7 - Demut
Wünsche und Vorstellungen
Sie können Quell der Hoffnung sein
Doch entgleitet deren Erfüllung dem Erreichbaren
So werden sie zum Schmerz des Lebens
Der Schmerz tobt, bis derjenige in die Knie gezwungen, in Demut erkennt, dass nicht alles seiner Kontrolle obliegt.
※※※
Mit einem Wimpernschlag bricht der Blick in die Ewigkeit in sich zusammen. Also würde ich aus einem tiefen Gewässer auftauchen, schnappe ich nach Luft. Draussen ist es tiefe Nacht geworden und die Energie in der Hütte ist erdrückend schwer.
Hastig blicke ich mich um und bleibe sofort an der herzzerreissenden Szenerie zu meinen Füssen hängen. Alle meine Gäste blicken zu dem kleinen Eichhörnchen. Voll Entsetzen weiten sich meine Augen und meine Hand fährt zu meinem Mund.
Lenny bemerkt als erstes meine Präsenz, sofort zwitschert er in sanftem Ton los und erzählt mir was geschehen ist. Es ist zu spät für das Kleine gewesen...
Hastig lege ich das Tuch zur Seite und knie mich neben den zarten Körper. Ein Hauch von Leben steckt noch in ihm. Doch seine Kraft hat sich bereits unwiderruflich zurückgezogen. Seine Eltern sehen mit ihren kleinen schwarzen Knopfaugen zu mir hoch. Ein Flehen, ein Bitten erreicht mich und löst einen ziehend dumpfen Schmerz in meiner Brust aus.
Vorsichtig greife ich das kleine Geschöpf. Ich fühle seinen Frieden, der so im Gegensatz zur Sorge unsererseits steht. Meine Hände werden sofort ganz warm, beinah heiss und kribbelnd. Unter diesem kräftigen Strom, setze ich mich vorsichtig auf den Boden. Achtgebend, dass das kleine nicht von meinen Bewegungen erschüttert wird. Seine Eltern setzen sich zu mir auf meinen Schoss, ebenso Lenny auf dem anderen Bein. Jie legt seinen Kopf genau vor uns auf den Boden.
In der kleinen Schale meiner Hände liegend, fühle ich die letzten Atemzüge des Kleinen herannahen. Eine tiefe Kraft ergreift von mir Besitz. Mein Oberkörper beginnt sich leicht rhythmisch im Kreis zu drehen. Sofort stimmen meine Schützlinge mit ein. Mit ihren ganz eigenen Bewegungen. Lenny stimmt ein leises zwitscherndes Lied an und mit ihm erreichen uns Klänge aus fernen Welten kommend.
Beinah ist es so, als würden diese, die kleine Grube meiner Hände heller erstrahlen lassen. Kräftig rollen die flötenartigen Klänge, in perfekter Harmonie mit Lennys Kreation, zu ihrem Höhepunkt.
Im Augenblick höchster Symphonie kehrt plötzlich absolute Stille und Regungslosigkeit ein. Ein letztes Mal hebt sich die winzige Brust des kleinen Eichhörnchens, um dann mit einem Hauch sein Licht in die Ewigkeit zu entlassen. Die allumfassende Stille beherrscht das innere der Hütte. Die Eltern des kleinen schmiegen sich ein letztes Mal um den kleinen Körper.
Als kurz darauf die Zeit reif ist, erhebe ich mich. Die beiden Eichhörnchen lassen sich auf meinen Schultern nieder und suchen Halt und Wärme ich meinem offenen Haar. Lenny setzt sich, wie am Tag auf Jie, welcher sich ebenfalls erhebt.
Nach einem kleinen Korb greifend, lege ich erst ein paar trockene Blätter und etwas Rinde vom Kaminholz hinein. Darauf bette ich den kühler werdenden Körper. Anschliessend schlüpfe ich vorsichtig in meinen dicken Mantel. Dabei decke ich die beiden Eltern sanft damit zu.
So verlassen wir die Hütte. Es ist immer noch eisig kalt. Ich biege in kleinem Abstand um die Hütte, ganz in der Nähe wächst eine wunderschöne Mutter Ellhorn. Ihr Blattgrün, sowie die Reste ihrer Beeren haben sich unter den widrigen Bedingungen zusammen mit ihrer geballten Lebenskraft, in die Tiefen der Erde zurückgezogen und warten dort. Ich fühle eine starke Verbundenheit mit diesem mystischen Holun-Gewächs.
Im Dunkel der Nacht ist der verzweigte, beinah buschartige Stamm kaum zu erkennen. Dennoch kann ich ihre Anwesenheit fühlen. Knirschend auf dem harten Boden, kommen wir zum Stehen.
«Geben wir dich der Natur zurück Kleines. Auf das du beim nächsten Mal bessere Umstände erleben darfst und deine Eltern sich an deiner Gesundheit erfreuen können.»
Damit knie ich nieder. Sorgsam lege ich meine zarten Hände auf den kalten Boden nah am Stamm. Erneut fühle ich das starke Kribbeln bis in die Fingerspitzen. Wärme flutet meine Handflächen und fliesst von dort in den Boden. Bereitwillig öffnet Mutter Ellhorn ihre Pforte.
Mit Leichtigkeit kann ich nun die kleine Grube für das Eichhörnchenjunge ausheben. Vorsichtig wische ich meine erdigen Hände an meinem Mantel ab, bevor ich nach dem Körperchen greife. Ich kann die Bewegung der Eltern auf meinen Schultern fühlen und auch Lenny zwitschert einen Abschiedsgruss. Sanft lege ich es in sein erdiges Bett. Dazu gebe ich ein paar Nüsse und Beeren, die wir heute gesammelt hatten, sowie einen Samen, von dem ich selbst nicht wusste, was aus ihm werden würde. Danach bedecke ich den Kleinen und seine Gaben mit Erde.
«Er ist nun zu Hause, bis er wieder bereit ist in diese Welt zu kommen», spreche ich nun leise und tröstend zu den Zurückgebliebenen.
Wieder im Warmen der Hütte, bleibt die Stimmung gedrückt. An Schlaf ist jedoch nicht zu denken und so entscheide ich mich dazu, eine weitere Erinnerung zu erzählen. Schnell habe ich die Aufmerksamkeit aller.
«Also bei der Kälte draussen, ist es vielleicht ganz angenehm, dass uns die Erinnerung diesmal an einen warmen Ort bringt...»
※※※
Er war sechs Jahre alt, als er seinen Vater das erste Mal auf seinen Handelsreisen begleiten durfte und sie sah. Die sanften Klänge, der mystischen Instrumente, die Gewänder, wie sie sich im Kreise des Tanzes drehten und die Anmut, die diese Männer dabei ausstrahlten. Versunken in ihrer Hingabe. «Abba, was tun diese Männer da?», hallt Abu Valid bin Sufyaan al-Mawardi al-Tarbizi's Stimme von damals in seinen Gedanken nach. Auch die Antwort seines Vaters bleibt ihm auch nach den vielen Jahren noch sehr präsent. «Ibni, das sind keine guten Muslime. Verschwende keinen Gedanken daran.» Das «aber», welches dem Jungen damals bereits auf den Lippen lag, wurde vom warmen, sandigen Wind mitgetragen.
«Auf diesen Handelsreisen hat man zu viel Zeit um sich Gedanken zu machen, nicht wahr mein Freund?», klopft ein langjähriger Geschäftspartner Valids mitfühlend auf dessen Schulter und reisst ihn damit aus seinen Erinnerungen.
«Was sagst du?»
Kopfschüttelnd blickt sein Freund auf die vor ihnen liegende Stadt. Es ist eine Ausnahme, dass ihre Reise sie nach Konya führt. Normalerweise geht es nicht weiter als nach Antakya, mit einem pflichtbewussten Abstecher nach Mekka. Doch diesmal erreichte sie eine besondere Bestellung und brachte sie nach Konya. Ein alter Freund von Valids Vater erinnerte sich an ihn und bat um eine grosse Lieferung des kostbaren Rosenwassers. Natürlich konnte Valid diese Anfrage nicht ablehnen. Sein Vater würde es ihm nicht verzeihen.
Einige Stunden später verschluckt die Stadt die beiden Händler in ihrem lebhaften Treiben. «Abu Valid bin Sufyaan al-Mawardi al-Tabrizi, dass ich das noch erleben darf, du gleichst deinem Vater bis aufs Haar. Nur deine Augen, die müssen von deiner werten Mutter sein», empfängt der alte Herr den jungen Händler. In einem sentimentalen Anflug, legt er seine faltige Hand an die Wange des grossen schlaksigen Mannes. «Ja, meine Augen habe ich von ihr», antwortet Valid, während sein Herz schwer wird und sich der Schleier der Trauer in den eben betonten Augen niederlegt.
«Allah hab sie selig, mein Junge. Das wusste ich nicht.»
«Sie ist Vater vor einem Jahr gefolgt. Doch sie fehlt mir noch immer.»
«Das verstehe ich, Ibni. Ein Mann darf seine Mutter vermissen, auch wenn viele Jahre vergangen sind.»
«Tut ihr es noch?», bricht der kleine Junge hindurch.
Für einen kurzen Moment scheinen die Augen des Mannes in alte Zeiten zurückzublicken, während er, ohne es zu merken den Arm von Valid tätschelt. Kurz darauf blinzelt er kräftig und seine braungrünen Augen fokussieren Valid erneut.
«Jeden Tag, Ibni und noch viele andere mehr.»
Während Valids Handelspartner seinen Geschäften in Konya nachgeht, folgt er der Einladung des Abu Ahmad ibn Ibrahim al-Hakim al-Konyawi dessen Heimatstadt näher zu bringen. Entspannt schlendern die beiden Männer durch die im Licht des späten Nachmittags gekleidete Stadt. In Gespräche über vergangene Zeiten vertieft, bleibt Valids Blick immer wieder an Einrichtungen hängen, von denen er glaubt, dass es sich um Kanqahs handeln müsse.
Abu Ahmad al-Hakim entgehen diese Blicke nicht und nach einer Weile entschliesst er es anzusprechen. Dazu setzen sie sich auf eine solide Steinbank unter einem würzig duftenden Baum, dessen nadelähnliches Blätterdach sanft im Wind rauscht. Tief atmet der alte Mann den Duft ein und seine Schultern sinken entspannt nach unten.
«Kannst du es fühlen, Valid S?»
Die bronzefarbenen Augen des jungen Mannes liegen auf dem Weisen, ohne zu verstehen, was er ihm sagen will. Dieser wiederum weist mit einer ausladenden Geste auf das was um sie herum ist, auf den Baum und die frühabendliche Stimmung. Das Treiben der Stadt, das konstante Rauschen von Menschenstimmen.
«Ich versteh nicht Abu Ahmad al-Hakim?»
Dies beschert diesem ein ruhiges Lächeln. Lange hält der alte Mann den Blick aufrecht, während Valid das Gefühl bekommt, in dessen Augen zu versinken.
«Du bist ein Suchender. Wir alle sind in einer Art Suchende, aber du...», er unterbricht sich und betrachtet weiter das vertraute Gesicht. «Die Suche zehrt an dir, weil du nicht siehst, dass alles Wissen bereits da ist. Du musst dich nur trauen deinen Weg zu gehen.»
Tief erschüttert und bewegt, versucht Valid seine Tränen vor dem Herrn zu verbergen.
«Aber welches ist mein Weg?», fragt er nun schliesslich, nachdem er ein paarmal tief durchatmete.
«Du wirst das hier fühlen», sagt der Alte und fasst ihm dabei ans Herz.
Das Bild der tanzenden Männer flackert vor ihm auf und ein warmes Gefühl, jenes, welches er auch damals empfand, breitet sich in ihm aus. Doch als er wieder auf den Blick des Weisen trifft, erschrickt er. Sofort schiebt er es beiseite.
«Du kennst es also schon, das Gefühl. Was hält dich davon ab, ihm zu folgen?»
Die Stimme seines Vaters dröhnt erneut durch seinen Kopf und sein ganzer Körper wird steif. Auch wenn es ihn zeitgleich schmerzt, denn sein Vater war nie böse zu ihm.
«Es gibt auch andere Sichtweisen darauf, das weisst du?»
Hastig nickt Valid, während ihm schleierhaft ist, woher der Mann, der ihn das letzte Mal sah, als er sechs Jahre war, ihn so mühelos lesen konnte.
«Möchtest du, dass ich dich zu einem Tanz mitnehme?»
Valid erblasst. In ihm spalten sich die Gefühle. Seine Hände fühlen sich schwitzig an und ihn fröstelt es, trotz der warmen Temperaturen. Zeitgleich ist da auch dieses warme Empfinden. Als in dem Moment die Sonne dabei war unterzugehen und die Rufe zum Gebet lauter wurden, verkrampft sich Valid noch mehr. «Ich...ich muss los, kommt ihr mit Abu Ahmad al-Hakim?»
Doch er kennt die Antwort bereits, als er die Frage ausspricht. «Geht ihr zu ihnen?»
«Ja, wir beten dort ebenfalls. Wir sehen uns später bei mir, ich bestehe darauf, dass du mein Gast bist.»
«Ja, in Ordnung, das nehme ich gerne an.»
Wenige Tage später, von inneren Spannungen umtrieben, im eigenen Karussell der Gedanken gefangen, befindet sich Valid auf dem Weg nach Hause. Er mag Tabriz und das etwas ausserhalb gelegene Haus, in welchem seine Frau bereits auf ihn wartet. Diese langen Reisen bringen immer viel Zeit um grossen Gedanken zu folgen. Doch in seinem Zustand ist es mit angenehmer Ruhe und genialen Ideen weit gefehlt. Hektisch wechselt sein Verstand von Vergangenheit, zur Zukunft, nur um gleich wieder in der Vergangenheit zu versinken. Wusste sein Vater, dass einer seiner ältesten Freunde zu ihnen gehört? Gerne würde er nun mit ihm darüber sprechen.
Ein Bild arbeitet sich in seinen Kopf. Das stolze und zufriedene Lächeln, als Valid die Ehe mit seiner ersten und bisher auch einzigen Frau einging. Auch wenn es durchaus geläufig war, dass sich Männer von seinem Stand mehrere Frauen wählten, widerstand Valid dieser Gedanke seit jeher. Als er seine Irsia das erste Mal sah, überkam ihn ein ähnliches Gefühl, wie bei den tanzenden Männern, verbunden mit einer gewissen Melancholie. Doch dies behielt er für sich.
Ihr schwarzes wallendes Haar, welches sie bis heute nur an sehr heissen Tagen und wenn sie viel draussen ist, verbirgt, waren ihm als erstes aufgefallen. Es verriet ihren starken Eigensinn, noch mehr, als der durchdringende Blick ihrer wundervollen Augen. Noch heute kann er sich nicht darauf festlegen, welche Farbe sie nun wirklich haben. Manchmal sind sie grün wie das Moos, das er auf seinen Reisen kennenlernte. Doch dann wirkten sie wieder wie das dunkle Grau eines wütenden Monsuns. Ein wohliger Schauer durchfährt ihn, als er daran denkt. In seiner Brust fühlt er ein leises flattern und für einen Moment schafft es das Antlitz seiner Frau, die unruhigen Gedanken zu vertreiben.
Bereits von weitem kann er sie draussen in ihrem Garten erkennen, wo sie gerade die Katzen füttert, die täglich unser Heim besuchen. Irsia hat ihren ehrenvollen Namen als Umm Hurairah mehr als verdient. Die Katzen lieben sie und sie erwidert diese Liebe. Ein kleiner Schatten legt sich über seine Freude, seine Geliebte bald in den Arm nehmen zu können. Selbst nach all den Jahren blieb ihre Ehe kinderlos und auch wenn es ihn erfreut hätte, seinem Vater weiter Ehre zu machen, so wollte er dennoch nicht auf den Rat seiner Freunde hören. «Nimm dir doch eine zweite Frau, Valid S, was ist schon wichtiger, als den Stamm deiner Familie zu erhalten?»
Doch Valid ging nie darauf ein. «Wieso bin ich nur so anders?», fragt er sich leise flüsternd, während er durch das Tor in den Garten tritt.
Sofort reagiert Irsia auf ihn. Ein strahlen erhellt ihr Gesicht und ihre Augen leuchten freudig auf. Ohne zu zögern kommt sie ihm entgegen, begleitet von einer kleinen schwarzen Katze, die sie immer auf Schritt und Tritt verfolgt. Zufrieden und für einen Moment vollkommen ruhig, schliesst er seine Arme um den zarten Körper seiner Frau. Mit einem tiefen Atemzug inhaliert er den so vertrauten Duft, der ihm das Gefühl von zu Hause vermittelt, wie nichts anderes.
«Du hast mir gefehlt», flüstert sie leise an seinen Hals.
Seine eine Hand streicht sanft über ihr langes Haar, während die andere ihren Körper nah bei ihm hält.
«Du hast mir auch gefehlt. Ich muss dir so vieles erzählen.»
Abends, nachdem Irsia ihm ein wundervolles Abendessen gezaubert hatte, geniessen sie die laue Nachtluft im Garten auf ihrer Bank. «Dich belastet etwas oder?», eröffnet Irsia das leise geführte Gespräch.
Valids Schultern spannen sich augenblicklich ein wenig an und nur mit einem tiefen Atemzug schafft er es, sie wieder ein Stück zu lösen. Mit Irsia konnte er seine Sorgen schon immer offen teilen. Aus irgendeinem Grund verstand sie sich darauf, die richtigen Worte oder das richtige Schweigen zu finden.
«Ich habe dir doch von meinem ersten Besuch in Konya erzählt?»
Er fühlt das sanfte nicken mehr, als er es sieht, sein Blick bleibt in den dunklen Garten gerichtet. Ein weiterer tiefer Atemzug verhilft ihm dazu, weiterzuerzählen.
«Abu Ahmad ibn Ibrahim al-Hakim al-Konyawi hat mich sofort wiedererkannt, er meinte ich sähe meinem Vater sehr ähnlich und hat mich später auf einen kleinen Spaziergang durch Konya mitgenommen.»
Irsia lauscht geduldig den Worten ihres Mannes, denn sie kann fühlen, dass er erst noch zum Kern seiner Gedanken kommt. Währenddessen streichelt sie sanft über das schwarze Fell von Asha, die sich mit sanftem Schnurren für die Zuwendung bedankt.
«Irsia, er gehört zu ihnen», reisst Valid ihren Gedankenfokus wieder an sich.
«Konntest du ihm deine Fragen stellen?»
«Ich hatte zu viel Angst», gibt er mit einem Seufzer zu. Nach einer Weile der Stille fährt Valid damit fort, seine Gedanken zu teilen.
«Beim Abschied nannte er mich Talib. Er meinte, ich solle auf mein Herz hören und, dass es für alles, den richtigen Zeitpunkt gibt.»
«Womit er vermutlich richtig liegt, auch wenn ich Allahs Zeitplan nicht wirklich nachvollziehen kann.»
Damit fährt sie sanft mit einer Hand über ihren Bauch. Liebevoll legt Valid seine darüber. Dabei fühlt er wie kühl die ihre ist.
«Wollen wir reingehen?»
Im Bett liegt Irsia in Valids Arm und lauscht seinem steten Herzschlag. Asha liegt am Fussende des Bettes und scheint tief zu schlafen. Sie ist die einzige ihrer Schützlinge, die sich das Recht erarbeitet hatte, ins Haus und mittlerweile sogar ins Bett zu kommen. Wenn Valid auf seinen Handelsreisen war, gab sie ihr die Wärme und Nähe, nach der sie sich sonst so verzehrte. Meine Hoffnung, mein Geschenk von Allah.
«Irsia, bist du noch wach?», erklingt die flüsternde Stimme Valids.
«Ja.»
«Würdest du mich nach Konya begleiten, wenn ich mit Abu Ahmad al-Hakim ein Kanaqahs besuchen würde?»
«Darf Asha mitkommen?»
Ein leises vibrieren schüttelt Irsias Kopf durch. Sofort hebt sie ihn und funkelt ihren Mann an, welcher augenblicklich mit dem Lachen stoppt. Valid erkennt den Ernst der Frage seiner Frau. Ein Stich breitet sich in seiner Brust aus und er nickt leicht. Sanft fährt er ihr über ihr zartes Gesicht.
«Entschuldige meine Geliebte, natürlich kannst du sie mitnehmen und ich werde gleich Morgen die Nachbarn fragen, ob sie die Fütterung der anderen Katzen übernehmen können.»
Zufrieden legt sich Irsia wieder auf die Brust ihres Mannes und haucht ein leises «Danke», während sie die Tränen wegblinzelt. Asha ist ihre Gefährtin und sie liebt ihren Mann, doch ganz hat sie sich noch nie gefühlt.
Einen Monat später steht Valid S erneut vor der Tür seines Freundes. Freundlich werden er und seine Frau von dem alten Mann empfangen, dessen Gesundheitszustand allerdings massiv nachgelassen hat.
«Es freut mich wirklich sehr, so kurz vor dem Ende meiner Zeit hier, noch die Ehre zu haben, die Liebe Umm Hurairah Irsia bint Muhammed al-Khalil kennenlernen zu dürfen. Und wer ist dieses bezaubernde Geschöpf Allahs?», richtet er seinen Blick auf Asha, die dicht um Irsias Beine streift.
«Es freut mich genauso, Abu Ahmad ibn Ibrahim al-Hakim al-Konyawi. Mein Mann hat viel von euch erzählt. Das hier ist Asha, sie begleitet mich überall hin.»
Ein warmes und herzliches Lächeln breitet sich in Ahmad al-Hakims Gesicht aus.
«Bist du bereit Talib, mit mir zu kommen?», richtet der Weise Mann abends seine Worte an den Jungen.
«Ja, ich möchte es wenigstens einmal richtig sehen.»
Der Weise lächelt erneut herzlich und lässt damit seine vielen Falten erstrahlen. Gebückter als noch beim letzten Mal geht er vor. Doch kurz vor dem Verlassen des Hauses wendet er sich an Irsia.
«Komm doch auch mit, meine liebe Irsia M.»
Erstaunt blickt Irsia von ihrem Mann zum Weisen und zurück. «Aber...»
«In dem Kanaqh sind Frauen gern gesehen. Es ist ihnen sogar erlaubt, die heiligen Schriften zu studieren.»
Bei diesen Worten entgleiten Irsia ihre Gesichtszüge und fassungslos starrt sie den Alten an.
«Ich würde mich freuen, wenn du mitkommst, es würde mir helfen», meint nun Valid, liebevoll und tritt zu ihr.
«Gut, ich komme mit», hört sie ihre eigene Stimme sicher und kräftig, ohne, dass sie sich selbst so fühlt.
Kurz darauf befindet sie sich in Begleitung der beiden Männer mitten im Herzen des Kanaqhs. Einer Art Lesung lauschend beobachtet Irsia genauso fasziniert wie Valid jedes Detail. Alle Worte des Meisters saugen sie in sich auf, wie von der Wüste ausgedörrte Schwämme das Wasser.
«...der Schmerz tobt, bis derjenige in die Knie gezwungen, in Demut erkennt, dass nicht alles seiner Kontrolle obliegt...
...und zum Schluss, als Einstieg in die Gebete, teile ich mit Freude einen neuen Gedankenkeim unseres lieben Freundes Maulana Dschalal ad-Din Muhammad Rumi:
Wir sind nicht nur in diesem Körper gefangen,
sondern auch in den Konzepten,
die wir uns von der Welt machen.»
Nach den Gebeten, welche sich erstaunlich wenig von den ihrigen unterschieden, kam das worauf vor allem Valid gespannt gewartet hatte.
Erst leise, dann immer kräftiger erklingen die flötenartigen Instrumente. Der Hall wird von dem Gemäuer perfekt harmoniert auf die Zuhörer reflektiert und so erscheint es beinah wie ein ganzes Orchester. Langsam begeben sich die Männer in ihren Gewändern auf die offene Fläche und beginnen mit ihrem hingebungsvollen Tanz. Wenn die Rechtsdrehungen anfangs noch langsam waren, so werden sie nun immer schneller, bis sie sich in einem steten Fluss der Bewegung halten.
Anfangs kreisen Valids Gedanken noch um Fragen, wie es ihnen möglich ist, so lange ihrem Tanz zu folgen. Doch schon bald ist er so versunken in dessen Harmonie, dass seine Gedanken ganz still werden. Die Klänge und konstanten Drehungen tragen ihn in die Weiten davon. Er kann sie fühlen, die Zufriedenheit.
Nach einem weiteren Monat und einer Urs, wie sie die Beisetzung in diesen Kreisen nannten, kehren Irsia, Valid und Asha nach Hause zurück. Kaum ein Wort wechselten sie auf dem Weg. Überhaupt blieben beide sehr in sich gekehrt, seit dem Abend an dem sie dem Tanz der Derwischen beiwohnten.
Abends in ihrem Garten, als die Katzen freudig ihre Mutter und Asha begrüsst hatten und ihr Mahl verschlangen, sitzen die beiden wieder auf ihrer Bank. In einigen Tagen würde Valid zu einer neuen Handelsreise los müssen.
«Ich glaube, dass ich in Wahrheit Angst davor habe, Kinder zu bekommen», gesteht Irsia ihrem Mann an diesem Abend. Sie hört ihn kurz die Luft scharf einziehen. Gleich darauf versucht er sich wieder zu entspannen und den Stich in seinem Innern zu übergehen.
«Wieso hast du Angst davor?» Seine Stimme klingt zärtlich und liebevoll, auch wenn die Offenbarung ein Schock für ihn bleibt.
«Ich habe Angst davor, dass ich das Kind nicht lieben könnte. Einerseits wünsche ich es uns so sehr und andererseits überkommt mich bei der Vorstellung eine unbändige Übelkeit.» Die Verzweiflung ist in jedem ihrer Worte zu erkennen.
«Ich kenne das Gefühl...»
Noch bevor er seinen Satz beenden kann, richtet sich Irsia auf und blickt ihn erstaunt an.
«...nicht wegen dem Kind, nein, ich würde es lieben. Ich würde mich freuen, wenn ich etwas von dir oder mir ihn ihm entdecken würde. Mir geht es mit dem was in Konya war so.»
Allein die Tatsache, dass er nicht fähig war, es beim Namen zu nennen, zeigt ihr seinen inneren Kampf.
«Möchtest du dich ihnen anschliessen? Du weisst, ich würde mit dir kommen.»
«Ja, das weiss ich, ich habe gesehen, dass es dich berührt hat. Genauso wie mich. Doch in mir ist dieser Widerstand...»
«Vielleicht ist es das, was Abu Ahmad al-Hakim mit seinen letzten Worten meinte.»
Manchmal dauert es ein ganzes Leben, bis der kleine Wille bereit ist zu sterben. Sterbend in der Erkenntnis, dass er in seinem Kampf, dennoch ein Teil des grossen Willens ist, war und immer sein wird. Der Moment in dem er seine Waffen niederlegt und erkennt, dass er nicht alles erkennen kann, ist der Augenblick in dem er sein Haupt in Demut senkt. Alles hat seine Zeit, Talib.
※※※
«...es dauerte ein ganzes Leben, für Abu Talib Valid bin Sufyaan al-Mawardi al-Tabrizi und Umm Hurairah Irsia bint Muhammed al-Khalil, zu erkennen, dass es eben nicht in diesem Leben sein sollte», schliesse ich meine Erzählung.
Die kleinen Eichhörnchen haben sich in der Zwischenzeit auf meinem Schoss eingerollt und sind mit dem letzten Wort der Geschichte sofort eingeschlafen.
Zart wie ein flatternder Herzschlag, kann ich Lennys kleinen Kopf an meiner Wange fühlen, bevor er seine geschickten Füsse aus meinem Haar löst und zu Jie flattert. Auf dessen Rücken mach er es sich bequem.
Um die beiden erschöpften Nager nicht zu wecken, bleibe ich sitzen und beobachte das Glühen im Kamin, bis auch mich der Schlaf einholt und in weit entfernte Zeiten bringt.
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