mehr, ihn zu finden. Das Mädchen, welches ich engagiert hatte, hatte sich nicht mehr gemeldet, sie hatte bestimmt auch keinen Erfolg gehabt. Vielleicht war er auch schon tot. Verzweifelt stapfte ich wieder durch die morgendlichen Straßen des Randviertels und fühlte mich verloren. Ich wusste nicht mehr, was ich machen sollte. Wenn die Regierung bemerkte, wer er war, war er sicherlich tot. Zum Glück wussten sie nicht genau, wann er Geburtstag hatte. Sie hatten damals anhand verschiedener Enzyme und Prozesse die ungefähren Alter der Menschen rausbekommen können. Ihre Ergebnisse waren aber nur um etwa drei Monate genau. In dieser Zeit lag meine Chance. Ich musste ihm helfen.
„Hey Kleiner!", rief auf einmal jemand und ich blickte auf. Unsicher, ob die beiden riesigen, gefährlich aussehenden Muskelberge vor mir mich meinten, blickte ich mich vorsichtshalber um. Die Straße war außer uns dreien leer. Gähnend leer. „Ja?" fragte ich vorsichtig und die beiden Männer lachten dreckig und laut auf. Sie schienen nichts Gutes im Sinn zu haben. Die beiden traten auf mich zu und ich schaute sie mit meinen blauen, ehrlichen Augen abwartend an. Sofort verschwand das schreckhafte, grimmige aus ihren Gesichtern und sie wirkten ganz nett. Ich lächelte in mich hinein. Tja, gar nicht so schlecht, wenn man ein Übernatürlicher war!
Liams Sicht Ende
„Einen schönen Tag noch", verabschiedete ich die Kundin und reichte ihr die Papiertüte mit den Brötchen. Ich wendete mich der nächsten Frau zu und bediente auch sie. Seit der Sache mit dem Brief waren zwei Tage vergangen und ich wusste noch nicht, was ich weiter unternehmen sollte. Bis zu meinem Geburtstag waren es noch zwei Monate und ich war mir nicht sicher, ob ich das mit meinem Tod schaffen würde. Nebel hatte sich noch nicht wieder blicken lassen, doch das war mir recht egal. Ich brauchte sie nicht. Die Frau bezahlte und machte noch eine Vorbestellung. Geduldig notierte ich es auf einem kleinen Notizblock und blickte wieder auf. Sie wollte einen kleinen Geburtstagskuchen für ihren Sohn haben, der 18 wurde. Die Frau fing an zu reden. „Mein Sohn wird 18, schon komisch nicht wahr?" Deshalb hasste ich diese Aufgabe. Ständig quatschten die Leute über unwesentliche Dinge. In der Regel nickte ich höflich und hoffte sie schnell wieder los zu werden, weil es Suns Kunden und somit ein Teil unsere Lebensgrundlage waren. Heute hatte ich es besonders eilig, den Laden zu schließen. „Finden sie es wirklich komisch, dass er 18 wird? Ich meine, wo das doch ganz natürlich ist." Sie überhörte meinen unfreundlichen Unterton und erklärte: „Nein, nein, ich meine doch, dass es so schnell gegangen ist. Seit wir hier aufgewacht sind... wie schnell er doch groß geworden ist. Gar nicht zu glauben. Vielleicht wird er bald draußen sein, du weißt schon, außerhalb der Maue..." Ich unterbrach sie. „Ich weiß, was „draußen" bedeutet! Darf es sonst noch etwas sein?" „Nein Danke. Wie alt bist du eigentlich? Wirst ja auch jeden Tag etwas größer. Sun ist bestimmt mächtig stolz auf dich. Damals, als du noch ganz klein warst, wie alt noch mal?" „10" knurrte ich. „Jaaa genau. Ganz niedlich, Hattest auch noch blonde Haare. Wie sie mit der Zeit dunkler geworden sind. Ganz entzückend. Achhhhh wie die Zeit vergeht." Sie schüttelte kummervoll den Kopf und es schien als würde sie gleich anfangen zu weinen. „Ich will sie ja jetzt nicht unhöflich unterbrechen, aber ich muss noch etwas Dringendes erledigen." Die Frau lächelte. „Natürlich, tut mir leid! Bis Morgen dann." Ich lächelte, doch sobald sie weg war, wurden meine Gesichtszüge wieder neutral. Schrecklich, diese Menschen und ihre Leben, sie so furchtbar normal sein sollten. Ich schloss die Ladentüre ab und begann, durch den Verkaufsraum zu wischen. Ihr Sohn hieß Henry oder so, er war ein paar Mal mit ihr einkaufen gewesen als er noch jünger war. Er war nicht besonders helle und würde in Zukunft ganz sicher nichts tun, was ihn hier behalten würde. Er und seine Mutter hatten identifiziert werden können. Die Mutter hatte natürlich hier bleiben müssen und es hatte keine Verwandten Außerhalb gegeben, die Henry hätten aufnehmen können. Diese Option gab es auch noch. Mir als Waise blieb diese Chance leider verwehrt. Zumindest war ich sehr wahrscheinlich eine Waise. Adoptionen waren nicht möglich. Außerdem, wer wollte ein verbranntes, seelisch gestörtes, 10 Jähriges Kind ohne Erinnerungen haben? Sun hatte damals alles versucht, um meine Identität heraus zu bekommen, hatte es aber nicht geschafft.
Ich schloss endlich die Ladentüre hinter mir ab und verschmolz mit der Dunkelheit. Mir war es ernst, ich wollte meinen Tod vortäuschen. Ich wollte ein paar Kontakte aufsuchen, die mir vielleicht helfen konnten. Ich hatte eine Entscheidung getroffen, die mich zurück in mein altes Leben führte. Zumindest für einen Moment.
Mein Weg führte mich ins Spieler-Viertel. Unser Viertel. Tief in seiner Mitte lag das Herzstück, das, was unser Viertel ausmachte. Hier wurde alles gemacht, was Spiele, Wetten, oder geschäftliche Abmachungen betrafen. Egal, wie ehrlich du warst, hier wurdest du korrupt. Dafür war unser Viertel bekannt. Andere Viertel, zum Beispiel die Rocker, betrieben Schmuggel, wir irgendetwas zwischen Glücksspiel, Wetten und krummen Geschäften. Falsche Pässe hatten hier die beste Qualität. Als kleiner Junge hatte es mich magisch angezogen und fast hätte es mich verschlungen.
Ich tauchte tief in unser Viertel ein. Hinter leuchtenden Scheiben glänzte flüssiges Gold und blinkende Schilder prahlten stolz in der Dunkelheit. Es war ein Meer aus Illusionen und Trug. Ich ging dorthin, wo es leuchtete, das Geld angeblich vom Himmel regnetet wie Sterne und die Nacht der Tag zu sein schien. Überall schimmerte und glitzere es. Selbst deine Träume hätten nicht so glamourös sein können. Bunte Lichter und Farben vernebelten den Verstand und ließen dich zu einer Marionette dieses Ortes werden. Wenn man hier etwas verkaufen konnte, dann seine Seele. Es war alles Lüge und Schein. Denn dort, wo das Leuchten aufhörte und die aufgeheiterten, betrunkenen Stimmen verhallten, war es dunkel. Nicht nur dunkel, sondern schwarz. In seiner reinsten Form. Wusstest du, dass richtiges Schwarz die Abwesenheit von Licht ist? Wenn es etwas Böses gab, dann waren es die Schatten, die hier auf ihre Opfer warteten. Dieses Schwarz hatte mit seinen Bösen Fingern nach mir gegriffen. Die Gassen waren schmutzig, die Geschäfte viel schmutziger. Hier gab es keine Polizei mehr, niemanden mehr, der das Böse bekämpfte. Hier verachtete man die Regierung, hier regierte etwas anderes, die Angst. – So wurde es zumindest den Kindern erzählt. Die Angst war mein Lehrmeister gewesen und hatte mich gelehrt, die Regierung zu hassen, selber Angst verbreiten zu können. Ich war grade einmal elf gewesen. Jetzt machte ich es nicht mehr. Das Manipulieren jedoch hatte ich mir erhalten.
Mein Weg endete, dort, wo es kaum mehr illegaler ging. Dort, wo alles angefangen hatte, wo ich meinen ersten Job erhalten hatte, wo das Wort „Informant" zum ersten Mal über meine Lippen gegangen war. Sun hatte mir nie etwas verboten, außer, noch einmal dorthin zu gehen. Ich hatte mich tatsächlich daran gehalten – bis jetzt.
Über der Türe des Geschäftes stand in roter, zerlaufener Schrift: „Es gibt kein richtig oder falsch, nur Langeweile oder Spaß". Ich grinste verschlagen und streifte meine Kapuze ab. Hier hatte ich gelernt, was das Wort „Böse" bedeutete. Es hieß, dass niemand diesen Ort wieder verließ, ohne, dass sich etwas Böses in einem eingenistete. Ich schauderte nicht, es war gut, ein bisschen Böses in sich zu haben, es half, sich gegen den Dreck um mich herum abzuschirmen. Jeder brauchte irgendetwas, sonst wurde man an einem Ort wie dem „Randviertel" verrückt.
Der Laden war verraucht und nebelig, ein betörender Nebel. Langsame, technisch erzeugte, melodische Musik füllte den Raum, der Bass dröhnte. Ich erkannte ein Stückchen vor mir ein bekanntes Gesicht und ging darauf zu. Soul hatte mich ebenfalls erkannt. Seine dunkle, verrauchte Stimme donnerte zu mir hinüber. „Na wen haben wir denn da? Den kleinen Ice!" Ich grinste schelmisch und trat auf den großen Mann zu. Er reichte mir seine Hand und schüttelte sie. Auf seinen Fingerknöcheln stand „Himmel" auf der anderen, in seiner Hosentasche steckenden Hand prangte der Schriftzug „Hölle". Das wusste ich noch allzu gut. Er packte mich an der Schulter und führte mich in einen hinteren Raum. Die Musik war zwar nicht weniger laut, aber der Nebel nicht mehr so stark. Wir setzten uns an einen Tisch. Zwei Männer wetzten neben uns ihre Messer, betrachteten uns aber nicht genauer. „Meine Güte bist du groß geworden! Ich habe dich lange nicht mehr gesehen! Was ist aus dir geworden?" Ich antwortete: „Arbeite immer noch als Informant, läuft ganz gut." „Freut mich zu hören Kleiner, aber was führt dich zu mir? Du weißt, dass ich dich immer noch gebrauchen kann." „Ja ich weiß", antwortete ich leise, doch ich wusste, dass daraus nichts werden würde. Wir beide wussten es. Mit dieser dunkeln, bösen Seite hatte ich abgeschlossen, seit sie mich einmal fast ausgelöscht hätte. Zuerst meine Seele und dann mich. „Ich brauche eine falsche Identität." Soul lachte laut auf. „Willst du hier raus?" „Nein Mann, ich will hier drinnen bleiben, aber bald muss ich zu diesem Test." „Tauch ab", schlug er sofort vor. Ich schüttelte den Kopf. „Soul, du verstehst nicht, ich will bei Sun bleiben." Soul schien wirklich nicht zu verstehen. „Diesem alten, brotbackenden Depressiven?" Ich nickte lahm und blickte zu den beiden messerschleifenden Männern. Sie grinsten. Ich hätte auch einer von ihnen werden können. Aber dann hätte ich nicht mehr zurück gekonnt, dann wäre ich in diesem Leben gefangen worden und auch darin gestorben. Soul hatte meinen Blick bemerkt und meinte stolz: „Ich bin froh, dass du damals der Versuchung wiederstehen konntest. Auch, wenn ich dadurch meinen besten Informanten verloren habe." Wäre Sun nicht mein Vater geworden, wäre es Soul. Auch wenn er kein liebevoller Vater gewesen wäre. Nicht so nett wie er jetzt wirkte, sondern ruppig und gierig. Ich denke, er war nur nett, weil er sich temporär freute, mich zu sehen. „Kannst du mir helfen?", fragte ich noch einmal und Soul strich sich ein weinig nachdenklich durch den Bart. „Ich kann mich umhören. Versprechen kann ich nichts. Eine falsche Identität ist hier drinnen kein Zuckerschlecken." Er lachte kurz dröhnend auf und wurde dann wieder ernst. „Du weißt, dass der Preis sehr hoch ist?"
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