19

Ich musste nur wenige Sekunden weg gewesen sein, denn als ich meine Augen wieder aufschlug, verdunkelte weiterhin Staub die Luft und die Maschinenpistolenkugeln durchschnitten immer noch kreischend durch die Luft. Ich drehte mich auf den Bauch und blickte mich nach Liam um. Er lag bewusstlos wenige Meter neben mir. Flach auf dem Bauch gedrückt, robbte ich mich über die trockene Erde zu ihm und rüttelte vorsichtig an ihm. Er reagierte nicht. Mit zusammengebissenen Zähnen packte ich seinen Arm und zog ihn unter enormen Schmerzen in winzigen Stückchen in Richtung eines Hauses. Der Streifschuss hatte meinen Arm rot gefärbt, doch nicht das Blut machte mich verrückt, sondern die Schmerzen und die Situation. Alles hier. Normale Helden hatten keine Probleme mit stark blutenden Schusswunden, doch ich war kein Held, wollte keiner mehr sein. Hatte vermutlich nie einer sein wollen. Stoßweise atmete ich aus und regulierte den Schmerz ein wenig. Mein Kopf dröhnte immer noch, tat aber nicht mehr weh.

Ich erreichte das Haus und wagte mich aufzurichten. Liam war nicht wieder zu Bewusstsein gekommen und lag mit blassem Gesicht im Staub unter mir. Ich hätte ihn jetzt liegen lassen können und mich in Sicherheit bringen, aber ich hatte es Nebel irgendwie versprochen, auf ihn aufzupassen. Stöhnend hievte ich ihn hoch und legte ihn auf meine Schultern. Seine Hände und Füße packte ich, damit er nicht wieder herunterfiel. Vorsichtig ging ich probehalber ein paar torkelnde Schritte und sofort verlagerte sich sein Gewicht auf meine Wunde. Ich biss mir auf die Lippe, um einen Schrei zu verhindern und merkte, wie ich augenblicklich Blut schmeckte. Den Impuls, ihn einfach fallen zu lassen konnte ich mit enormer Willenskraft unterdrücken. Schwer atmend stapfte ich vorwärts, weg von dem Ort der Explosion. Niemand folgte uns, keiner rief, wir sollen stehen bleiben. Also ging ich weiter. Immer geradeaus – einfach nur weg. Wer auch immer die Explosion ausgelöst hatte, er oder sie musste auf unserer Seite sein. Ob es hier Rebellen gab? Bestimmt irgendwo.

Je weiter ich von dem Ort der Explosion weg kam, desto mehr Menschen waren wieder unterwegs. Die dreckigen Straßen waren irgendwann voll mit ihnen. Sie gingen ihrer täglichen Einöde nach und fast schon tauchten wir in der Menge unter. Fast, denn die Menschen warfen uns merkwürdige Blicke zu und ich hatte deutliche das Gefühl, ihr Misstrauen greifen zu können. Ich fühlte mich mit ihren Blicken im Rücken wie ein gehetztes Tier und hatte Angst, verfolgt zu werden. Umwege konnte ich mir allerdings aufgrund meiner Schmerzen auch nicht leisten und so schlug ich den direkten Weg nach Hause ein.

Unendliche Erleichterung überkam mich als vor mir die Bäckerei auftauchte und ich die letzten Schritte hinter mich brachte. In meinem Kopf dröhnte es und ich hatte noch nicht realisiert, was geschehen war. Unwirklichkeit umgab mich wie ein falscher Freund. Mit einem letzten prüfenden Blick die nebelige Straße hinunter, klopfte ich an die geschlossene Ladentüre. Schwerfällig ließ ich Liam von meiner Schuler gleiten und ließ ihn neben mir liegen wie er war. Mein zerschundenes Gesicht betrachtete sich in der spiegelnden Scheibe vor mir. Ich sah echt scheiße aus. Wahnsinn. Im Laden wurde auf einmal Licht gemacht und Sun kam zur Türe. Erschrocken öffnete er sie und Liam fiel nach vorne, vor seine Füße. „Darf ich vorstellen, Liam. Ich habe ihn gefunden." Sun und ich guckten nach unten, auf den bewusstlosen Jungen und dann wieder hoch. „Er sieht dir schon etwas ähnlich findest du nicht?" oder „Nettes Kerlchen, ein Freund von dir?" hätte jetzt jemand völlig ohne Empathie gesagt, doch Sun reagierte wie ein normaler Mensch. Er packte Liam, zog ihn in den Laden und nahm ihn dann in seine Arme. Es kostete ihn enorme Anstrengung, doch er schaffte es und trug ihn zur Treppe. Ohne ein einziges Wort zu sagen. Als brächte ich ständig halbtote mit nach Hause. Ich schloss die Türe wieder von innen ab und folgte ihm die Treppe hinauf.

Sun legte Liam auf meinem Bett ab und verschwand in der Küche. Kurz darauf hörte ich Wasser kochen. Unter Schmerzen legte ich meinen Umhang ab und zog mir die Schuhe aus. Mein ganzer Körper tat weh, doch ich schaffte es, ins Bad zu kommen. Als ich mein T-Shirt ausgezogen hatte, sah ich, wie schlimm der Streifschuss gewesen war. Er hatte ein gutes Stück Fleisch wegerissen, aber die Wunde war bei weitem nicht so schlimm, wie sie aussah. Mit einem Handtuch und Waschlappen reinigte ich sie von Blut und Dreck, verband sie anschließend und ging zurück in meinem Zimmer.

Sun hatte sich über Liam gebeugt und reinigte ihn vorsichtig. Neben ihm stand eine Schüssel mit heißem Wasser. „Der arme Junge", murmelte er, ohne auszusehen. „Mir geht es auch gut", antwortete ich erschöpft und ließ mich an der Wand hinuntergleiten. Sun legte den Waschlappen beiseite und kam zu mir. „Der Junge trägt einen Besucherausweis, er ist nicht von hier. Du weißt, dass man von Außerhalb nicht einfach so hier rein kann. Sein Ausweis kommt von der Regierung." Die ernsthafte Sorge in seiner Stimme war unüberhörbar. Ich fuhr mir mit meinen Händen durch die Haare und legte meinen Kopf in den Nacken. „Um ehrlich zu sein weiß ich überhaupt nicht mehr, was ich glauben soll Sun. Sobald Liam aufwacht, wird er uns hoffentlich aufklären." Sun nickte und reichte mir seine Hand. Ich ergriff sie und ließ mich von ihm hochziehen. „Bis dahin, Ice, wirst du mir sicherlich erzählen, was passiert ist." Ich ließ meinen Kopf hängen und folgte Sun in die Küche.

Ich erzählte ihm von Nebels erstem Auftauchen, die Beobachtung von Liam und die langsame Entwicklung, wie ich ihm langsam näher gekommen war. Ab und an unterbrach Sun mich, um Fragen zu stellen. „Er hat ganz sicher nach dir gesucht?" Ich bejate mit einen Nicken und schilderte, wie ich Nebel ein paar Sachen beigebrachte und wie sich die Dinge entwickelten. Anschließend beschrieb ich ihm die Situation vor dem Drogenhaus und die anschließenden Explosionen. „Der Auftrag für Seth hat dich also davon abgehalten, nach Liam zu suchen?", vergewisserte sich Sun zum Schluss. Ich nickte. „Ich konnte ja nicht wissen, dass Liam wichtig war, außerdem war Seths Auftrag wichtiger als irgendein Junge, der mich sucht. So etwas kommt ständig vor. Zudem war ich damit beschäftigt, mir eine Identität zu besorgen. Irgendwie ist Liam da total untergegangen." Ich seufzte und schlürfte meinen Kakao. Das warme Getränk beruhigte mich ein bisschen. Sun betrachtete mich und nach einer Weile meinte ich leise: „Er hat behauptet, mein Bruder zu sein." Sun schwieg einen Moment überrascht und meinte: „Jetzt hast du mich neugierig gemacht."

Am nächsten Tag kam Joe vorbei. Ihr erinnert euch – der Strickmützen häkelnde Rocker. Aber er war mehr als das, er war auch Kinderarzt. Paradox nicht wahr? Aber wie er immer zu sagen pflegte: „Die Leute wissen immer nur das, was man ihnen sagt." Er warf nur einen flüchtigen Blick auf meinen Streifschuss und tat ihn mit einem Nicken ab. Sein Interesse galt Liam, der immer noch nicht aufgewacht war. Liam hatte über Nacht Fieber bekommen und schwitzte mein Bett nass, während ich auf dem Boden schlafen musste. Ja, ich hatte schlechte Laune und ich nahm es Liam übel, dass er mein Bett belegte. Sun hatte ihm immer wieder seine Stirn mit einem kühlen Lappen abgewischt, aber es wurde einfach nicht besser.

Joe beugte sich mit seinem mächtigen Körper über den blassen, schmächtigen Jungen und befühlte seine Stirn. Anschließend betrachtete er seine kleineren Schürfwunden und die etwas größere am Hinterkopf. Ich saß mit verschränkten Armen auf der Fensterbank und schaute Joe bei deiner Untersuchung zu. „Was sagst du?", fragte ich mürrisch. Joe schaute auf. „Wenn ich es richtig verstanden habe, seid ihr beiden auf den Kopf gefallen." Er lachte und ich musste unwillkürlich grinsen. „Danke Joe, vielen Dank." Joe wurde wieder ernst. „Er müsste also längst wieder wach sein. Vielleicht hat er zuvor schon einen Schlag abbekommen. Geduldet euch noch einen Tag. Soweit ich es beurteilen kann, hat er keine weiteren schlimmen Verletzungen." Er fuhr sich mit seiner großen Hand über den kahlen Schädel „Wenn ich das mal anmerken darf, er sieht aus wie eine jüngere Version von dir, nur mit blonden, anstatt mit schwarzen Haaren." „Seine Augen sind dunkler", argumentierte ich und Joe guckte sich direkt Liams Augenfarbe an. „Irgendwie Himmelblau. Deine sind mehr Eisblau." „Das spräche gegen eine Verwandtschaft." Joe lachte und packte sein spärliches Equipment wieder weg. Er wollte wieder gehen, blieb dann noch einmal stehen und betrachtete mich einen Moment genauer. „Ruh dich auch ein wenig aus, du könntest eine Gehirnerschütterung haben." Ich winkte ab. „Haarspalterei, aber erzähl das auf gar keinen Fall Sun, sonst muss ich mich wohlmöglich wirklich noch ausruhen." „Sun hat das gehört und möchte tatsächlich, dass du dich ausruhst", merkte Sun zynisch an. Er war unbemerkt ins Zimmer getreten, doch Joes großer Körper hatte ihn verdeckt und ich ihn nicht gesehen. Joe grinste mir zwinkernd zu und verließ das Zimmer. Schweigend betrachtete ich den bewusstlosen Liam, während Sun Joe zur Türe begleitete. Er lag bewegungslos und irgendwie einsam auf meinem Bett. Die von Sun liebevoll aufgestapelten Kissen waren verrutscht, aber die Bettdecke über ihm war weiterhin so glatt und unbewegt wie noch Gestern. Seine Gesicht war blass und verschwitzt und nur sein sich langsam hebender und senkender Brustkorb verriet, dass er noch lebte. „Ich bin verdammt gespannt, was du uns zu erzählen hast", murmelte ich und verließ das Zimmer.

Am nächsten Tag war er immer noch nicht wieder wach und ich wurde langsam nervös. Sun zwang mich, mich auszuruhen und so tigerte ich rastlos durch die Wohnung, in der Hoffnung, dass irgendetwas passierte. Immer wieder führte mich mein Weg in mein Zimmer und mein Blick blieb an Liam hängen. Den Ausweis hatte ich mehr als genau studiert, aber ich konnte mir keinen Reim darauf machen, warum er von der Regierung autorisiert worden war, das Randviertel frei zu betreten. So ganz ohne Schutz und Vorsichtsmaßnahmen. Er war vielleicht 14. Das ergab alles keinen Sinn!

Am nächsten Tag hielt ich es nicht mehr aus, verließ ich die Wohnung und suchte erneut den Ort der Explosion auf. Fast alles war so, wie wir es verlassen hatten. Ein düsterer Ort. Allerdings waren durch die Explosion große Löcher in die Häuser gerissen worden und die stehen gebliebenen Wände waren durchsiebt von Gewehrsalven. Als hätte hier ein Krieg stattgefunden. Vor dem ehemaligen Drogenhaus hatte sich Polizei postiert und einige Männer räumten es aus. Meine Position im Schatten war gut gewählt und ich konnte meinen Blick ungehindert über den kleinen Platz schweifen lassen. Meine Augen blieben an der Stelle hängen, wo Nebel gelegen hatte. Für einen Moment ruhte mein Blick dort, dann guckte ich mich weiter um. Eine Drohne war abgestürzt und wurde von Polizisten abgebaut. Ich empfand keine Schuld wegen Nebels Tod, nur Bedauern. Ich suchte etwas, ohne zu wissen, was es war - ich brauchte nur etwas, was mir vielleicht helfen konnte. Wobei wusste ich jedoch auch nicht so genau. Irgendein Hinweis, damit ich wusste, wer die Explosion ausgelöst hatte. Hier gab es aber nichts. Das sagte mir nicht mein frustriertes Ego, sondern die Männer in weißen Schutzanzügen, die Proben vom Boden nahmen und in kleinen Behältern verstauten. Unmotiviert wandte ich mich wieder ab und schlug den Weg nach Hause ein. Diesmal nahm ich mehrere Umwege und konnte sicher sein, als ich in unsere Wohnung trat, dass mir niemand gefolgt war. Sun kam mir schon entgegen. „Ice", hielt er mich leise auf. Seine Stimme klang gedämpft. „Liam ist aufgewacht." „Endlich", antwortete ich und wollte mich an ihm vorbei drücken, doch Sun packte meinen Arm. „Warte, du musst da etwas wissen." Der Unterton in seiner Stimme ließ mich stehenbleiben und ich guckte ihn mit einer schlechten, unbestimmten Vorahnung an. „Liam, er kann sich an nichts erinnern." Fassungslos starrte ich auf die verschlossene Türe „Wahnsinn. Er kann direkt ein Mitglied dieses liebreizenden Viertels werden." Enttäuscht legte ich meinen Umhang ab und hängte ihn an einen Haken. Sun versuchte mich zu trösten: „Das kommt bestimmt wieder." „Wie bei uns?", fragte ich zynisch, worauf Sun auch keine Antwort hatte. Ich ließ ihn stehen und betrat das Zimmer. Liam lag immer noch auf dem Bett, doch seine zuvor geschlossenen Augen starrten mit leerem Blick an die Decke. „Hallo", sagte ich möglichst freundlich, um ihn nicht zu erschrecken. Er blickte auf und betrachtete mich kurz zweifelnd „Du bist also mein Bruder?" Ich zuckte mit den Schultern. „Scheint so, hast du zumindest so gesagt." Er stöhnte auf und schlug mit seiner Faust auf die Matratze. „Es muss doch jemanden geben, der mehr weiß." Ich nickte. „Den gibt es ganz sicher.... Nur nicht hier." Liam schloss gequält die Augen. Ich erklärte neutral: „Besagte Person ist leider erschossen worden." „Das ist ja entsetzlich", antwortete er schockiert, doch ich antwortete gleichgültig: „Schrecklich ist, dass du in meinem Bett liegst und nicht einmal etwas dafür bieten kannst. Gefüttert werden musst du nicht oder?" „Bist du immer so zynisch?" „Sag du es mir." „Weshalb sollte ich das wissen?" fragte er irritier. Ich lachte. „Na, wir sind doch Brüder." Liam seufzte resigniert und schloss die Augen. „Ich habe hier irgendetwas Wichtiges gewollt, das sagt mir mein Gefühl. Es war sehr von Bedeutung und jetzt weiß ich nicht einmal, wer ich bin und wo ich herkomme. Ich könnte von überall sein. Sun meinte, dass ich von Außerhalb komme, aber das sagt mir gar nichts. Bis vor einer halben Stunde wusste ich nicht einmal, dass um dieses Viertel eine Mauer gezogen wurde." „Was Außerhalb liegt weiß ich auch nicht, schließlich kenne ich meine Vergangenheit nicht. Ich hatte gehofft, dass du mir helfen könntest – mit deinem plötzlichen Auftauchen." Liam antwortete mit gequält klingender Stimme: „Das wollte ich anscheinend auch."

Ich stöhnte auf, das hatte mir gerade noch gefehlt! Drei Tage hatte er bewusstlos vor sich hin vegetiert, ich war halb wahnsinnig geworden und kaum war er wieder wach, hatte er keine Erinnerung mehr! An gar nichts. Nicht einmal sein Name sagte ihm etwas.

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