6 - Schöpfung

Alles hat einen Anfang.
Alles hat ein Ende.
Oder?

Im Jetzt existiert die Unendlichkeit. Die Grenzen verschwinden.

※※※

«Faryd...», flüstere ich leise. Sein Anblick geht mir nah. Jede einzelne meiner Zellen beginnt zu vibrieren und ein tiefes Gefühl von Verlust, gesellt sich zu der Kälte in mir.

«Es ist schön dich zu sehen, Dhara.»

Für meine Ohren ist seine Stimme nicht hörbar, dennoch hallt sie klar und deutlich in mir nach. Tränen arbeiten sich in meinen Augen hoch, denn ich fühle, dass auch er diesen Verlust empfindet. Ohne darüber nachzudenken, gehe ich einen Schritt auf ihn zu.

Die Kälte des Wassers um meinen Fuss lässt mich erschrocken nach Luft schnappen. Der andere muss sich bereits daran gewöhnt haben. Ich kann ihn kaum noch wahrnehmen. Faryd so nah vor mir zu sehen, ich müsste ihn bereits fühlen können, bringt meinen Atem zusätzlich ins Stocken. Doch ich kann ihn nicht spüren, gar nicht. Krampfhaft ziehe ich meine Schultern hoch, um mich vor den Wogen des Verlustschmerzes zu schützen.

Dabei betrachte ich sein Gesicht genau, keine Sekunde wende ich meinen Blick von ihm. Dabei beobachte ich, wie sich auch seine Augen mit einer hell leuchtenden beinah türkisfarbenen Flüssigkeit füllen. Als diese in einer wunderschönen Tropfenform überquillt, zuckt meine Hand in ihre Richtung. Doch er ist schneller.

Vorsichtig nimmt der die Träne mit seiner Fingerspitze von der Wange. Kurz betrachtet er sie und ich tue es ihm gleich.

Im Bann des Augenblicks, stelle ich erstaunt fest, dass sie viele Farben in sich trägt. Wundervoll leuchtend hängt sie an seinem Finger. Bis...

...sein Finger, seine Träne, meine Stirn berührt und die Welt in tausend Stück zerbirst.

※※※

Der sanfte und unberührte Klang regt sich, weitet sich aus. Gemächlich beginnt er dahin zufliessen. Als wäre er belebt worden, als würde etwas stetig nach ihm rufen. Vom Zentrum des Universums bewegt er sich davon. Er begibt sich auf die Reise, seine Reise, von anderen hatte er schon so viel von den ihren gehört. Doch wer kann sich etwas vorstellen, was so im Widerspruch zum eigenen Sein ist? So muss er seinen Weg selbst gehen. Er ist bereit dazu.

Durch all die zarten lichten Gebilde bewegt er sich. Farben und Eindrücke begegnen ihm sanft und wohlgesonnen. Flüsternd bereiten sie ihn auf das vor, was ihn erwartet. Irgendwo in ihm regt es sich. Doch was es ist, vermag er nicht zu erfassen. So zieht er durch die lichten Welten, erhascht Ideen von Symphonien. Vibrierendes Summen, die Welt der tosenden Winde, all dies erfährt er, doch sie sind nicht sein Ziel. Immer weiter, immer dichter, ruft es ihn.

Hölzern und dennoch kristallklar empfängt ihn eine weitere klangvolle Welt. Innehaltend lauscht er ihr. Sie berührt ihn, sie ist das Tor zur anderen Seite und dennoch sein zu Hause, bis er gefunden hat, wonach er sucht.

Mit diesem schwingenden Flötenton fliesst er weiter. Das nun erklingende Summen unterscheidet sich von dem bisherigen. Erst viel später wird er es den Bienen zuordnen können. Ihr Klang erzählt ihm von der violetten Farbenpracht, die auf ihn wartet, mit der sie sich so verbunden fühlen.

Mit der Idee dieser Eindrücke zieht er weiter, ohne zu verstehen, dass er bereits nicht mehr derselbe unberührte Klang von einst ist. Tiefes und fröhliches Plätschern lässt ihn mit Klarheit erkennen, doch das 'Was' verschliesst sich ihm, bis ihn das Klingeln von silbernen Glöckchen herumwirbelt.

Fröhlich lässt er sich von ihrem orangefarbenen Gemüt kitzeln, bis sie ihm einen neuen Ton entlocken.

Geknüpft ist das Band.

Überwältigt bebt er im Rauschen des Meeres, welches ihn mitreist, hinein in die tobenden Fluten unter grollendem Donner.

Klänge, so tief und rau, so dunkel und entgegengesetzt allem, was er bisher erlebt hatte, umgeben ihn. So durchdringend, schwer und kühl, tiefes Vibrieren färbt ihn. Dunkle Nuancen und Dynamiken nehmen von ihm Besitz, während er langsam in der kühlen Masse vor und zurück schaukelt.

Beinah schlafend, erkennt er kaum die Veränderung um ihn. Immer heller wird es nun, das Rauschen intensiver, aber sanftmütig. Sanft perlende Geräusche entschleunigen die Dunkelheit in ihm. Sie erinnern ihn an die Glöckchen, das Orange. Bewegung kommt in ihm auf. Von den neuen Einflüssen beschwingt, fliesst er sanft aus dem kühlen Element.

Helles Licht, auch wenn nur ein Abklatsch dessen, worin er einst klang, empfängt ihn. Sanft lässt er sich von dem leisen stetigen Rauschen weiter treiben. Leises rieseln unter ihm, bis sich neue Schatten zwischen ihn und das warme Hell legen. Doch diese sind anders. Bringen andere Klänge mit sich, andere Bewegungen. Vorsichtig gibt er sich seiner neuen Umgebung hin.

Kleine und grosse Wesen verursachen leichte Vibrationen, die er in sich aufnimmt. So unscheinbar, doch alles scheint hier zu klingen. Genauso wie überall, wo er bisher war. Doch hier ist es anders. Träger und dennoch in einer Art präzise aufeinander abgestimmt. Kann nur er diese Harmonie erkennen?

Nein, da sind noch andere, er kann sie fühlen. So viele kleine Klänge, wie er. Auch sie erleben eine Reise und dennoch gleicht ihre nicht der seinen. Einige haben schon viele Farben und Dynamiken aufgenommen, andere wie er, noch nicht.

Dankbar, lässt er sich vom Wind über zarte Blütenblätter treiben. Jeder Kontakt, lässt ihn vor Schönheit erbeben und er kann nicht anders, das Summen der kleinen Wesen zu imitieren. Bald folgen sie seinem Ruf. Inmitten der vielen kleinen Bienen, streift er über die feinen Haare an ihrem Körper. Zufrieden antworten sie ihm, Pollen fliegen um sie und der Klang nimmt die Farben und Gerüche in sich auf. So intensiv, wie die Unendlichkeit.

Erst die Veränderung des Lichtes beendet das Spiel. Der um einige Töne reichere Klang, wird vom aufziehenden Strömen des Windes weitergetragen. Hoch hinauf, entlang rauer Rinde von dunkler Farbe, in ein grünes rauschendes Meer. Warm und dynamisch spielt es seine eigene Melodie, lehrt sie ihm und verändert sich gleich darauf wieder. Von der Freude der Bienen geprägt, lässt sich der Klang hin und her wirbeln, vom einen zarten grünen Blatt zum anderen und so immer weiter, bis ihn der Wind höher trägt. Über die Wipfel der Bäume, die ihm leise zum Abschied Wünsche zuflüstern.

Für einen Augenblick verharrt er. Alles liegt so still um ihn herum. Kühl silbernes Licht lässt ihn darin strahlen. In tiefer Harmonie strahlt die kleinste Kugel, von weiter Ferne hinunter, während die grösser wirkenden näher und Sichelförmig, ihr Licht spenden. Auch ihre leichten Stimmen, finden ihren Weg in diese weite Welt. So wunderschön leuchtet sie und ist dennoch so grob.

Im Einklang mit diesen wundervollen Stimmen rastet er, umgeben vom sanften rauschen der Winde und eingebettet in der rauen Schönheit.

Leise öffnet sich ihm eine Ahnung, der Symphonie, die er einmal sein wird.

※※※

Flackernd nehme ich fetzen meiner dunklen Umgebung wahr. Auf und ab bewegt sich mein verzerrtes Sichtfeld. Nichts scheint einen Sinn zu ergeben und immer wieder werde ich von einem grauen Schleier eingehüllt. Schwebe ich?, hallt meine Stimme in meinem Kopf wider und ist dabei überdurchschnittlich laut.

Wieder dringen flatternde Eindrücke auf mich herein. War das ein Baum? Ich kann nicht schweben..., dröhnt die Stimme weiter.

Doch da ist noch etwas, was mich irritiert. An das Schwanken kann ich mich kaum gewöhnen, doch dieses türkise Leuchten ist mir so vertraut. So nah und dennoch so fern. Eigentlich genau richtig und trotzdem ist da dieser Schmerz. Weit über stechen hinaus. Splitternd und zerstörend.

Dunkelheit legt ihren Schleier wieder über mich. Ein tiefes Vibrieren erfasst mich. Es ist nicht bedrohlich, es wirkt vertraut, wie das Licht.

Das Schaukeln hat aufgehört, das Licht ist von einem anderen abgelöst worden und wieder ist da diese Leere. Sie ist einfach, dafür ist die Kälte weg. Tief atme ich die warme Luft meiner Hütte ein. Lenny sitzt erwartungsvoll blickend auf meinem Schoss. Als er die Zeichen meines Erwachens erkennt, zwitschert er so laut, dass ihn wohl nicht nur Jie und ich hören konnten.

Vorsichtig reibe ich mit den Händen über meine schweren und brennenden Augen. Sofort beginnen sie leicht zu tränen.

«Faryd...», nuschle ich, noch nicht ganz bei Verstand.

Wieder in einer Lautstärke, die die Grenzen meiner Trommelfelle ausloten versucht, zwitschert Lenny los. Dabei zwackt er mir dezent ungeduldig in den Finger. «Jaja, ist gut...», antworte ich auf sein drängen, «ich bin wach.»

Mit nun mehr Sinnen beisammen, als zuvor, sehe ich mich in meiner Hütte um. Was könnte ihn so in Aufregung versetzt haben?

Dann erkenne ich es, die Körbe, in denen ich normalerweise unsere Vorräte lagere, sind leer. Krampfhaft versuche ich mich daran zu erinnern, wann und wie wir all das verputzt haben könnten. Doch es will mir einfach nicht in den Sinn kommen. Es hilft auch alles nichts.

«Ich versteh schon, ihr beide habt Hunger. Lasst uns gleich losgehen, in Ordnung?», versuche ich die winzige Blaumaise zu beruhigen, die in der Zwischenzeit auf Jies Kopf Platz genommen hat. Jies braune und treuherzige Augen mustern mich. Geduld spricht schon in seinen jungen Jahren aus ihnen. Verschwunden ist die anfängliche Angst und Einsamkeit. Er fühlt sich wohl.

An mir heruntersehend, kann ich keine Spuren eines Ausfluges oder ein Aufeinandertreffen mit eisigem Uferschlamm mehr erkennen. Irritiert fasse ich mir an den Kopf. War alles ein Traum? Das kann kaum sein....

Ohne eine Antwort zu finden, streife ich mir eines meiner leicht gefütterten naturweissen Kleider über. Eng schmiegt es sich an meinen Körper. Ich ziehe die leichte Schnürung an den Seiten meiner Taille fest, damit es noch besser anliegt.

Anschliessend schlüpfe ich in meine langen gefütterten Lederstiefel. Sie passen perfekt. Die umhüllende Wärme vom Kleid und den Schuhen helfen mir meine trägen Muskeln weiter und besser bewegen zu können. Eine dickere und lange Jacke ziehe ich mir über das Kleid.

Meine zarte Hand nach dem Korb ausstreckend, blicke ich zu Lenny und Jie. Sie sind bereit, wie ich. Kurzentschlossen ziehe ich meine Hand zurück und greife um. Ich schnalle erst Jie zwei kleine Körbe auf den Rücken. Er sieht damit zum knuddeln aus und das Glitzern in seinen Augen verrät mir seine Freude, dass er helfen kann. Danach nehme ich meinen Korb.

Woher mir klar war, dass uns eine Eiseskälte entgegenschlagen würde, sobald ich die Tür geöffnet habe, ist mir schleierhaft. Mein Atem bildet sofort kleine Wölkchen und eilig bewegen wir uns nach draussen, um die Tür zu schliessen.

Knirschend brechen Grashalme unter meinen Füssen, während ich Schritt für Schritt durch den Nebel in Richtung Wald strebe. Lenny und Jie dicht hinter mir. Auch Jie ist nicht zu überhören.

Leise stellt sich mir die Frage, was wir so denn bitte finden sollen.

Die Grenze zum Wald überschreitend wird es ein wenig wärmer. Ein Hoffnungsschimmer leuchtet in mir auf. Kurzerhand entscheide ich Lenny und Jie, die längst überfällige Geschichte von Adrian, Fay und Solène zu erzählen, um uns die Suche zu erleichtern. Wobei leicht vielleicht nicht ganz so passend ist.

Dennoch hören sie aufmerksam zu, während wir dankend Haselnüsse sammeln. Auch einige Sträucher sind bereit ihre Wurzeln mit uns zu teilen. Liebevoll und mit grosser Achtung, entferne ich die Erde, so dass ich an ihre wundervollen Bodenschätze gelange. Danach decke ich die restlichen Wurzeln wieder zu. Meine Hand ruht kurz auf der Stelle. Dankend verabschiede ich mich von ihr.

An einem Bach rasten wir ganz kurz und nehmen ein paar kräftige Schlucke von dem kalten, lebendigen Wasser. Mit gefüllten Körben kehren wir zurück. Die Heide ist noch immer vom Frost gezeichnet. Der sonst so federnde Untergrund gibt nun nur wenig nach. Die obere Kruste knirscht und massiert meine Füsse, zwar kalt, aber angenehm, durch die Schuhe.

In der Hütte und dem wohligen Warm angekommen, legt sich Jie, der wirklich schwere Körbe getragen hatte, direkt vor das Feuer. Lenny hingegen überwacht meine Arbeit. Liebevoll beginne ich das gesammelte aufzuteilen, so dass ich alles Lagern kann. Dabei erzähle ich Lenny leise von der Reise des Klangkörnchens, wie ich mich entschied es zu nennen.

Gerade als ich mich in meinen Schaukelstuhl setzen will, höre ich ein leises Fiepen draussen. Zügig gehe ich zur Tür und öffne sie. Vor meinen Füssen blicken mich drei Augenpaare an. Die drei kleinen Eichhörnchen wirken dünn unter ihrem buschig rötlichorangen Fell.

«Kommt herein, wir haben eben Essen gesammelt, es ist genug für alle da.»

Zügig folgen sie meiner Einladung und dabei erkenne ich, dass das eine Tierchen noch sehr jung sein muss. «Setzt euch zu Jie ans Feuer, ich bringe euch ein paar Nüsse.»

Als die drei Neuankömmlinge versorgt sind, setze ich mich nun ebenfalls wohlig seufzend in meinen Stuhl. Die kühle Luft und die Konzentration auf das Essen sammeln, haben mir gut getan. Sanft schaukelnd beobachte ich die prasselnden Flammen vor uns. Gesättigte Stille erfüllt den Raum und der Augenblick öffnet das Tor der Ewigkeit.

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