3 - Bindung
Wahre bedingungslose Liebe findet von Wesen zu Wesen statt. Welchen Ausdruck sie hier annimmt, lässt uns ein Urteil über ihre Rechtschaffenheit, ihre Echtheit, ihre Legitimität fällen.
Wie kann es uns denn gelingen, dies nicht zu tun?
Aus einem eingeschränkten Sichtfeld...? Gar nicht. Unser Verstand ist schlichtweg nicht in der Lage die ihm übergeordnete Liebe vollständig zu erfassen. In seiner Imperfektion ist er nicht fähig das unendliche Netz der Liebe zu erkennen, wie auch, wenn er damit beschäftigt ist zu urteilen und zu verurteilen.
Aber woher wissen wir, dass es sie denn gibt?
Es gibt eine Sensorik, einen Sinn, der in der Lage ist, sie zu erfassen.
Und welcher?
Die Wahrnehmung.
※※※
Ein beinah freundliches Licht dringt durch das Fenster. Vorsichtig blinzle ich den Schlaf aus den Augen. Ist es denn möglich? Ist es die Sonne?, dringen die ersten klaren Gedanken zu mir durch.
Ich bewege meine steifen Gliedmassen, hier und da knackt es. Mein Schaukelstuhl ist unendlich gemütlich, aber ich habe mich nun mehrere Stunden kein Stück bewegt und das quittiert mir mein Körper nun auf diese Weise. An meinen Füssen bewegt sich der junge Bär, sein Fell kitzelt meine nackten Zehen. Ein kleines Lachen entsteht in meiner Brust. Dadurch nun vollends wach, erkenne ich die zwei dunklen Onyx Augen des Bären, wie sie mich mustern.
«Guten Morgen Jie, mein kleiner Held», sage ich zu ihm und ein Hauch eines Lächelns bleibt in meinem Gesicht. Sofort erhebt er sich, legt seinen schweren Kopf in meinen Schoss und sieht mich vertrauensvoll an. Sanft streichle ich ihn, sein Fell ist nun trocken und dadurch unglaublich weich. Als wäre er nie irgendwelchen Witterungen ausgesetzt gewesen.
«Deine Mama ist schon lange weg oder?», frage ich ihn nun einfühlsam. Sofort fühle ich seine Bestätigung tief in mir. «Waren es diese Männer?», will ich nun weiter wissen. Schwärze zuckt durch meinen Kopf, wie ein mächtiges Gewitter, schlimmer als das gestrige Unwetter. Mein ganzer Körper erstarrt in seiner Bewegung und das Lächeln ist verschwunden.
Als sich langsam alles in mir wieder zu sammeln beginnt, weiss ich nur eines, nein, es waren nicht diese Männer. Doch was es war, ich vermag es nicht zu erfassen.
«Lass uns draussen sehen, was heute für ein Tag ist, ja?»
Auch meine restlichen Gäste freuen sich darüber und warten beinah ungeduldig darauf, dass ich die Tür öffne.
Ich kann nicht sagen, dass das die Sonne ist, wie ich sie aus meinen Geschichten kenne. Doch immerhin ist sie zu erkennen. Ihre blassen und schwachen Strahlen, die durch den nebligen Schleier aus Wasserdunst dringen, liebkosen sanft meine blasse Haut. Die Augen schliessend, halte ich ihr mein Gesicht noch mehr entgegen, während um mich herum fröhliches Gezwitscher und Fiepen herrscht.
Sie verabschieden sich. Irgendwann werden sie wieder zurückkehren und meinen Geschichten lauschen. Nur Jie und die kleine Blaumaise Lenny bleiben bei mir.
Einen tiefen und langgezogenen Atemzug gönne ich mir noch, dann wende ich mich meinem Kleid zu. Es ist sauber und weich, allerdings noch nicht ganz trocken. Erstaunt untersuche ich es. Doch keine Spur der Erde ist mehr zu sehen. Dankbar, dass ich mich heute nicht weiter darum kümmern muss, bringe ich es ins warme und trockene innere meiner Hütte.
Ich habe noch mehr Kleider, also wende ich mich dem schmal gezimmerten Schrank zu. Das kühle Glatt der Oberfläche fühlt sich auf eigenartige Weise wohlig weich an, als würde das Holz auf mich reagieren. Zur Feier des Tages wähle ich ein luftig geschnittenes blasstürkisfarbenes Kleid. Es hat lange, aber dünne Ärmel die meine Schultern frei lassen. Wie eine zweite Haut schmiegt es sich an meinen Oberkörper, von wo es ab der Taille locker, aber schmal geschnitten bis zu meinen Knöcheln fällt, diese aber frei lässt.
Meine Schuhe bleiben heute zu Hause. Mit offenem Haar und in dem hellen Kleid, gehe ich nach draussen. Die Tür lasse ich offen stehen. Niemand kommt hier her, also brauche ich mir keine Gedanken dazu zu machen und der nächste Besuch wird wohl erst in einem oder zwei Tagen sein, wenn ich das richtig gezählt habe. Sie kommt beinah alle sieben Tage und sieht nach mir. Manchmal spricht sie, manchmal nicht. Dennoch habe ich immer das Gefühl auf eine alte Freundin zu treffen. Insgeheim freue ich mich darauf.
Zufrieden, die Sonne im Gesicht und mit leicht federnden Schritten gehe ich über die weitläufige Heide. Der nasse Boden unter meinen Füssen ist kühl und ich kann die leichten Vibrationen Jies fühlen. Lenny fliegt zwitschernd um uns. Sein eigenes Lied der Freude, wärmt beinah noch mehr als das fahle Sonnenlicht.
Den ganzen Tag sind wir unterwegs, streifen durch die Gegend und bewundern die wundervollen Blumen, die die wenigen Lichtstrahlen nutzen, um ihrer Pracht Ausdruck zu verleihen. Kleine Insekten tummeln sich um diese schönen Wesen. Immer wenn eines in die tiefe eines Blütenkelches taucht, nehme ich dieses kleine Flimmern wahr und eine sanfte Liebe durchströmt mich.
Für unseren Rückweg wählen wir den Wald. Auch hier hat das wenige Licht Wunder bewirkt. Die dünnen Blätter und Nadeln leuchten hell. Am Boden glitzern Wasserperlen im Moos und leuchten schöner als tausend Diamanten. Hier und da sammle ich ein paar Pilze, Beeren und kleine Nüsse von den Haselsträuchern.
Träumerisch berühre ich einen der geraden Zweige der noch jungen Hasel. Unter der leicht rauen Rinde pulsiert das Leben. Tief atme ich ein und fühle die Kraft in mir grösser werden. Ich folge dem Leben in diesem schönen Geschöpf bis weit in sein Wurzelwerk. Verbunden mit seinen Freunden in der Umgebung findet ein aktiver Austausch statt. Pilze und kleine Tiere leben hier, es ist beinah hell und leicht, sanfte Klänge durchdringen alles, Bäume grüssen mich freudig und ein zarter Windhauch streift mein Gesicht. Dann verabschiede ich mich.
Als wir in der Hütte ankommen, lege ich die Pilze zum Trocknen aus. Dasselbe tue ich mit einem Teil der Beeren. Jie und Lenny beobachten mich dabei und helfen, wo sie können. Als es dann dunkel wird draussen und wieder dickere Wolken den Nachthimmel versteckt halten, kehre ich in meinen Stuhl zurück. Lenny auf meinem Schoss und Jie zu meinen Füssen, vor uns das prasselnde Feuer.
«Seid ihr bereit für die nächste Geschichte?» Neugierde füllt den Raum und ich verstehe sie als eine klare Aufforderung zu erzählen.
※※※
«Veit, jetzt warte endlich auf mich. Du weisst, dass ich nicht so schnell bin.» Siljas Atem geht schwer. So viel Zeit muss sie mit Stickereien und ähnlichem verbringen. Langeweile und Trägheit bestimmen ihren Alltag. Wen sie ausbrechen kann, nutzt sie jede Gelegenheit.
«Komm schon lahmes Rehlein. Wer zuerst beim Weiher ist», dringt Veits Stimme zu Silja. Mittlerweile ist das seltsame quietschen darin, was plötzlich anfing, wieder weg. Silja hatte sich schon etwas Sorgen gemacht, dass es bleiben könnte, doch ihre Mutter erklärte ihr, dass dies vollkommen normal sei. Sie mag diesen tieferen neuen Klang, wie er durch den Wald nach ihr ruft.
Auch ihr eigener Körper durchlief kürzlich einigen Änderungen. Als sie morgens in einer Blutlache erwachte, dachte sie erst, sie müsse nun sterben. Dass dies eine von nun an monatliche Prozedur sein würde, hätte sie sich nicht ausmalen können. Nun gilt sie als Frau und ihre Mutter ist schon ganz aufgeregt. «Viele werden dich zur Frau wollen Silja, dein Engelshaar und dein schönes Gesicht, du wirst es gut haben», hatte sie stolz verkündet. Ein Schauer durchläuft Silja. Heiraten, von zu Hause weg? Einen eigenen Hausstand führen. Bevor sie von Schwindel übermannt wird, blickt sie sich suchend um. Veit ist nirgends zu sehen, also geht sie, nun ein wenig langsamer in Richtung Weiher, die schrecklichen Gedanken beiseite schiebend.
Schon seitdem sie klein waren, haben sie am Weiher ihren sicheren Hafen. All ihre Geheimnisse teilten sie dort miteinander. Doch in den letzten Monaten hatten sie immer mehr Verpflichtungen, Veit als ältester Sohn und somit Titelerbe, wurde immer mehr in die Geschäfte ihres Vaters eingeweiht.
Schon häufiger hat sich Silja dabei ertappt, dass sie beinah eifersüchtig darauf wartete, bis ihr Vater, Veit endlich frei gab.
Die Röcke gerafft, steigt sie über einen grossen Ast, dabei bleibt einer ihrer Unterröcke hängen. Beinah droht sie zu fallen, schafft es jedoch gerade noch sich aufzufangen. Dann erklingt sie und jagt ihr einen Schauer über ihren Körper, Veits Stimme: «Si, alles in Ordnung? Komm ich helfe dir.»
Sofort ist er bei ihr und löst vorsichtig die Röcke vom Zweig. Doch bevor er den Saum loslässt, blickt er zu ihr hoch. Seine bronzefarbenen Augen blitzen sie schalkhaft an. Bevor sie darauf hätte reagieren können, packt er ihren Fuss und bringt sie zu Fall.
Ihr erschrockener Schrei entlockt ihm ein freches Lachen. Als er jedoch sieht, dass sie sich gerade noch mit den Händen auffangen kann und sich dabei aufschürft, verstummt das Lachen sofort. Besorgt hockt er zu ihr in das Laub vom letzten Herbst.
«Zeig her...», damit greift er sanft nach ihrer Hand, die sie ihm nur widerwillig entgegenstreckt. Von den offenen Stellen geht ein pochend stechender Schmerz aus und treibt ihr die Tränen in die Augen. Sie war schon immer ein wenig schmerzempfindlicher, als ihre Geschwister. Doch seitdem sich ihr Körper so verändert hat, ist es schlimmer geworden.
Sanft entfernt Veit die offensichtlichen Verschmutzungen und pustet dann tröstend über die noch leicht blutenden Stellen.
«Entschuldige Si, das wollte ich nicht», flüstert er dann über ihre Hände gebeugt. Eine Antwort erhält er nicht, was dazu führt, dass er seinen Blick hebt. Dabei sticht ihn der Schmerz tief in die Brust. Die wundervoll blauen Augen sind gerötet und glänzen. Das kleine zarte Gesicht Siljas, vom verbotenerweise offen getragenen blonden Haar umrandet, wirkt so schmerzerfüllt, dass es ihn beinah zerbricht.
Mit aller Zärtlichkeit, die er in seinen langen und feingliedrigen Fingern aufbringen kann, streicht er über ihre Wange. Ihre Haut ist so unglaublich weich, dass ihm der Atem kurz stockt. Ihre Blicke treffen aufeinander und für einen kurzen Augenblick scheint alle Zeit still zu stehen. Kein Geräusch ist zu vernehmen, ausser ihrer beider Atem, der sich zu vermischen beginnt und ihre pochenden Herzen.
Als sich ihre Gesichter noch ein Stück näher kommen, weiten sich plötzlich Siljas Pupillen. Unfähig etwas zu sagen, vermittelt ihr Blick dennoch ihren Schreck und ihre Angst. Sofort zuckt auch Veit zurück. Was ist bloss in mich gefahren? Sie ist meine Schwester..., tadelt er sich selbst, während sein Herz jedoch ungerührt davon, in rasantem Tempo weiter pocht.
«Komm wir gehen zum Weiher. Da kannst du dich etwas waschen», sagt er, als er seine Sprache wieder gefunden hat. Er reicht ihr die Hand als Hilfe zum Aufstehen, welche sie trotz dieses seltsamen Augenblicks annimmt.
An dem kleinen Gewässer setzen sich die beiden ans Ufer unter eine grosse Trauerweide. Der Baum hat ihnen mit seinen langen hängenden Ästen schon immer Sichtschutz geboten. Nach einer ganzen Weile des Schweigens, fasst sich Silja ein Herz.
«Ich habe Angst Veit. Es verändert sich so vieles.»
«Ich habe auch Angst Si. Es ist so viel Verantwortung, die mir Vater da gibt. Aber das alles interessiert mich eigentlich gar nicht.» Entmutigt lässt er seinen Kopf hängen.
«Was würdest du denn lieber tun?»
Erstaunt und mit offenem Blick sieht Veit zu Silja auf.
«Am allerliebsten meinst du? Wenn ich ganz frei wählen könnte?»
«Ja.»
«Dann würde ich mit dir in die fernen Lande reisen. Es soll Orte geben, da wird es gar nie so kalt, wie in den Wintern hier. Ich weiss, du magst die Kälte nicht. Ich würde mit dir dahin reisen, wo es immer warm ist.»
Sein Blick wandert von Siljas Gesicht zum Weiher, in dessen Oberfläche die Bilder vorbeiziehen, die er sich so lebendig ausmalt. Weit weg sind in diesen der Gedanke, dass Silja irgendwann kein Teil mehr seines Lebens sein sollte. Denn dies ist ein Schmerz, welcher ihm den kalten Schweiss ausbrechen lässt. Nervöse Angst treibt ihn dann um, also lässt er genau diese Gedanken aussen vor und sieht ihr beider Leben, wie er es sich ausmalt.
Glücklich gemeinsam, sie bräuchte keinen Mann zu nehmen, den sie nicht will und er würde keine Frau an seiner Seite brauchen, solange sie bei ihm wäre. Ganz gesittet natürlich.
«Das würde mir gefallen», dringt Siljas leise Stimme zu ihm durch.
Wenige Wochen später herrscht Aufregung im ganzen Gut. Es soll ein edler Herr zu Besuch kommen, dessen Familie noch mehr Land besitzt und erst vor kurzem einen höheren Adelsstand erhalten hatte. Er soll eine Frau suchen und da nur Silja im geeigneten Alter ist, zerreissen sich die Mägde und Bediensteten die Mäuler. «Sie ist aber auch eine Perle...», «Wehe, wenn er nicht nett zu dem kleinen Engel ist...», «Ich kann mir das Gut ohne diesen Goldschatz gar nicht vorstellen, ihr helles Lachen wird mir so fehlen...»
Und so weiter gehen die Gespräche. Veit hat sich in eines seiner Zahlreichen verstecke zurückgezogen und lauscht eben diesen Unterhaltungen. Dabei geht es ihm immer schlechter. Angst durchflutet ihn. Dieser Freiherr wohnt viele Kilometer weit weg. Sehr viele. Er würde Silja kaum noch sehen, wenn überhaupt. Und wenn sie krank würde oder sich verletzt. Wie oft war er der Einzige, der zu ihr durchdringen konnte, sie beruhigen konnte. Wenn sie ihm nun entrissen würde.
Das rasende Pochen seines Herzens dröhnt ihm in den Ohren. Unruhig nestelt er mit seinen Händen an dem kleinen Geschenk, welches er zu ihrem Geburtstag geschnitzt hatte. Es ist ein kleines Reh, weil er sie immer liebevoll so nennt. Sie ist nämlich scheu und sensibel, wie eines. Eigentlich wollte er es ihr in einer Woche geben, an dem Tag selbst, doch nun musste er fürchten, dass sie dann schon nicht mehr hier sein würde.
Trotzdem er beinah keinen klaren Gedanken fassen kann, schafft er es ihr eine kleine Botschaft zukommen zu lassen.
Als Silja diese erhält zittern ihre Hände. Eigentlich tun sie das schon den ganzen Tag. Denn heute wird dieser Mann ankommen und sie würde sich am liebsten die ganze Zeit verstecken. Doch ihre Mutter lässt sie nicht eine Sekunde aus den Augen. Alles muss perfekt sein. Sogar ein Bad muss sie nehmen, mit Seife wird alles an ihr geschrubbt und ihr ist dabei nur noch zum Weinen zumute. Sie mag es nicht, so angefasst zu werden.
«Offiziell geht es bei seinem Besuch nicht um dich Liebes, er kommt um deinem Vater wichtige Nachrichten zu übermitteln und geschäftliches zu Besprechen. Aber beim Abendessen musst du glänzen, wie ein Juwel. Ich will keine Widerworte und immer brave Antworten, wenn er mit dir sprechen sollte. Verstanden Kind?», spricht ihre Mutter beinah ohne Punkt und Komma und das schon den gesamten Tag.
Silja hat das Gefühl, dass dieser Tag nie enden wird und das Gefühl zu ersticken stellt sich bei ihr ein. Nur diese kleine Nachricht von Veit, an der hält sie sich fest.
Als dieser Mann dann am späten Nachmittag ankommt, verschwindet er gleich mit dem Vater im Arbeitszimmer. Nur Veit hat ihn kurz zu Gesicht bekommen, da man ihn als ältesten Sohn und Stammhalter vorstellen musste. Dabei erbleichte Veit erst Recht. Dieser Mann war deutlich älter, als er und damit erst recht älter als Silja. Er schätze ihn etwa doppelt so alt, wie Silja.
Allein bei der Vorstellung von diesem Mann, der auch noch einen stattlichen Bauchumfang vorzuweisen hat und der kleinen zarten Silja wird ihm speiübel. Nur mit viel Mühe, kann er sich davon abhalten, irgendwas zu zerstören, denn das würde auch nichts an der Situation ändern. Also hält er sich an seiner Nachricht fest. Es muss einfach funktionieren.
Wie die beiden das Abendessen überstanden haben, können sie sich selbst kaum beantworten. Denn wie von Veit und Silja befürchtet und deren Eltern erhofft, geifert der Mann beinah, als er Silja sieht. Während dem gesamten Abendmahl, waren seine gierigen Augen auf sie geheftet.
Als er dann endlich abreist, weil er noch zu einem weiteren Besuch muss, verspricht er, in wenigen Tagen zurückzukehren, um alles Wesentliche zu besprechen und festzulegen. Dabei kann Veit einen geflüsterten Austausch zwischen ihm und seinem Vater hören. «Ja, ich werde sie dann gleich mitnehmen...»
Nervös wartet er unter der Trauerweide. Schon die ganze Zeit bedeckt eine Gänsehaut seinen Körper. Alle Sorten von Gefühlen stecken dahinter. Am meisten jedoch diese Angst. Er kann sie nicht einmal genau benennen, doch sie grenzt an Panik. Als er leise Schritte vernimmt, atmet er erleichtert auf. Niemand ausser ihr geht so.
Augenblicke später tritt sie durch die Blätter. Sie hat geweint, das erkennt er auch in dem spärlichen Licht, der einen Kerze, die er geschickt im Baum platziert hat. Schnell überwindet sie die letzten Schritte zu ihm und schlingt ihre Arme um seine Taille. Sie reicht ihm gerade mal bis zu den Schultern. Sofort presst er sie an sich, senkt seinen Kopf auf ihr Haar und fühlt zeitgleich zu den hundert anderen Gefühlen ein ziehen in seinen Lenden.
Nach den letzten Jahren weiss er, was dies bedeutet, doch ihm ist auch klar, wie falsch das ist. Sie ist seine Schwester, es ist verboten, eine Sünde. Das ist ihm bewusst und die Kirche geht sehr streng dagegen vor. Dennoch überwältigt ihn ihr Duft und ihre Nähe. Krampfhaft versucht er sämtliche anderen Regungen zu unterdrücken. Die Seife mit der sie heute so grob gewaschen wurde, mischt sich mit ihrem natürlich sanften Körperduft.
«Silja, hör mir zu, es ist wichtig», versucht er nun das Gespräch zu beginnen, was er den ganzen Tag geübt hatte, wenn er dazu imstande war, einen klaren Gedanken zu fassen.
Ihr Blick hebt sich und sieht ihm fragend entgegen.
«Er will dich in ein paar Tagen mit sich nehmen. Vater wird bis dahin die Trauung planen. Si, mir wird ganz schlecht, wenn ich daran denke, dich nie wieder zu sehen und zu wissen, dass du an diesen Mann gebunden sein wirst...»
«...ich will das auch nicht...», flüstert sie mit kratziger Stimme.
Wieder zieht Veit sie an sich. Diesmal, weil ihn dieser traurige Ton in ihrer Stimme dazu zwingt. Wenn er das alles nicht verhindern kann, wird er den Rest seines Lebens jeden Tag sein Herz neu zusammenflicken zu müssen.
«Ich werde das nicht zulassen. Si, ich habe ein paar Dinge gepackt. Eines der Pferde steht auf dem Feld hinter dem Wald bereit. Wir können jetzt sofort gehen.» Seine Stimme ist voller Inbrunst und Hingabe. Silja versteht sofort, wie ernst es ihm ist.
«Aber, dann sehen wir Mutter und Vater nie wieder.»
«Silja, wenn sie auch nur ahnen, was wir vorhaben, werden sie dafür sorgen, dass wir keine weitere Möglichkeit mehr dazu bekommen werden.»
Einen Moment tritt Stille ein. Eine Stille, die Veit beinah um den Verstand bringt, während es in seinem ganzen Körper pocht. Als sie noch immer nicht antwortet, platzt es aus ihm heraus:
«Silja, meine Geliebte Si, ich liebe dich. Mehr als mein Leben. Ich verzichte gerne auf den Wohlstand hier. Ich nehme jede Arbeit an, damit wir anständig leben können, ich werde für dich Sorgen. Bitte komm mit mir.»
Ihre Hand wandert zu seiner Wange. Keine Sekunde lässt sie seine Augen mit den ihren los.
«Du liebst mich?»
«Mehr als mein Leben, ja.»
«Aber Veit, es ist verboten?»
«Silja, ich habe nicht gesagt, dass ich dich will, auch wenn mir mein Körper schmerzlich was anderes zu sagen versucht. Aber wir werden nichts tun, was uns ins Fegefeuer bringt, niemals würde ich dich in eine solche Lage bringen wollen. Ich möchte einfach nur mit dir zusammen Leben.»
«Du hast Schmerzen?», fragt sie entsetzt.
«Das geht schon in Ordnung. Kommst du nun mit mir?»
«Was werden die Leute denken, wenn wir als Geschwister reisen?»
«Die kennen uns nicht und so ähnlich sehen wir uns nicht. Wir können als verheiratetes Paar reisen. Nur wir und Gott wissen die Wahrheit.»
Wieder bleibt Silja still. Lange sieht sie ihn an und dabei fällt eine riesige Last langsam von ihr ab.
«Natürlich komme ich mit dir, mein Liebster Veit. Ich würde ein Leben ohne dich, nicht glücklich leben können.»
Erleichterung bricht sich ihren Weg durch seinen Körper. Mit zitternden Händen holt er die kleine Holzfigur hervor. «Die habe ich dir zum Geburtstag geschnitzt. Nun soll sie mein Versprechen an dich sein, an deiner Seite zu bleiben, mich um dich zu kümmern. Da kann der Herr nichts dagegen haben.»
Staunend nimmt sie das kleine Tier entgegen. Es ist ganz glatt und sanft in ihren Händen und von Veits Körperwärme auch angenehm warm. Zart streicht sie mit ihren Fingern darüber. Dabei beisst sie sich sanft mit ihren Zähnen auf die Unterlippe, was Veit ein scharfes, keuchendes Lufteinziehen entreisst. Sofort blickt sie auf. Sein Gesicht ist bereits ganz nah an ihrem und ihr Herz pocht, als würde sie bereits seit Stunden rennen. Ein leichtes ziehen in ihrem Bauch verrät ihr ihre Freude. Mit einer kleinen Bewegung geht sie ihm entgegen.
«Nur diesen einen Kuss, werde ich mir stehlen...», hauch er ihr zart entgegen und sie presst sich an ihn.
Als seine Lippen auf ihren süssen Mund treffen, löst dies ein Funkenfeuer in seinem ganzen Körper aus. Sämtliche Gedanken sind weggewischt, vergessen ist die Angst und die Einsamkeit.
Mit seinen Händen drückt er sie näher an sich und sie tut es ihm gleich.
Es kostet ihn alle Selbstbeherrschung nach einem viel zu kurzen Augenblick, seine Lippen von den ihren zu lösen. Sofort frisst sich eine Gefühlsmischung aus Schuld und Angst in seinen Magen. Schuld, weil es nicht richtig ist und Angst daran zu zerbrechen dieses Gefühl nie mehr fühlen zu können. Um sich davon nicht überwältigen zu lassen, greift er ihre Hand.
«Komm, lass uns gehen.»
Bald haben sie das Pferd erreicht und noch schneller reiten sie los. Weg, so weit weg, wie es nur irgend möglich ist.
Das Verschwinden der beiden Kinder löst ein Schock in der zurückgebliebenen Familie aus. Mit viel Mühe schaffen sie es, den Skandal für sich zu behalten und die diskretesten Diener den beiden auf die Fersen zu schicken.
Nach wenigen Tagen auf der Flucht, wähnen sich die beiden in Sicherheit. So weit sind sie schon gereist.
Doch woher sollen zwei Kinder, die nie weiter von ihrem Gut weg waren, als einen Nachmittagsausflug wissen, was weit genug ist.
Bald haben die Diener die beiden eingeholt. Zu auffällig waren die beiden so jungen Menschen, die allein in zu teurer Kleidung unterwegs waren.
Ohne viel Aufsehens zu machen, werden sie zurückgebracht. Vor Scham und Schmach und weil keiner so genau wusste, es vielleicht auch nicht so genau wissen wollte, wie weit die beiden gegangen sind, intim geworden sind, wird die Hochzeit mit dem Freiherrn abgesagt.
Schweren Herzens wird Silja in ein weit entferntes Frauenkloster gebracht. «Es soll dort eine bekannte Äbtissin geben, Hildegard von Bingen, vielleicht kann sie dir helfen und dich von deiner Sühne reinzuwaschen. Dein Leben gehört nun dem Herrn, Kind. Lebe wohl.»
Dem freien Leben in warmen Ländern und ihrem liebsten Menschen beraubt, entzieht dies Silja ihre Lebensgeister. Ihre Schönheit verblasst schnell, auch wenn sie niemals so schnell altern konnte.
Als sie ein paar Jahre später in einem Brief erfährt, dass Veit im Kreuzzug gefallen sei, verliert ihr Haar sämtliche Farbe. Grau wie das einer alten Frau wandelt sie durch die Klostermauern. Die Äbtissin ist eine beeindruckende Frau, sie lernt vieles von ihr. Doch berührt wird Silja davon nicht. Das Lernen ist reine Überlebenstaktig, mit etwas muss sie sich beschäftigen, um nicht dahinzuvegetieren. Den wenn sie auch nicht mehr ihr goldenes Aussehen hat, so hat sie sich geschworen, dass sie Leben wird. So lange, wie der Herr sie damit bestrafen gedenkt. Sie wollte für Veit leben, auch wenn er nicht mehr hier war. Vielleicht würde sie ihn, so Gott will im Paradies wiedersehen. Oder wenn ihre Sünde einander zu lieben, auch wenn nie mehr war, als dieser eine Kuss, zu unverzeihlich sein sollte, würden sie sich im Fegefeuer wieder treffen.
Dort könnten sie dann in der Ewigkeit brennen.
In hohem Alter, verliess sie dieses Leben nach einem langen Fieber, ihre Hände um eine kleine Holzfigur eines Rehs geklammert.
※※※
«... 'Vielleicht sind es die Vorboten, vielleicht sehe ich bald meinen Veit im Fegefeuer. Wenn es dem Herrn nicht reicht, was ich im Leben gedient habe, so bringt der Teufel vielleicht etwas erbarmen mit uns Sündern auf.' Das waren ihre letzten Worte», schliesse ich eine erneut erschütternd traurige Geschichte.
«Ich weiss es auch nicht, ich weiss nicht, warum ich mich an all diese Düsteren und Traurigen Dinge erinnern kann. Ihr seid doch der Beweis, es muss auch Schönes geben, woran ich mich erinnere.»
Lenny und Jie sehen mich beide aus ihren so unterschiedlichen und dennoch dunklen Augen an. Nein, sie sind nicht Bronzen wie die von Veit und dennoch erkenne ich etwas von seinem Mut in ihren.
«Ich sollte mich schlafen legen und ihr ebenfalls. Vielleicht ist Morgen der Tag, an dem ich euch eine schöne Geschichte erzählen darf.»
Als ich im Bett liege, kann ich lange nicht schlafen. Mein Herz schmerzt, ich kann sie fühlen.
In meine Träume mischen sich, bronzefarbene Augen, suchend, einsam und engelhaft blondes Haar mit lieblich zartem Gesicht, bis sich sämtliche Lebenskraft dem lieben Antlitz entzieht. Ich will erwachen und das tue ich auch, mit nassen Wangen.
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