17

Der Ort war nach wie vor verwüstete und zerstört. Kein Mensch kümmerte sich um die Löcher in den Wänden und Krater im Boden. Überall lagen Patronenhülsen herum und die Luft fühlte sich staubig an. Nasser Nebel drückte den Staub zu uns hinunter und ich hatte das Gefühl, dass er sich wie eine Schicht Estrich auf uns legte. Automatisch zog ich den Umhang fester um mich. Liam stand neben mir und zusammen betrachteten wir schweigend den Ort. Mein Blick hing an der Stelle, wo Nebel gestorben war, Liams Kopf drehte sich neugierig hin und her. „Hier hat die Explosion stattgefunden?" fragte er ungläubig. Ich hielt es in Anbetracht des Chaos und der Zerstörung für gar nicht so überraschend, denn Explosion=Chaos. „Nein, wir sind nur so hier." Er runzelte irritiert die Stirn und meinte: „Aber ich dachte, wir wollten zu dem Ort, wo die Ex...." Ich unterbrach ihn genervt. „Das war ironisch gemeint." „Oh Sorry", antwortete er und schwieg. Still betrachteten wir weiter den Ort und ich fragte nach kurzer Zeit: „Schon etwas wiedergekommen?" Er schüttelte den Kopf und es herrschte wieder Schweigen zwischen uns beiden. „Vielleicht müssen wir uns in die Situation einfinden", schlug Liam hochkonzentriert vor. Er machte ein paar zögerliche Schritte auf den kleinen Platz zu und drehte sich zu mir um, um meine Meinung dazu zu hören. Als Antwort zuckte ich mit den Schultern. „Ein Versuch ist es wert." Liam nickte und fragte: „Wo hat es angefangen?" Ich deutete auf das Haus, welches jetzt erkennbar leer stand, besonders, weil die halbe Vorderfront fehlte. Liam machte ein paar halbherzige Schritte darauf zu, aber blieb dann stehen. „Ice, du musst mir helfen, allein schaffe ich es nicht." „Okay", antwortete ich und rührte mich nicht von der Stelle. Liam blieb hartnäckig. „Du musst dir Mühe geben, sonst ist das hier umsonst!" Da hatte er Recht und ich löste mich aus meiner entspannten Haltung, um meinem Bruder zu folgen. Nein halt, um dem Jungen der behauptete, mein Bruder zu sein, zu folgen. Wir überquerten den Platz und stiegen die knarzenden Überreste der Holzstufen zu den Überresten der Haustüre hinauf. Von der Holztür waren einige spitze, splittrige Holzstücke übrig geblieben, die in den Scharnieren im leichten Wind quietschten. Scherben knirschten unter unseren Füßen als wir stehen blieben und uns umdrehten. Ein leichter Brandgeruch lag noch in der Luft. Liam versuchte sich angestrengt zu erinnern und fuhr konzentriert mit seinen Fingern über das Geländer. Ich erzählte: „Du wurdest mit verbundenen Augen aus dem Haus geführt. „Führe mich", bat Liam und schloss seine Augen. Ich legte meine schlechte Laune beiseite und konzentrierte mich auch. Entschlossen nahm ich seinen Arm und warnte: „Ich werde ruppig mit dir sein, sonst ist es nicht realistisch." „Ist gut", antwortete Liam schnell. „Wenn du meinst." Ich zerrte ihn so plötzlich nach vorne, dass er stolperte, doch ich lief weiter und zog Liam mit mir mit. Zusammen stolperten wir die Stufen runter, liefen über den sandigen Boden und blieben etwa in der Mitte abrupt stehen. „Hier etwa habt ihr angehalten. Du hast dich kaum bewegt. Der Mann hielt eine Waffe an deinen Kopf." Ich imitierte es mit meinen Fingern und tatsächlich zuckte Liam kurz zusammen. Ich fuhr fort: „Nebel sollte eine Ablenkung organisieren und verschwand. Der Mann schien mit dir auf jemanden zu warten. Er schaute sich immer wieder um." Ebenso wie er wendetet ich meinen Blick, was Liam wahrzunehmen schien. „Plötzlich gab es eine Explosion, die euch von den Füßen riss." Ich packte Liam etwas fester und warf mich mit ihm zu Boden. „Die Explosion war nicht allzu stark, aber sie reichte als Ablenkung, damit ich zu euch spurten und einem der Männer eine Waffe abnehmen konnte. Damit schoss ich ihn an und machte ihn kampfunfähig. Die Frau, die mit euch hier war, schoss ich ebenfalls an, doch sie erwischte mich leider mit ihrer Waffe am Oberarm. Ich schrie auf." Liam schien in einer anderen Welt zu sein, denn er reagierte nicht darauf, dass ich aufgehört hatte zu reden, sondern lag ganz ruhig am Boden neben mir. Ich versuchte mich an mehr Details zu erinnern. „Es waren also drei Schüsse. Peng Peng Peng." Liam rührte sich nicht. Ich musste aus meiner Perspektive heraus und versuchen zu rekonstruieren, was mit Liam geschehen war. „Der Mann, der dich festgehalten hatte, zerrte dich hoch und hielt dich fest gepackt." Ebenso wie es der Mann gemacht hatte, machte ich es auch mit Liam, der aufstöhnte und sich ein wenig zu wehren versuchte. „Ich sagte: „Lass Liam gehen!" Aber der Mann sagte ungefähr, dass er dich erschießen würde, wenn ich etwas mache. Genau weiß ich es nicht mehr." Liam hatte neben mir angefangen zu zittern. Jetzt kam der für mich emotional schwerste Teil. „Nebel rief: „Hände hoch!" Der Mann drehte sich reflexartig um und schoss aus einer Intention heraus auf sie. Die Kugel traf ihr Herz. Sie hatte nicht einmal eine Waffe." Ich hielt inne und schluckte schwer. Als ich weitersprach klang meine Stimme rau und traurig. „Der Mann war überrascht, ein Kind getroffen zu haben und abgelenkt. Ich rannte zu ihm, schlug in mit den Lauf der Pistole nieder und schoss auf seinen Bauch. Ich glaube nicht, dass er gestorben ist, aber ich wollte mich für Nebel rächen." Liam räusperte sich. „Du, du hast irgendetwas zu ihm gesagt." Ich dachte nach und erinnerte mich an meine Wut und den Gedanken an Rache, noch bevor ich wusste dass Nebel sterben würde. „Auge um Auge, sagte ich, Auge um Auge." Liam fuhr fort: „Ich zog die Mütze von meinem Kopf oder?" Ich nickte. „Du zogst sie ab und betrachtetest entsetzt und verwirrt die Umgebung um dich herum. Ich sprintete zu Nebel und beugte mich zu ihr hinunter." Ich brach ab und Liam sagte leise. „Ich folgte dir und sagte, als Nebel aufgehört hatte zu atmen, dass du ihr nicht mehr helfen könntest. Ich zog dich hoch und weg von ihr. Ich sah die Polizisten kommen." Unweigerlich stand ich auf der Stelle, wo Nebel gestoben war und blickte in den nassen Staub unter mir. Er war noch ein wenig braun. Braunes, getrocknetes Blut. Nebels Blut. Ich hatte schon viel mehr Menschen sterben sehen. Ich seufzte und blickte wieder auf. „Du hast Recht. Heißt das, dass du dich wieder erinnern kannst?" Liam zögerte. „Nicht an alles, da ist ein großes Loch in der Mitte." Ich legte meine Hand auf seine Schulter. „Das ist nicht schlimm, erzähl mir davon, vielleicht kommt dann mehr." Liam nickte zustimmend. „Eine gute Idee, aber bitte lass uns von diesem Ort verschwinden, er ist nicht gut." „Du hast Recht, lass uns von hier verschwinden und bei einer Tasse Kakao darüber reden."

Sun machte uns sofort Kakao als wir zurück waren und blieb bei uns in der warmen Küche, um uns zuzuhören. Liam begann mit seiner Erzählung, während er die zweite Tasse trank. Er wirkte irgendwie glücklich und entspannter. Ich beneidetet ihn, war ich doch nie so richtig glücklich gewesen. Nicht hier. Vielleicht in einem alten Leben. „Ich erinnere mich an meine Zeit, bevor ich hier her kam. Es ist ein großes, helles Haus, mit hohen weißen Wänden und viel Licht. Wenn die Fenster offen sind, spielt der Wind oft mit den langen, leichten Vorhängen. Es ist so schön dort, wenn die Eingangshalle von Sonnenlicht durchflutet wird und die Melodie einer Geige das Haus erfüllt." Er hielt einen Moment sehnsuchtsvoll inne und schloss mit einem Lächeln die Augen. So sehr ich mich auch bemühte, ich konnte mir ein Sonnen und Lichtdurchflutetes Haus nicht vorstellen. Ich hatte so etwas nie gekannt, seit ich meine Erinnerungen verloren hatte. Liam erzählte weiter: „An unsere gemeinsame Zeit erinnere ich mich leider wenig. Als du von uns getrennt wurdest, musst du etwa 11 gewesen sein und ich sieben. Jetzt bin ich 14 und du 18." Ich unterbrach ihn. „Ich bin noch nicht 18, erst in etwa einem Monat." Liam schüttelte den Kopf. „Nein, du hattest vor vier Tagen Geburtstag. Am 10.Mai." Verblüfft hielt ich inne und dachte darüber nach. Auch gut. „10ter Mai", vorsichtig probierte ich den Klang der Worte aus und genoss es. Es fühlte sich gut an. Eine Frage hatte ich aber jetzt doch. „Was ist passiert, dass wir getrennt wurden?" Liam dachte angestrengt nach. „Das weiß ich nicht so genau, tut mir leid. Du und unsere Mutter wart wohl zusammen in einem Park in der Nähe spazieren als die Explosion ausgelöst wurde. Unser Vater sagte, dass euch die Detonation getötet hätte. Die Leiche unserer Mutter wurde auch gefunden, aber deine nicht", erklärte er möglichst vorsichtig. Mein Mund war ganz trocken geworden und ich fühlte Wut in mir. „Bitte was?!" Liam zuckte hilflos mit den Schultern. „Mein Vater verbot mir, über unsere Mutter und dich zu sprechen. Erst nach seinem Tod versuchte ich dich zu finden." Sun mischte sich ein. „Wer kümmert sich denn normalerweise um dich?" „Marta", antwortete Liam und seine Augen leuchteten dabei. Schien wohl ein sehr netter Mensch zu sein. Dennoch hatte ich das Gefühl gerade etwas über das Leben eines anderen zu erfahren. Das war nicht mein Leben, meines spielte sich hier ab, hier in diesem Drecksloch. Das Leben des anderen Jungen hatte perfekt geklungen und er war leider gestorben. Es musste eine Verwechslung sein. „Ich habe ein großes Haus geerbt und weil unsere Eltern reich waren, konnte Marta, unsere Haushälterin sich weiterhin um mich kümmern. Sie ist echt nett." „Du lügst, das sind alles Lügen. Verdammte Lügen, die du dir ausdenkst!", unterbrach ich ihn zornig. Sun legte beruhigend seinen Arm um mich. Er wandte sich freundlich an Liam. „Kannst du das beweisen?" Liam nickte. „Ja, ich habe bei uns im Keller Bilder gefunden, wo wir vier darauf sind. Das bist eindeutig du Ice. Ich kann sie dir zeigen", bot er an und ergänzte „Ich muss ohnehin zurück nach Hause, Marta macht sich bestimmt große Sorgen." „Klar", sagte ich bissig, „Ich werde einfach mit dir durch das große Tor wandern, mir ein paar Fotos anschauen und dann wiederkommen." Ich atmete tief ein und aus. „Wenn ich dieses Viertel verlassen, war es das für mich. Ich werde Sun nie wieder sehen und mein altes Leben hinter mir lassen müssen. Überhaupt, warum darfst du hier rein und raus. Nicht nur, weil deine Eltern reich waren!" Liam verstand meinen Einwand und sagte: „Unsere Eltern, Ice, es sind unsere Eltern und sie hatten bestimmt nicht genug Einfluss. Ich weiß es aber nicht. Mir fehlt etwas entscheidendes, etwas das sehr wichtig ist. Ich glaube, dass Marta uns helfen kann." Skeptisch schüttelte ich den Kopf. „Vielleicht, vielleicht auch nicht. Du kannst gerne raus gehen und mit den Erinnerungen und Fotos wiederkommen. Dann und nur dann glaube ich dir. Für mich gibt es keine Möglichkeit, hier raus zu kommen. Nicht in diesem Leben." Sun schüttelte heftig den Kopf. „Das ist nicht wahr Ice und das weißt du. Weißt du sehr genau. Du hast dein Leben noch vor dir, du solltest es nicht inmitten dieses Drecks verbringen müssen." „Nein!" unterbrach ich ihn. „Nein, ich mache den Test nicht!" Sun lachte. „Ice, du bist ersetzbar, jetzt sei doch nicht so edel. Du hast doch immer nur an dich gedacht, warum scherst du dich jetzt um einen alten Mann, der nur noch einige Jahre vor sich hat?" Ich musste an Lives Worte denken. „Wie edel von dir."... „Edel geht die Welt zugrunde" Sun redete schnell weiter. „Das ist die Chance, endlich das schwarze Loch in dir zu füllen, zu zeigen, wer du wirklich sein kannst. Du hast einen guten Kern in dir, aber hier drinnen hast du keine Chance, das auch zu zeigen – bitte Ice, mach es für mich." Ich wusste, dass er mich einfach nur überzeugen wollte, damit ich es gut hatte und ich glücklich sein konnte. An sich dachte er dabei nicht. Aber er würde mich vermissen, sich jeden Tag fragen, wie es mir ginge. Sun bemerkte meine Unentschlossenheit. „Du könntest mich einmal im Jahr besuchen. Vielleicht sogar öfter, weil Liam da Kontakte zu haben scheint." Ich zögerte und focht einen inneren Kampf aus. Es brachte nichts, aus falschem Stolz hier zu bleiben und an Sun zu hängen, obwohl er mir etwas anderes wünschte. Er würde sauer auf mich sein, diese Chance weggeschmissen zu haben. Auf der anderen Seite glaubte ich nicht an den guten Kern in mir. Irgendetwas in mir drin sagte mir, dass ich keine gute Bestimmung in mir hatte und ich das Randviertel nicht verlassen durfte. Sun hatte nicht Recht, in meinem inneren war ich nicht gut. Außerdem liefen meine Geschäfte hier drinnen gut, mir gefiel dieses Leben. Es war einfach, aber gut. Liam riss mich aus meinen Gedanken. „Und Ice, gehst du, machst du den Test?"


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