12 - Erinnern
Um zu heilen, musst du dich erinnern...
...es führt kein Weg daran vorbei...
...es existiert keine Abkürzung...
...doch du bist nicht allein...
...niemals...
...selbst wenn du allen Sinnen beraubt sein wirst...
...sei dir Gewiss...
...wir sind immer bei dir.
※※※
Hast du dich schonmal gefragt, wer du bist?
Immer...
Und?
Würde ich mich fragen, wenn es wüsste?
Hast du dich mal gefragt, was dich daran hindert, dich zu erinnern?
Ich habe mich versucht zu erinnern.
Das war nicht die Frage.
Nein...habe ich nicht.
Vielleicht wäre das die erste Frage.
Was bin ich? Im Nichts, kann ich da überhaupt etwas sein? Taub, blind, gefühlslos, geruchslos, geschmacklos, gehörlos. Doch diese Gedanken, das bin doch ich. Also muss ich etwas hören. Oder nicht? Und diese Stimme...was meinte sie noch? Die erste Frage sei, was mich daran hindert mich zu erinnern.
Wenn ich das wüsste. Will ich es überhaupt wissen?
Eine gute Frage...
Da ist sie schon wieder, diese eine andere Stimme. Sie klingt in mir nach, zumindest würde ich es so beschreiben, auch wenn ich nicht mehr weiss, wo und was das sein soll. Aber zu mir gehört sie nicht. Ich habe sie schonmal gehört. Doch sie meinte nur 'alles zu seiner Zeit', vielleicht ist jetzt diese Zeit?
Kann es sein, dass du gerade versuchst, dir selbst auszuweichen? Dich abzulenken vom Wesentlichen?
Könnte ich sie angrummeln, würde ich es tun. Ein seltsames Gefühl steigt in mir hoch. Es ist ein Gefühl, tatsächlich, ich fühle. Wie heisst dieses Gefühl nochmals? Wut, genau, Ärger. Ich ärgere mich über diese dämliche Stimme, die statt mir zu helfen, nur dumme Fragen stellt.
Gibt es dumme Fragen?
Halt doch einfach die Klappe und lass mich in Ruhe!
Ach komm schon, wir sind schon bei Wut, willst du wirklich in die Lethargie zurück?
Was?
Na du weisst schon, weder vor noch zurück, gelähmt halt.
Die macht mich noch wahnsinnig.
Du kannst dich natürlich noch weiter an diesen Zustand binden. Das ist deine Entscheidung.
...
Du könntest aber auch versuchen, dich dem Ganzen mal hinzugeben.
Die soll endlich still sein. Wem oder was soll ich mich bitte hingeben?
Wenn du lieber Einsam bleibst...
Verdammt nochmal, das bin ich doch sowieso die ganze Zeit...
Ich fühle Lennys kleines Herz brechen, wenn er das hört und Jie, so sehr hat er sich gefreut dich zu treffen...was soll ich ihnen nur sagen, wenn du dich dieser wundervollen Schöpfung entziehst?
Ich will sie anschreien, schütteln, ich bin so unfassbar wütend. Was erlaubt die sich?
Von Demut hast du noch nie gehört oder? Lieber mit aller Gewalt ankämpfen. Das ist natürlich auch eine Variante.
Wie kann ich einer Stimme im Nichts das Maul stopfen? Geht das?
Wenn du es versuchen magst, tu dir keinen Zwang an.
Die ist wie Luft, ich bekomme sie nicht zu greifen, wieso wirft sie nur alles auf mich zurück? Ich fühle so einen Druck auf mir, oder in mir? Bin ich dieser Druck?
Vielleicht kommst du ins Fliessen, wenn du den Stöpsel ziehst.
Lacht die mich jetzt aus?
Nein, niemals, ich lache mit dir.
Ich lache aber nicht! Verstehst du denn nicht, ich bin wütend, so unfassbar wütend, ich...
Ja, komm, sag es...
Nein.
Schade, ich dachte schon, jetzt kommts.
Was soll kommen?
Na das...
Willst du mich eigentlich verarschen, wer bist du? Was soll dieser Mist, ich will verdammt noch mal hier raus.
Etwas viel auf einmal, was du da willst, oder meinst du nicht? Ein wenig gierig...
Sollte ich je hier raus kommen und du mir über den Weg laufen, ich verspreche dir, ich zerstöre dich.
Scheint, als würdest du dich doch erinnern...
Was?
Ich bin allein, jetzt ist sie weg, diese Stimme. Was sie mir damit sagen wollte, kann ich dennoch nicht verstehen. Meine Wut ist mit ihrem Verschwinden verpufft. Woher ich weiss, dass sie weg ist, keine Ahnung, ich weiss es einfach. Das Nichts hat mich wieder fest in seinen Klauen. Verzweiflung macht sich in mir breit, oder überall? Ich bin allein und ich versteh nicht, was hier los ist.
Irgendwo, weit entfernt – ist es das wirklich – wummert es. Immer wieder nehme ich diesen Krach wahr, im Nichts wirkt alles wie Krach. Gleichzeitig wummert und vibriert es. Kann man etwas als Nichts bezeichnen, wenn da etwas ist? Vielleicht ist da doch etwas und ich kann es nicht sehen. Eine Weile lausche ich diesem Wummern. Aber was ist schon eine Weile?
Diese Geräusche beginnen mich langsam aufzureiben. Was hat es nur mit ihnen auf sich? In mir fühle ich eine kleine Regung, vielleicht sowas wie Neugierde?
In diesem Moment kehrt mein Körpergefühl zurück. Als würde ein Stromschlag durch mich hindurchfahren und ich schnappe nach Luft. Meine Augen reisse ich weit auf, ich möchte es sehen, ich will sehen, wo ich bin. Unter mir fühle ich ebenfalls etwas, die Heide, wahrscheinlich.
Ich fühle mich aber nicht, als wäre ich zu Hause. Ich bin woanders, irgendwie zumindest. Viel zu spät realisiere ich diese eigenartige Stille. Die Stille, die entsteht, wenn alles um einen die Luft anhält. Dann, wie aus dem nichts taucht es auf.
Ein rotes glühendes Licht, es kommt von oben und arbeitet sich seinen Weg erbarmungslos nach unten. Immer näher kommt es und ist dennoch weit von mir entfernt. Als es den Horizont berührt, setzen sich die Teile zusammen. Die wummernde Druckwelle erfasst mich. Der Kollisionslärm ist unerträglich und während mich die Welle weiter vom Geschehen wegschleudert, drücke ich meine Hände auf meine Ohren. Der Schrei meiner Stimme geht im tosenden Schwall der Zerstörung unter, während ohne Pause weitere dieser glühend hellen Dinger einschlagen.
Ich kann nicht mehr unterscheiden, ob ich noch durch die Luft geschleudert werde, oder bereits auf dem bebenden Untergrund gelandet bin. Alles wackelt, alles vibriert und in diesem Augenblick hebt sich ein weiterer Schleier. Tausende Schreie, Millionen von Stimmen, alle höre ich sie gleichzeitig.
Verzweiflung, Angst, Schmerz und ich schreie mit ihnen. Tränen fliessen meine Wangen hinunter und in mir tobt ein Sturm. Meine Hände in den Boden grabend, um irgendwo Halt zu finden.
Zerstörung, überall wo ich hinblicke, alles steht in Flammen und so tue ich es.
※※※
Ich öffne meine Augen, mein Körper glüht und mein Gesicht ist schweissnass. Lenny zwitschert leise neben mir und Jie, ich weiss nicht wie, hat es auf mein Bett geschafft und liegt nun brummend auf meinen Beinen.
War das alles nur ein schrecklicher Traum? Das Vibrieren, war das Jie? Meine Gedanken drehen und ich fühle mich, als würde es mein Körper ihnen gleich tun.
Nein, das war kein Traum, erinnern, das haben sie alle gesagt. Ich soll mich erinnern. War das etwa eine Erinnerung?
Lenny hüpft auf meine Hand, die auf der Bettdecke liegt. Wie bin ich nur hier hin gekommen? War ich nicht...Faryd...er war es. Wieder steigt Ärger in mir empor. Es ist unglaublich frustrierend, als würde ich Rauch oder Nebel mit den Händen zu fassen versuchen. Schlichtweg unmöglich und dennoch da.
Langsam versuche ich mich aus dem Bett zu kämpfen. Ja, es fühlt sich richtig wie ein Kampf an. Mein Körper fühlt sich an, als ob er an tausend Klippen zerborsten wäre und dennoch ist er da. Trägt mich nun aus meinem Bett. Der Boden wirkt geradezu kalt, doch es macht mir nichts aus. Meine Hände betrachtend, erkenne ich, dass meine Haut stark gerötet ist und nicht nur da. Lenny hüpft auf meine Schulter und Jie verlagert sein Gewicht, worunter das Bett ächzend stöhnt.
Aus reiner Vernunft ziehe ich mir meinen Mantel über und öffne vorsichtig die Tür meiner Hütte. Draussen ist es ruhig. Nebelschwaden umgeben uns, kein Wind geht. Erschöpft trete ich hinaus. Irgendwie riecht es anders.
Die winzigen Nebelmoleküle tragen einen neuen Duft in sich, einen, der meine Härchen sich aufrichten lässt. Rauch, aber nicht jener, der aus meiner Hütte kommt. Dieser Rauch ist schwerer, er erzählt ein Lied, ein Lied von Leid und Schmerz. Übelkeit erfasst mich und sofort Flammt diese unbändige Wut wieder in mir auf.
Ein trockener Hustenanfall überkommt mich, versucht den Knoten in meinem Hals loszuwerden. Doch dieser hockt da fest, zieht sich immer enger. Schnell flüchte ich in die Hütte zurück.
«Das war eine blöde Idee», röchle ich zu Lenny, der seinen Kopf schräg legt und mich durchdringend ansieht. Mit einem Blick auf unsere Vorräte, stelle ich erleichtert fest, dass es nicht nötig sein wird, so schnell wieder in diesen Nebel da draussen zu gehen.
Beinah beleidigt stampfe ich nun zu meinem Stuhl und setze mich hinein. Noch immer glüht mein Körper, doch es ist mir gleichgültig. Kochend vor Wut starre ich in die Asche im Kamin.
Jie holt mich aus dieser Haltung, in dem er seinen Kopf auf meinen Schoss legt und mich wie so oft treuherzig ansieht. Ein wenig dieser Wut verschwindet. Liebevoll tätschle ich seinen Kopf.
«Ich frage mich, wieso diese Erinnerung so anders war. Was hat sie zu bedeuten?»
Lenny zwitschert leise und hüpft nun ebenfalls auf meinen Schoss. Diesmal bin ich diejenige, die den Kopf fragend neigt. Eine Weile lausche ich seinem Zwitschern. Das Bild von meinen beiden liebsten Begleitern verschwimmt vor meinen Augen und ich habe Mühe mich zu konzentrieren. Immer präsenter wird Lennys Stimme und gerade als mein Kopf auf meine Brust sackt, höre ich es.
Der Schleier gehoben
Alles verwoben
So lange dich selbst belogen
Kein Weg führt mehr dran vorbei
Die Wahrheit macht frei
Durchlebe sie alle drei
Glaube mir, es geht vorbei
Dann bist du frei
Erstaunt schrecke ich hoch. Augenblicklich sehe ich wieder klar. Tränen gesellen sich zum Schweiss in meinem Gesicht.
«Ich habe Angst.»
Ich weiss. Doch du bist nicht allein.
Ich atme tief durch. Sie spricht wieder zu mir. Es war also wirklich keine Einbildung oder einfach nur ein schlechter Traum. Wobei vermutlich die Tatsache, dass ich Stimmen höre allein nicht sonderlich viel Gutes über meine Zurechnungsfähigkeit aussagt, denke ich leicht zynisch über mich selbst.
Um mich abzulenken, entscheide ich mich, Lenny und Jie die Geschichte der beiden Brüder zu erzählen.
«Ich warne euch, ihr werdet sie aber nicht sonderlich mögen.» Trotz dieser Drohung vernehme ich die zustimmende Aufforderung, mit dem Erzählen zu beginnen.
«Erst entfache ich das Feuer. Nur weil ich bereits am Kochen bin, solltet ihr nicht frieren.» Wieder komme ich mir ein wenig seltsam vor, doch ich kann die Vorstellung gerade nicht im Mindesten ertragen, dass es den beiden Unwohl sein könnte.
Vor prasselndem Feuer und mit einer Hand voll Beeren setze ich mich wieder in den Stuhl. Lenny und Jie blicken mich gleichermassen treuherzig an und schnappen sich ein paar der Leckerbissen. Dabei staune ich, wie sanft und geschickt Jie mit seiner Schnauze ist. Dann beginne ich mit der erschütternden Geschichte.
Bis tief in die Nacht hinein erzähle ich, bis wir alle drei müde das Ende der Erinnerung erreichen. Die Luft in der Hütte drückt bleiern und zwingt uns in den Schlaf.
Draussen bleibt es weiter Still, kein Regen, kein Wind, nur dieser stinkige Nebel. Meine Träume empfangen mich.
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