9 - Losgelöstheit
Disziplin kann zu Erfolg führen.
Ihr Mass entscheidet ob süss oder bitter.
Das Ganze im Blick
Stetig strebend
Mit kontinuierlicher Disziplin
Losgelöst vom Ergebnis
Der Weg ist das Ziel, existierend im Jetzt.
※※※
Ich fühle mich leicht, als ich mit dem sanften Licht des bewölken Morgens erwache. Die Stille um mich herum ist entspannt und angenehm. Sie sind noch in ihren Welten, ihre Rückkehr kann jedoch nicht mehr lange auf sich warten lassen. Also verharre ich weiter ruhig und geniesse unser aller Frieden. Heute wird ein guter Tag, es ist eine gute Geschichte, sie werden sie mögen.
Das Leben erwacht um mich und mit ihm drücken ein paar sehr zarte Sonnenstrahlen durch das Grau.
«Soll ich euch die Geschichte draussen erzählen?»
Zustimmendes Gezwitscher von Lenny, bringt mich zum Lächeln. Wenn Lenny nach draussen will, werden die anderen ihm treuherzig folgen. Eine dicke Decke und einige Nüsse greifend, öffne ich die Tür. Im Vergleich zum harschen Wetter in der vergangenen Zeit, empfängt uns heute ein milder Wind. Er lockt uns alle mit seinem Ruf nach draussen. Dort wo das milde Sonnenlicht hinfällt, breite ich die Decke aus und beginne zu erzählen.
«Also dort wo sich diese Geschichte ereignete, kann es auch sehr kalt werden...»
※※※
Heulend peitscht der eisige Wind durch die Strassen. Ihre Jacke enger um ihren Körper ziehend, nimmt Sweta den Hauch des Winters wahr, welcher in der Luft liegt und noch kältere Temperaturen verspricht. Ihre Hand, die den kleinen Flechtkorb mit dem Gemüse vom Markt umklammert, ist bereits eiskalt. Eigentlich sollte sie direkt nach dem Einkauf wieder nach Hause, doch ihr Blick bleibt an einen Flugblatt hängen. Während sie die Zeichnung studiert und die Buchstaben zu entziffern beginnt, verdrängt das aufkommende Leuchten in ihren Augen, sämtliches Kälteempfinden und die Existenz der Zeit.
Als sie wieder in die Gegenwart zurückkehrt, setzt sich ein weiterer Ausdruck in ihr Kindergesicht. Zielgerichtet und mit sattem Schritt kehrt sie in den kleinen Laden ihrer Eltern zurück. Sofort umfängt sie der Duft von Leder und Schmiere. Das Wachs rundet die Komposition sanft ab.
Ihren Vater findet sie wie immer hinten in der Werkstatt. Zu Swetas Glück ist er gerade allein, Ilja musste wohl gerade bei einer Auslieferung sein. Für Sweta, die noch immer den Gemüsekorb umklammert hält, die ideale Gelegenheit.
«Papa, ich will zu diesem Vortanzen gehen.» Überrascht aus seiner Arbeit aufschreckend, dreht er sich zu ihr um. Mit warmem Blick umfängt er das Antlitz seiner Tochter, welches noch die Spuren der Kälte auf sich trägt.
«Was meinst du meine Kleine?»
«Diese Flugblätter draussen. Ich will zu diesem Vortanzen, Papa.» Um ihren klaren Willen zu unterstreichen, stemmt sie die freie Hand in ihre Hüfte, was bei ihrem zarten und kleinen Körper nicht annährend so eindrucksvoll wirkt, wie sie es sich wünschen würde.
Ihr Vater blickt irritiert. Er weiss nicht genau, was er nun sagen soll, ohne vorher mit seiner Frau darüber gesprochen zu haben.
«Lass und das später besprechen, ja?»
«Nein. Ich will das und ihr müsst mich gehen lassen.»
Wenige Tage später, es ist dieser Tag des Vortanzens, drängt sich die kleine Familie durch die Menge, um Sweta anzumelden.
«Ehm, darf ich fragen, wie das mit den Gebühren aussieht», fragt Swetas Vater nervös bei der Anmeldung. Ihm wird ganz flau im Magen, wenn er an die Kosten denkt.
Seit einiger Zeit geht es bei ihm mit den Aufträgen zwar wieder bergauf und daran war diese Tanzschule in St. Petersburg nicht ganz unbeteiligt. Aufgrund der hohen Nachfrage an Tanzkünsten, mussten schnell neue Tänzer herangezogen werden. Die Ausbildung war hart und dauerte Jahre, dennoch konnte die Schule bereits beachtliche Namen vorweisen und die Absolventen erfreuten sich grosser Beliebtheit. Dadurch stieg auch der Bedarf an Tanzschuhen und sämtliche kleinen Schuhmacher um St. Petersburg wurden in die Pflicht genommen.
«Wenn sie in Frage kommt, werden Sie alles weitere erfahren», beantwortet der Mann harsch und ohne aufzusehen, seine Frage.
«In Ordnung, danke», stammelt Swetas Vater, immer noch unruhig und schiebt dann seine Frau und kribbelige Tochter voran.
Während sich Swetas Eltern verloren in der Masse fühlen und kaum ein System in dem vielen hin und her erkennen können, fixiert sie die Bühne. Genau genommen trifft ihr Blick auf einen noch sehr jungen stattlichen Mann. Er sieht entspannt und humorvoll aus, als würde er das alles hier nicht recht ernst nehmen. Seine Kleidung spricht von seinem hohen Stand und Sweta ist augenblicklich klar, wen sie zu überzeugen braucht. Ohne den anderen Beachtung zu schenken, beobachtet sie nur ihn. Ihre kühlen blauen Augen nehmen jede Regung wahr. Schnell erkennt sie, was ihn langweilt, was ihm gefällt und was ihm gänzlich missfällt.
Verbissen geht sie immer wieder in Gedanken ihre Bewegungen durch. Seitdem sie das erste Mal eine Tänzerin, in Begleitung eines stattlichen Herrn in ihrem kleinen Laden sah, träumt sie davon, selbst zu so einer eleganten Frau zu werden. Die Körperhaltung, die fliessenden Bewegungen und die Anmut, die die junge Frau ausstrahlte, brachten Swetas Augen zum Leuchten und ihren Geist zum Träumen. In jede Bewegung, die sie seither machte, versuchte sie diese Anmut zu legen. Auch wenn ihre Möglichkeiten begrenzt waren und sie noch nicht viele Lebensjahre zählte, hat sie einen natürlichen Sinn dafür, was sich schön anfühlt und welche Bewegungen harmonisch sind.
Aus ihren Gedanken und Beobachtungen auftauchend, realisiert sie, dass einige Zeit an ihr Vorbeigezogen sein muss. Ihre Eltern drängen sie gerade auf die kleine Bühne zu und lächeln sie unsicher an, in der Hoffnung ihr so Kraft zu spenden.
Doch Sweta weiss, was sie tut, jede Bewegung sitzt, wie sie es geübt hatte. Ihre Blick liess sie dabei immer auf dem jungen Mann und fesselte ihn damit an ihre Darbietung. Als sie endete und dem Austausch weiterhin standhielt, erhebt sich der Mann und ein Lächeln breitet sich über sein freundliches Gesicht aus. Seine grauen Augen mustern Sweta von Kopf bis Fuss und kehren dann erneut zu ihrem hungrigen Blick zurück. Da brennt definitiv ein Feuer in ihr, denkt er sich und entscheidet augenblicklich.
Mit Blick auf die Liste, spricht er sie nun direkt an:
«Du bist Sweta Worobjowa?»
«Ja.»
«Folge bitte Dimitri dort, er wird dich und deine Eltern zur gesundheitlichen Untersuchung führen. Dort werdet ihr auch alle weiteren Einzelheiten erfahren.»
Sweta nickt und ein kurzes schmales Lächeln kräuselt ihre Lippen. Dabei verliert sie nicht einmal ihre Haltung.
Wenig später befindet sie sich mit ihren Eltern in besagtem Raum. Während ihre Eltern ein wenig besorgt das Vertragliche regeln, lässt Sweta die Untersuchung ihrer Füsse und Gelenke über sich ergehen.
Als die anschliessend zurück zu ihren Eltern geführt wird, meint der Mann:
«Etwas klein und zierlich, aber sie sollte es schaffen. Sonst ist sie in einem akzeptablen Zustand.»
«Sie meinen also, dass sie die Schule bestehen kann?», fragt nun ihr Vater unruhig. Ihm ist es nicht geheuer, die ganzen Zahlen, die Tatsache, dass seine kleine Tochter für so viele Jahre weg sein würde. Doch sie wird es danach besser haben. Sie lernt Sprachen und einen Beruf für den nicht alle geeignet sind und der immer gefragter ist. Vielleicht gelingt es ihr sogar einen Gönner für sich zu gewinnen.
Allein die Reise in die Stadt St. Petersburg selbst ist etwas, woran sich Sweta immer erinnern würde. Als sie dann mit den anderen neuen Schülern durch das stattliche Gebäude geführt wird, überkommt sie ein Schauer. Tief einatmend nimmt sie die verschiedenen Gerüche wahr. Doch ganz lässt sie sich nicht davon vereinnahmen. Denn ihr ist klar, diese Kinder um sie würden ihre neue Familie, aber auch ihre ärgsten Konkurrenten werden.
Ihr Zimmer teilt sie sich mit zwei anderen Mädchen, die sich ihr als Anna und Jekaterina vorstellen. Sweta mag die beiden, doch sie ist zum Tanzen gekommen. Sie würde die beiden beobachten, schauen, ob sie eine Bedrohung für ihren Erfolg sein würden.
Doch zum Tanzen gehörte noch so einiges mehr dazu. Stunden verbringt sie damit, lesen und schreiben zu lernen. Nicht nur ihre Muttersprache ist dabei wichtig. Von Anfang an werden sie und ihre Mitschüler in Französisch, der von den Tanzlehrern meist verwendeten Sprache unterrichtet. Auf diesen Grundlagen, kombiniert mit intensivem Basisüben im Tanz selbst, kommen bald auch Lektionen in Musik dazu.
Wie schon bei dem jungen Herrn, der sich an einem grösseren Schulanlass, tatsächlich als wichtiger Repräsentant der grössten Gönnerfamilie herausstellte, fixiert Sweta ihr Ziel eine hervorragende Tänzerin zu werden. Häufig ziehen die Stunden an ihr vorbei, während sie nur Augen und Ohren für den Lehrer hat. Ihre Mitschülerinnen tuscheln in diesen Momenten hinter ihrem Rücken, wobei sie es auch neben ihr tun könnten, sie würde es nicht merken.
«Wie kannst du nur so fokussiert sein, Sweta?», fragt Jeakterina in ihrem dritten Jahr an der Schule. Augenblicklich heftet Sweta ihren kühlen Blick auf ihre Zimmergenossin.
«Ich weiss, was ich will, also lass ich mein Ziel nie aus den Augen.»
«Ja, aber brauchst du keine Pause? Findest du nicht, dass sie uns sehr hart angehen? Ich mein, sieh dir meine Füsse an. Von den vielen Ballettübungen sind sie ganz blau und meine Nägel...»
Sweta blick an sich herunter. Zehn Jahre jung ist sie mittlerweile und zu ihrem Verdruss, scheint ihr Körper keine Anstalten zu machen, in die Höhe zu schiessen. Auch ihre Füsse zeigen die Spuren vom vielen Üben. Doch sie kann den Schmerz kaum spüren. Viel mehr rauscht augenblicklich dieses unglaubliche Gefühl durch ihre Adern. Dieses Gefühl, wie sich ihre Muskeln anspannen, wie sie die absolute Kontrolle über jede einzelne Bewegung hat und ihr Atem. Das fliessen ihres Atems, der sie durch jede Pirouette, durch jedes Arabesque zu tragen scheint.
Berauscht sieht sie ihre Freundin an.
«Nein, Pause machen kann ich, wenn ich alt bin.»
Jekaterina blickt fasziniert und ehrfürchtig zu ihr.
«Ich wünschte, ich könnte etwas mehr sein, wie du. Mich massregeln sie immer und dem Maître kann ich nichts recht machen.»
Mit wenig erbarmen sieht Sweta sie an.
«Dann musst du dich mehr anstrengen.»
«Aber...»
«Ich muss jetzt los. Ich will vor dem Musikunterricht nochmals in den Tanzraum.»
Damit lässt sie die sprachlose Jekaterina einfach stehen und verschwindet nach draussen.
Es ist Herbst und bereits kühl, stellt Sweta fest, als sie über den Innenhof geht, um den Wohntrakt hinter sich zu lassen. Vor ein paar Tagen erreichte sie ein Schreiben ihres Vaters. Eigentlich freute sie sich über Briefe, auch wenn diese nur spärlich kamen, denn ihr Vater konnte kaum Schreiben. Diesmal jedoch stand darin etwas, was sie ein wenig beunruhigte. Die Schulgebühren wurden für ihn immer mehr zur Last und er bat Sweta inständig darum, wenn sie nun in die höheren Klassen aufstieg, einen Sponsoren von sich zu überzeugen.
Druck baut sich in ihrem schmal gebauten Körper auf. Ihr Können unterscheidet sich definitiv von dem ihrer Freunde und dennoch gibt es darunter einige, die von der Statur eindeutig Vorteile ihr gegenüber haben. Augenblicklich strafft sie ihre Schultern, während sie leise in den noch leeren Tanzsaal huscht. Ohne die Führung durch das Piano ist es zwar nicht dasselbe, aber ihre Fantasie reicht aus, um sich den Tackt und die Melodie dazuzuholen.
Mit dem erklingen der ersten Töne begibt sie sich in Haltung. Jeder Muskel ist gespannt, ihr Atem geht im Rhythmus der Töne. Dann kommt ihr Einsatz. Kraft und Dynamik durchdringen sie. Jede Bewegung führt sie bis zur Perfektion aus und scheint dabei zu zergehen, zu schmelzen und dennoch ist da diese Energie. Elektrisiert treibt sie ihre Muskeln immer weiter, schnell sind sie warm und gehorchen ihrem Willen.
Als die Melodie verstummt und ihre Bewegung zu Ende geht, öffnet sie erschrocken die Augen. Das Klatschen kommt von der Tür. Sofort fixiert sie den Störenfried. Doch die Gewitterwolken, die gerade drohten in einem Sturm über den Eindringling einzubrechen, verfliegen sofort, als sie ihn erkennt.
Schnell vollzieht sie den gebührenden Knicks, hebt danach jedoch gleich wieder den Blick und starrt in seine grauen Augen.
«Du bist gut geworden Sweta. Elegant wie ein Schwan», sagt Aleksey Dolgorukow bezaubert.
«Danke.»
Auch wenn sie die Etikette kennt, bewegt sie sich nicht und hält den Blickkontakt aufrecht. Ein leicht verlegenes Lächeln kräuselt seine schönen Lippen. Noch nie, wurde er so ehrlich und offen von jemandem Durchleuchtet. Dabei kann er keine Vorurteile, keine Hintergedanken erkennen, einfach pure und offene Neugierde. Verlegen räuspert er sich und bricht den Kontakt bewegt ab.
«Ich werde dann mal meinen Pflichten nachgehen, das solltest du auch, der Unterricht beginnt gleich.»
Swetas blaue Augen mustern ihn noch kurz, bevor sie ihre Sachen greift und den Saal verlässt. Nachdem er sich ein wenig sammeln konnte, folgt ihr Aleksey und verliert sich im Tag und seinen Aufgaben. Mit seinen Gedanken jedoch schweift er immer wieder zu der äusserst präzisen Darbietung der jungen Schülerin.
«Ich könnte schwören, dass ich die Musik gehört habe...», murmelt er immer wieder leise vor sich hin, gefolgt von einem unverständlichen Kopfschütteln. Ich werde sie im Blick behalten...
Zurzeit der Wintersonnenwende ist für die höheren Semester, zu denen Sweta mittlerweile zählt, immer eine grosse Aufführung als Teilabschluss und zur Gewinnung erster Sponsoren angesetzt. Dafür wurden aufwendige Stücke, Musikkompositionen und Kostüme gefertigt. Kein Aufwand war der Schule zu viel, um ihre Gönner weiter bei Stange zu halten. Ihr Überleben hängte davon ab.
Sweta arbeitet wie keine andere an ihrer Rolle, auch wenn ihr Ausbruch darüber, nicht die Hauptrolle tanzen zu dürfen, für ziemlich viel Wirbel gesorgt hatte. Mittlerweile hat sie sich damit abgefunden und zum Trotz entschieden die beste Darbietung zu liefern, dass auch jeder seine Entscheidung bereuen würde. Dabei hallen die Worte des Verantwortlichen für die Besetzung in ihren Ohren nach.
«Du bist einfach zu klein und zierlich. Du kannst die Rolle nicht tragen. So ein Charakter erfordert einen kräftigen und grossen Körper.»
«Aber ich bin die beste Tänzerin.»
«Du bist gut, ja, du hast Talent und Ehrgeiz, aber ich kann dir deine Darbietungen nicht immer abnehmen.»
Die Wut kocht in ihr. Jede Muskelzelle beginnt in ihren Bewegungen zu brennen, ohne sich zu schonen zwingt sie ihren Körper durch die Choreographie. Mittlerweile kann sie jede Rolle auswendig und authentisch, auch wenn die Maître es leugneten. Sie weiss es, sie fühlt es in sich. Spannung und Kontrolle bis in die letzte Pore.
Der Schweiss rinnt ihr übers Gesicht, als sie die Wut endlich aus dem Körper getanzt hat. Schwer atmend hebt und senkt sich ihr Brustkorb. Ihr Erscheinungsbild im Spiegel betrachtend, lässt sie einen Moment mit dem Abtrocknen innehalten. Ihr kalter Blick lässt sie selbst erschauern. Ich dachte die Wut sei weg...sie hat sich in meinen Augen versteckt.
Am Tag der grossen Aufführung schleicht sich Nervosität in Sweta. Immer wieder fühlt sie die Not ihres Vaters. Sie kann mit Druck umgehen, schliesslich weiss sie, was sie will und trotzdem scheinen sie manche einfach nicht so zu sehen, wie sie sich selbst wahrnahm. Sie sehen mich einfach nicht. Wieso sehen sie nicht, dass ich die Richtige bin für die Hauptrolle, es immer war.
Eisig blickt sie zu der ein Jahr älteren Tänzerin. Ihr dunkles Haar hatte sie genauso straff gebunden, wie Sweta ihre blonde Mähne. Verbissen kaut sie auf ihren Lippen und versucht allzu böse Gedanken zu verdrängen. Mit tiefen Atemzügen konzentriert sie sich auf die Geräusche um sie herum. Die Gäste und Investoren waren bereits im Saal und im Begriff ihre Plätze einzunehmen. Sie konnte das Stimmengewirr sogar hinter der Bühne und durch den dicken Stoffvorhang hören.
Nur wenig später, während sie immer noch konzentriert, ihren Körper weiter aufwärmt, hört sie das Orchester eintreten. Langsam erhöht sich ihr Puls. Die Gedanken an die Ungerechtigkeit der Rollenverteilung rücken immer weiter in den Hintergrund.
Die Spannung der jungen Tänzer und Bühnenarbeiter verdichtet sich zu einer beinah zähflüssigen dicken Masse und macht das Atmen immer schwieriger. Mit Puder werden die Schweissperlen übersäten Gesichter einiger Tänzer wieder Bühnentauglich gemacht. Sweta gehört nicht zu ihnen. Ungeduldig zappelt sie auf und ab. Als die ersten Musiktakte ertönen, spannt sich ihr Körper bis zum unerträglichen. Ihre Muskeln scheinen sie anzuschreien und anzuflehen, endlich loszulegen, doch noch musste sie sich etwas gedulden.
Auf der Bühne verfällt Sweta in eine Art Rausch. Zwar sieht sie die Zuschauer kaum, dennoch kann sie die Spannung und Blicke spüren. Trotzdem weicht sie nicht ein Stück von ihrer Perfektion ab. Sie ist zeitgleich die Erlösung, um diese Spannung ertragen zu können.
Als tosender Applaus zum Ende des Stücks die Halle beben lässt, erreicht das schwindelige Gefühl in ihrem Kopf seinen Höhepunkt. Mit ihren Mitdarstellern verlässt sie anschliessend die Bühne. Sie würden erst am nächsten Tag erfahren, an welchen Schülern Interesse seitens der Gönner bestand.
Ich werde nicht von dieser Schule gehen. Swetas Gedanken kreisen wild durch alle möglichen Szenarien. Als sie dabei ankam, wieder zurück zu ihren Eltern zu müssen, stand für sie fest, dass ihr Leben dann vorbei wäre und es gnädig von ihr wäre, sich dieses Körpers zu entledigen. Tanzen ist wie Atmen. Ohne Atmen zu können, brauche ich nicht zu existieren.
Mit diesem Entschluss strafft sie wieder ihren Körper. Ohne sich richtig konzentrieren zu können, lässt sie die französisch und russisch Lektionen an sich vorbeiziehen. Mittlerweile spricht sie sowieso fliessend Französisch, sogar akzentfrei. Was dazu führt, dass der Lehrer, ein hagerer in die Jahre gekommener Künstler, sie gerne dazu auffordert, den anderen zu zeigen, wie es richtig geht. Normalerweise macht es Sweta nichts aus, doch heute will sie nicht aus ihrer Gedankenwelt gezerrt werden. So vieles hängt von der heutigen Entscheidung ab.
Nach dem Mittagessen steht der Tanzunterricht an und dort werden die Entscheidungen auch offenbart. Jeder Muskel befindet sich unter Spannung, während Sweta geduldig die einleitenden Worte und die ersten Verkündungen anhört. Immer mehr Namen fallen und langsam überkommt sie Panik. Doch in ihrer Ausbildung wurde ihr gelehrt, wie Gefühle ausgedrückt werden, aber auch, wie sie es schafft gewisse Empfindungen nicht zu zeigen. Dennoch kann sie ihre schlechteste Angewohnheit, auf den Lippen zu kauen, nicht ganz unterdrücken.
Als der Maître mit einem kunstvollen Seufzer und theatralischem Klatschen, jenen gratuliert, die sich einen Gönner ertanzen konnten, entfernen sich plötzlich alle Geräusche um Sweta. Wie durch Wasser nimmt sie das freudige Geplapper und die Verzückten Jubellaute wahr. Unfähig etwas zu fühlen, steht sie einfach nur da, innerlich taub und starrt den Maître an.
Dennoch merkt sie es nicht, als dieser ihren Blick erwidert und seine Lippen bewegt. Erst als er direkt auf sie zusteuert, mit unverkennbarer Haltung eines Tänzers, beginnt sie aus ihrer kalten Starre zu erwachen. Kurz kneift sie ihre Augen zusammen und versucht sich zu sammeln. Gedankenwellen brechen über sie hinein. Doch ordnen kann sie sie nicht. Also fokussiert sie sich auf das Einzige, was im Augenblick Sinn ergibt. Auf den Maître, der mittlerweile vor ihr zum Stehen kommt und sie leicht verwundert und fragend ansieht.
«Entschuldigt, ich war gerade abgelenkt.»
«Das ist mir aufgefallen. Ich sagte, dass draussen ein Herr auf dich wartet. Er hat etwas mit dir zu besprechen und bestand darauf dies persönlich zu tun. Bitte. Er wartet.»
Verwirrt nickt Sweta und fühlt, dass sich ihr Körper in Bewegung setzt, noch bevor sie die aktive Entscheidung gefällt hatte. Noch immer unfähig sich zu ordnen, verlässt sie den Saal und prallt beinah mit jemandem zusammen.
«Oh, Verzeihung...ich...», blinzelnd blickt Sweta an dem kräftigen Körper hoch und stammelt weiter ihre Entschuldigung, noch bevor sie erkennt, wem sie da auf den Füssen stand. «Ich bin nicht ganz bei mir...»
«Du musst etwas vorsichtiger sein. Du bist meine wertvollste Investition kleiner Schwan.»
Als sie die Stimme erkennt, will sie instinktiv einen weiteren Satz nach hinten machen, doch eine starke Hand hält sie davon ab.
«Kein Grund gleich in die Wand zu hechten.» Die Stimme ist von Amüsement durchdrungen.
«Verzeihung und danke», erwidert Sweta erneut mit Blick auf ihre Füsse.
«Wo ist bitte mein intensiver Blickkontakt? Habe ich mir den nicht verdient?»
Verwirrt blickt sie empor und trifft auf seine grauen Augen, die sie immer noch Lächelnd mustern.
«Ich verstehe nicht...», antwortet sie und hält dem Austausch diesmal stand.
«Ich habe gesagt, dass du meine wertvollste Investition bist. Weisst du eigentlich, was es mich gekostet hat, die anderen zu überbieten?»
«Wie...also ich versteh noch immer nicht.»
«Du warst Gesprächsthema Nummer eins unter den Gönnern. Es hat mich eine ganze Stange Geld gekostet, um dein Sponsor werden zu können.»
Fassungslos starrt sie ihn an. Diesen grossen beinah hünenhaften jungen Mann, mit den grauen Augen, die so typisch für seine Familie sind.
«Aber mich hatte doch niemand...ich wurde eben nicht aufgezählt.»
Wieder breitet sich ein Grinsen in seinem Gesicht aus.
«Das war mein Wunsch. Ich wollte es dir persönlich sagen.»
«Aber wie...?»
«Also ich kenne ja deine Disziplin und Strenge, aber wenigstens mit einem Danke und einem Lächeln habe ich gerechnet.»
Sofort schiesst Sweta die Farbe ins Gesicht. Glühend heiss pulsiert ihr Blut, durch ihre Wangen. Verlegen senkt sie den Blick.
«Es ist nur so unglaublich. Danke. Ich verdanke euch mein Leben. Ich werde dafür sorgen, dass jeder bezahlte Rubel gut investiert ist.» Damit verbeugt sie sich tief und fasst mit ihren Händen an ihr Herz.
«Ich habe keine Sorgen, dass dem nicht so wäre. Dennoch habe ich jemanden aus Frankreich kommen lassen, bei dem du in Zukunft Extratanzunterricht erhältst. Er ist einer der bekanntesten Tänzer und mittlerweile ein begehrter Maître. Er sollte in einigen Tagen hier sein.»
Erstaunt hebt Sweta ihren Blick und ihre Pupillen weiten sich.
«So schnell?»
Ein verschmitzter Ausdruck ergreift sein Gesicht.
«Ich habe an jenem Tag im Herbst mit der Suche begonnen.»
«Ihr wusstet schon...?» Doch diesmal antwortet er nur mit einem vielsagenden Blick. «Ich weiss nicht, wie ich meine Dankbarkeit ausdrücken soll.»
«Mach einfach weiter so.»
Sweta nickt.
«Gut, dann geh und nimm wieder am Unterricht teil. Wir werden uns bald wiedersehen.»
Berauscht schwebt Sweta beinah zurück in den Saal. Vollkommen verzückt gleitet sie durch das heutige Programm, wobei so einigen ihr Zustand auffällt. Doch erst abends teilt sie Jekaterina und Anna mit, was ihr widerfahren ist. Sie behält jedoch auch hier einige Details zurück.
Anschliessend schreibt sie einige Zeilen an ihren Vater, bevor sie geschafft ins Bett fällt.
Nur kurze Zeit später trifft der angekündigte Maître ein. Mit einem Freudestrahlen klopft Aleksey dem zwar grossen, aber ihm dennoch nur bis zur Schulter reichenden Tänzer auf den Rücken.
«Sweta, darf ich dir deinen neuen Maître vorstellen, Monsieur Clair.»
«Freut mich Sie kennenzulernen», erwidert sie und deutet ihre höfliche Empfangsgeste an. Dabei kann sie den Mann kaum aus den Augen lassen. Neugierig analysiert sie seine Haltung. Seine Ausstrahlung ist stark und seine dunklen Augen mustern sie ebenso.
«Monsieur Clair, das ist Sweta Worobjowa. Ich musste mich gegen sehr viele interessierte Gönner durchsetzen. Sie hat viel Potenzial. Aber sie wird Euch bestimmt etwas vorzeigen, sofern Ihr nicht zu erschöpft von der Reise seid?»
«Hm. Sie ist schmächtig. Das hattet ihr nicht gesagt», spricht der Mann seine Gedanken laut aus, während Alekseys Strahlen einem düsteren Blick weicht.
«Monsieur Clair, meint ihr wirklich ich würde das Ansehen meiner Familie gefährden, in dem ich aufs falsche Pferd setze? Ihr wollt mich doch nicht beleidigen damit?»
«Sie soll zeigen was sie kann», erwidert der Maître lapidar und scheucht Sweta herablassend mit seiner wischenden Handbewegung davon.
Sweta fühlt augenblicklich die Wut in ihr hochkochen. Das warme Gefühl in ihren Wangen, verrät ihr auch ohne Blick in den Spiegel, dass sie ihre Gedanken diesmal nicht verbergen kann. Mit einem kontrollierenden Blick zum Maître, bestätigt sich ihre Wahrnehmung.
Also presst sie all ihre Wut in ihre Körpermitte. Ihr Bauch baut Spannung auf und sie wird augenblicklich grösser. Die heftigen und beinah aggressiven Klaviertöne erklingen in ihr. Doch sie wartet, atmet, fühlt die Gefühle brodelnd in sich, bis sich ihre Haut zu prickeln beginnt. Um sie knistert die Luft regelrecht, während die Klänge nach einer kurzen Pause richtig losgehen. Dies ist ihr Auftakt. Ohne zu denken, spannen sich ihre Muskel, ihre Beine bewegen sie, tragen sie durch jede Figur und lassen sie hoch in die Luft springen. Perfektion bis in den letzten Finger.
Erst als sie ihre Gefühle abflachen fühlt, taucht sie langsam wieder aus ihren Bewegungen auf. Nach ihrer abschliessenden Figur herrscht Stille, absolut greifbare Stille. Als das Heben und Senken ihres Brustkorbs langsamer wird, verlässt sie die Schlusshaltung und wendet sich Aleksey und dem Maître zu. Ein kühles Lächeln breitet sich in ihrem Gesicht aus.
Alekseys Strahlen, lässt auch ihren Blick etwas mehr Sanftheit annehmen, während er sich Monsieur Clair zuwendet.
«Habe ich zu viel versprochen?» Es dauert einen Moment, bis der Maître seinen Blick von dem Mädchen löst.
«Wir sollten miteinander zurechtkommen.»
«Wo bleibt die französische Herzlichkeit? Zurechtkommen, das will ich hoffen. Sie wird sie noch um den Finger wickeln, keine Sorge.»
Wieder fühlt Sweta ihre Wangen warm werden und richtet den Blick auf ihre Tanzschuhe. Ausser Aleksey hatte sie niemanden, der so bedingungslos an sie glaubte. Im Gegenteil, seitdem bekannt wurde, dass sie Extrastunden von einem bekannten Tänzer aus Frankreich bekommen würde, begannen die anderen Tanzlehrer sie zu ignorieren. Auch die Schüler blieben seither noch mehr auf Abstand. Alle ausgenommen Jekaterina. Selbst Anna zeigte ihr die kalte Schulter.
Als vier Jahre später der Schulabschluss immer näher rückt, wächst auch Swetas Frustration. Noch immer bekam sie keine Hauptrollen. Auch die erhofften Angebote blieben trotz den Bemühungen ihres Gönners und ihrem herausragenden Talent aus.
Nach einer weiteren Stunde mit Maître Clair, den sie mittlerweile vollkommen von sich überzeugen konnte, wurde sie von Aleksey empfangen.
«Hast du gute Neuigkeiten?», fragt sie ihren engen Vertrauten hoffnungsvoll.
«Ich möchte, dass du Morgen mit mir und ein paar wichtigen Leuten essen gehst. Sie sollen dich kennenlernen.»
«Aber Aleksey, du weisst, wie schwer ich mich mit der Etikette tue. Meine Persönlichkeit überzeugt nicht.»
Ein Lächeln erhellt sein Gesicht und vertraut legt er seine grossen Hände auf Swetas Schultern.
«Stell dir einfach vor, du würdest nur mit mir reden, kleiner Schwan.»
Durch die Nervosität leicht genervt, verdreht sie ihre Augen.
«Mit dir spreche ich zu vertraut, das würde niemals gut gehen.»
Sanft streicht er ihr über die Wange.
«Monsieur Clair wird auch dabei sein, hilft dir das?»
Frustriert schüttelt sie den Kopf.
«Und wenn ich dir verrate, dass ich dir für den Anlass ein wundervolles Kleid machen lassen habe?»
«Wie wundervoll?», fragt sie skeptisch.
Ein freches Glitzern flackert in seinen Augen auf.
«Ich werde dafür sorgen müssen, dass sie dich nicht vom Fleck wegschauen.»
Diese Vorstellung war so absurd, dass Sweta in Gelächter ausbrach. Als sie sich wieder ein wenig beruhigt hat, sieht Aleksey sie nochmals genau an.
«Du kannst auch deinen Tanzpartner mitbringen. Wie heisst der Zwerg nochmals?» Das bringt ihm ein erneutes Augenrollen von Sweta ein.
«Für dich sind wir alle Zwerge, wieso nennst du mich nicht auch so?»
«Weil du etwas besonderes bist, du bist klein, ja, aber du bist auch so elegant und wundervoll, wie ein Schwan.»
Mit heissen Wangen und gesenktem Blick willigt Sweta schliesslich ein.
Wider Erwarten verläuft das Essen gut. Sie konnte noch nicht einschätzen, ob es ihr auch die Türen öffnen würde, doch diesmal hat sie zum ersten Mal ein einigermassen gutes Gefühl.
Eine endgültige Zusage bekommt sie allerdings erst nach der Schlussaufführung. Doch sie gilt nur ihr, nicht ihrem Tanzpartner. Sie schätzte ihn, war allerdings auch nicht sonderlich enttäuscht. In letzter Zeit wurde er immer aufdringlicher und Sweta hatte Mühe ihn auf Distanz zu halten. Auch wenn sie von Jekaterina weiss, dass heimlich so einiges hinter verschlossenen Türen lief, was den lieben Gott schwer erzürnen würde. Sie hatte daran kein Interesse.
«Habe ich dir zu viel versprochen mein kleiner Schwan?», erklingt Alekseys starke Stimme hinter ihr.
«Ich darf mit dem grossen St. Petersburgballett tanzen. Das ist beinah das Beste, was ich mir vorstellen kann.»
«Beinah?»
«Also, ich möchte endlich eine Hauptrolle und ausserdem habe ich von Moskau gehört.»
Amüsiert beobachtet er das Leuchten in Swetas Augen.
«Das wirst du bestimmt auch noch schaffen.»
«Ich wünsche es mir so sehr.»
«Ich weiss und ich werde mein Bestmögliches geben, dich zu unterstützen.»
Der einzige Mensch, der diese Wärme in Swetas Augen hervorbringen konnte, seitdem ihr Vater vor zwei Jahren verstarb, war Aleksey und es verschlägt ihm jedes Mal den Atem.
«Ich hatte da noch eine Idee.»
«Und welche?»
«Ich bin nicht sicher, ob du sie magst. Schliesslich hattest du deinen Vater sehr gern.»
«Sag schon.»
«Ich finde wir sollten dir einen passenderen Nachnamen geben für dein Tänzerinnendasein.»
«Woran hast du gedacht?»
Ihr Herz klopft bis zum Hals. Da steht ihr Name, ganz klein und weit unten, doch er steht da. Gänsehaut breitet sich über ihrem Körper aus. Sweta Lebedewa. Noch immer erhellt sich ihr Gemüt, wenn sie an die damalige Unterhaltung denkt. Es ist das persönlichste Geschenk, welches Aleksey ihr machen konnte. Seinen Kosenamen für sie im Nachnamen zu verankern. Sie wollte ihm die Ehre erweisen, ganz oben in den Programmen zu stehen.
Monsieur Clair konnte es ich auch nicht erklären. Aleksey, der immer mehr in die Geschäfte seiner Familie verwickelt war, hatte dafür gesorgt, dass der Maître an seiner statt auf sie achtgab. Dennoch verpasste er nicht eine ihrer Aufführungen.
«Ich versteh es auch nicht Sweta. Du tanzt besser als die meisten, aber du bist noch so jung, vielleicht liegt es daran. An deiner Disziplin kann es jedenfalls nicht liegen. Du bist immer die erste die hier ist und die letzte, die geht.»
«Wollen die warten, bis ich so alt bin, dass ich nicht mehr tanzen kann?» Ärger macht sich breit, jahrelang musste sie es in der Schule akzeptieren und nun auch hier.
«Das wird noch sehr lange nicht der Fall sein, ma Petite.»
«Das weisst du nicht. Ich könnte mich verletzen oder krank werden.»
Das bringt den Maître zum Lachen, in all den Jahren, in denen er nun mit Sweta arbeitet, hat er sie nicht ein einziges Mal krank erlebt.
«Krankheiten fürchten sich zu sehr vor dir Sweta. Du siehst sie so böse an, dass sie schreiend davon laufen.»
Auch Sweta kann nicht umhin, darin eine gewisse Wahrheit zu erkennen und das Lachen löst den kalten Knoten in ihrem Magen.
Als sie bei der nächsten Rollenverteilung allerdings erneut nicht die Hauptrolle erhält, platzt ihr der Geduldsfaden und wütend konfrontiert sie den Organisator damit.
«Weisst du, es ist nicht so, dass ich dich gar nicht in der Rolle sehen würde. Aber es ist so, als würdest du es so verbissen wollen, dass es abschreckend auf mich und die anderen wirkt.»
Schockiert blickt Sweta ihn an. Sie kann nicht glauben, was er da sagt. Die Worte scheinen in ihrem leergefegten Kopf nachzuhallen. Als sie ihre Sprache wiederfindet, erwidert sie leise:
«Aber ich tanze so diszipliniert, wie sonst keiner.»
«Ja, Liebes, aber das ist vielleicht auch das Problem. Vielleicht musst du einfach auch mal loslassen. Lebe. Die Rolle wird dich dann finden, wenn du dich selbst besser kennst.»
«Ich soll loslassen?» Für Sweta stehen die beiden Dinge so konträr zueinander, dass sie Mühe hat es zu erfassen.
«Darf ich dir einen Vorschlag machen?»
Sweta nickt.
«Du tanzt dieses Ensemble noch mit. In der Zwischenzeit frage ich Aleksey, ob er mit dir eine Reise unternehmen kann. Damit du etwas von der Welt siehst. Wenn du zurückkommst, sprechen wir zusammen und du tanzt mir vor. Wenn ich dann sehe, was ich erwarte, bekommst du die nächste Hauptrolle und eine Empfehlung nach Moskau.»
Die Oppositionen in Sweta werden immer grösser. Das Angebot ist unglaublich. Moskau. Davon träumt sie seit einigen Jahren. Aber wieso sollte sie davor die Welt kennen lernen? Sie würde unmöglich täglich praktizieren können.
«Aber...wenn ich aus der Übung komme?», äussert sie ihre Bedenken mit dünner Stimme.
«Sweta, Disziplin ist wichtig. Aber wenn sie zu viel wird, ist sie bitter und verliert die Leichtigkeit. Du wirst das Tanzen wegen ein paar Wochen oder Monaten nicht verlernen und Monsieur Clair soll euch begleiten, dann kann er schon darauf achten, dass du deine Beweglichkeit nicht verlierst.»
Nach mehreren Monaten, in denen sie Europa bereist hatte, viele Tanzschulen von Frankreich besucht, das Meer, die Berge und wilde Wälder sah, steht sie erneut auf der Bühne in St. Petersburg.
Während die Musik langsam durch den Saal gleitet, beobachten sie der Organisator, Aleksey, der Maître und ein weiterer Choreograph. Alekseys warmen Blick aus seinen grauen Augen fühlt sie mehr als jeden anderen auf ihrem Körper. Zehrend und hungrig bringt er sie zum Glühen, während sie die Wälder um sich sieht, deren Duft in sich aufnimmt und den weichen Grund unter ihren Füssen fühlt.
Die Musik schmiegt sich um ihren Körper, der ihr geschmeidig nachgibt und sich von ihr führen lässt. Kraft strömt durch sie und jede Zelle freut sich über die Herausforderung, während sie den Drehungen und Sprüngen folgt. Als ein kräftiger Wind sich in die Klänge mischt, kann sie die salzige Brise des Meeres riechen und dessen Wellen rauschen hören. Ihr Körper tut es ihnen gleich. Hin und her wiegt er sich, bis sie sich langsam wieder erhebt und zur Ruhe kommt.
Beifall umfängt sie. Als sie ihre Zuschauer ansieht, erkennt sie ein verdächtiges Glitzern in ihren Augen. Ihr wird warm ums Herz und diesmal geht nicht nur für Aleksey die Sonne auf, als die junge Frau auf der Bühne erstrahlt.
※※※
«Ja, sie hat es nach Moskau geschafft und noch einiges mehr. Bis sie sich viele Jahre später von der Bühne zurückzog.»
Das aufgeregte und glückliche Gewusel um mich, bringt mich zum Lächeln.
«Ich weiss nicht, ob sie ihn geheiratet hat. Das wäre sicherlich nicht so gerne gesehen gewesen.»
Unzufriedene Stimmchen erklingen um mich.
«Ihr seid aber auch alle romantisch. Ich kenne nicht mal meine Geschichte, wieso sollte ich jedes Detail aus Swetas Leben wissen?»
Ich würde die Bande heute nicht mehr zufrieden stellen können, dabei hatte ich mich so sehr darüber gefreut, ihnen die Geschichte zu erzählen. Einen guten Teil konntenwir sie sogar in der Sonne geniessen, bevor wir wieder in die Wärme der Hüttemussten.
Kurz macht sich Unzufriedenheit in mir breit, als sich mir erneut das strahlende Bild von Sweta zeigt. Sofort hebt sich meine Stimmung und ich fühle, was sie fühlte. Diese unbändige Kraft und Energie, die durch sie zu fliessen schien. Unendlich tief mit dem Boden verwurzelt und dennoch fähig hoch über sich hinauszuwachsen. Meine Brust schwillt ein wenig an und ich fühle sowas wie stolz für sie.
Amüsiert schüttle ich den Kopf und widme mich der Haselnuss, die ich bereits seit ich zu erzählen begonnen habe, zwischen meinen Fingern drehe. Sie schmeckt köstlich und lässt mich verzückt die Augen schliessen, während um mich ebenfalls Ruhe einkehrt.
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