11 - Teil 3 - Gier
Das Licht der Dämmerung lässt die Schatten im Zimmer sich wandeln und holt Andrew aus dem Schlaf. Erstaunt realisiert er, dass er allein ist. Sofort ist er hellwach und steht auf. Sein Hemd und seine Hose überstreifend, versucht er gleichzeitig seinen hektischen Atem zu beruhigen. Das Pochen seines Herzens lässt ihn beinah taub gegenüber allen Geräuschen von draussen werden. Also setzt er sich kurz hin, atmet tief durch. Sie würde niemals einfach so gehen...
Als das wummern in seinen Ohren nachlässt und er wieder klarere Gedanken fassen kann, fühlt er innerlich, ein starkes Ziehen. Ein Ziehen, welches er beinah als Ruf von draussen - der Natur - bezeichnen würde. Doch diesen Gedanken schiebt er energisch zur Seite. Dennoch folgt er ihm.
Immer wieder gegen die Unruhe ankämpfend, entdeckt er sie am Waldrand gehend. Er beschleunigt seine Schritte und holt sie zügig ein. Sein Atem dröhnt so laut in der morgendlichen Stille, dass er sich beinahe dafür schämt. Gerade als er etwas sagen will, hebt sie ihre Hand und deutet ihm zu schweigen.
Gemeinsam gehen sie durch den Wald, das Licht verändert sich kontinuierlich weiter und erzählt immer mehr vom kommenden Tag. Gerade als sie einen kleinen Bach erreichen, stimmen die Vögel ihr Morgenkonzert an. Augenblicklich wirkt alles lebendiger und wach. Das Murmel des Baches scheint ebenso ein Teil des Orchesters, wie der Wind in den Baumkronen. Tief einatmend nimmt Andrew die Stimmung in sich auf. Die Spannung verlässt seinen Körper.
Fala beobachtet ihn dabei und ein Lächeln umspielt ihre Lippen.
«Jetzt wir können sprechen.»
«Ich dachte kurz du hättest mich verlassen.»
«Ich mit meiner Grossmutter gesprochen.»
«Sagtest du nicht, dass sie nicht mehr lebt?», fragt Andrew, sich an ein Gespräch aus seiner Zeit im Dorf erinnernd. Das Lächeln in Falas Gesicht wird breiter und sie sieht ihn herausfordernd an.
«Tod nicht das Ende, Geliebter, sie nun bei unsere Ahnen. Sie ist in mein Traum gekommen. Hat mir Geschichten erzählt. Also ich bin ihrem Ruf gefolgt.» Andrew lauscht gebannt ihren Ausführungen. Es ist so anders, als das was er von klein auf gelehrt bekam und dennoch fühlt sich all das hier so viel stimmiger an.
«Sie gesagt, Baum lässt im Herbst seine Blätter fallen, aber er bleibt immer Baum. Im Frühling seine Blätter wiederkommen. Sie mir auch gezeigt Wasser, fliesst einfach um Stein, ohne sich daran zu stören. Es immer noch Wasser. Ich möchte mit dir sein. Es einfacher für alle, wenn wir heiraten. Ich kann das tun, ohne mich selbst zu verraten. Denn es nichts ändern an meinem Inneren. Es ist nur äussere Form, die vielen hilft, anzunehmen, was Tatsache ist, nämlich unsere Verbindung. Ich lasse meine Blätter los und fliessen um Stein, doch ich immer noch ich selbst.»
Während sie spricht, zeigt sie um sich in die Natur und lässt ihre Worte förmlich zum Leben erwachen. Andrew hat das Gefühl ihrer Grossmutter selbst zu lauschen und gleichzeitig sieht er da seine Geliebte und hört ihre wundervolle starke Stimme. Als er erkennt, was sie ihm da vermittelt, wird er ganz weich. Ruhig überwindet er die kleine Distanz zwischen ihnen. Mit seinen Händen umfasst er liebevoll ihr Gesicht. Ihre Augen treffen auf die Seinen.
«Du bist das Beste was mir je passiert ist. Ich liebe dich und ich werde dich beschützen, mit allem was ich habe.» Ein wissendes Grinsen huscht über ihr Gesicht und ihre Augen funkeln, bevor sie sie schliesst, als ihre Lippen sich finden.
Eine Woche darauf ist Fala getauft und mit Andrew verheiratet. Die Mitglieder der Gemeinde verstummen zwar auch noch jetzt, einen Monat später, wenn Fala in ihre Nähe kommt, doch sie akzeptieren die Wahl Andrews. Auch Pater Smith hat seinen Beitrag dazu geleistet, da er Fala als wichtiges Beispiel anpries, dass seine Predigten in Zukunft noch mehr Früchte tragen würden. Dies brachte Andrew und Fala zwar regelmässig dazu, in trauter Zweisamkeit, die Augen zu verdrehen, doch sie nahmen es so hin.
Darek hingegen versetzte es immer noch einen Stich, wenn er die beiden so nah und liebevoll miteinander sah. Doch er überspielte diesen Umstand und versuchte sich seinem Schicksal zu ergeben. Immer häufiger flüchtete er sich daher in Geschäftsreisen.
Von eben einer solchen kommt er mit überraschend froher Botschaft zurück, die ihm - so hofft er - helfen sollte, besser mit den Verliebten klarzukommen.
«Drew, ich habe ein Heiratsangebot angenommen», eröffnet er das Gespräch beim Abendessen. Das Scheppern des Löffels, der in den Teller fällt, lässt ihn erstaunt hochblicken. Andrew blickt ihn perplex an und seine Hand verweilt in der Position, als würde sie den Löffel noch halten.
«Was denn?», fragt er amüsiert, «denkst du, du bist der Einzige dem sowas zusteht?»
«Nein, natürlich nicht, aber Darek...liebst du sie?»
«Liebe ist überbewertet, nicht jeder kann so viel Glück haben wie ihr. Sie ist in angemessenem Alter, hübsch und aus guter Familie. Sie wird für unsere Geschäfte gut sein.» Darek isst während er erzählt weiter, als würde er über das Wetter sprechen.
«Aber...Darek...meinst du nicht, dass das ein wenig übereilt ist. Denk doch auch an die junge Dame, sie wird ja sozusagen verkauft.»
«Das wurde unsere Schwester auch. Du erinnerst dich, das ist nun mal normal.» Bei diesen Worten hält er nun doch mit Essen inne. Tief in ihm widerstreben ihm seine Worte selbst. Dennoch hat er sich entschieden und den Vertrag bereits unterschrieben. Kurz fährt sein Blick über Fala und es versetzt ihm wieder einen Stich. Deshalb vermeidet er es meistens, sie anzusehen. Diesmal jedoch erwidert sie seinen Blick direkt und er fühlt, wie sie sich tief in sein Inneres bohrt und dabei auf Wahrheiten zu stossen droht, die er ihr niemals zeigen würde. Also wendet er sich ab.
«Es hat mir auch bei unserer Schwester nicht gefallen. Und wir wissen ja, wie es ihr in dieser Ehe geht.»
«Glaubst du wirklich, ich würde meine Frau so behandeln, wie dieser Widerling?»
«Nein, natürlich nicht...», erwidert Andrew sofort und leicht schockiert.
«Gut, sie wird in einer Woche hier ankommen. Die Trauung ist dann sonntags. Ich denke für diese Saison sind noch keine Änderungen am Haus nötig, wir haben ja unsere eigenen Flügel. Die Gemeinschaftsräume können wir gut weiter so verwenden. Eure Gesellschaft wird ihr bestimmt gut tun, wenn ich auf Reisen bin.»
«Dann herzlichen Glückwunsch Bruder», murmelt Andrew ein wenig resigniert.
Dareks Frau, Leane, ist bildhübsch, muss Andrew zugeben. Ihr orangerotes Haar und die Porzellanblässe ihrer Haut, verraten ihre schottische Herkunft, beinah genauso, wie ihr ursprünglicher Familiennamen. Ihre zierliche Figur, wie auch ihr schreckhaft schüchternes Verhalten erinnern ihn allerdings mehr an ein Rehkitz, als an eine reife Frau. Der Kontrast zu Fala hätte nicht grösser sein können.
Dennoch verstehen sich die beiden, soweit er es beurteilen kann gut. Fala wirkt wie eine grosse Schwester, wenn sie mit ihrer Schwägerin spricht und ihr den Garten erklärt. Darek ist bereits kurz nach der Heirat wieder auf einer Handelsreise, während Andrew freudig die kleine, wachsende Bauchwölbung Falas betrachtet. Auf der Veranda sitzend, einen Tee trinkend, verfolgt er die beiden mit seinem Blick. Fasziniert über die natürliche Präsenz seiner Frau. Von ihr hatte er schon so viel gelernt, wie zuvor nur in seinem Handwerk. Aber auch dort beruhte das meiste auf stumpfem Erfüllen von Techniken, während Fala ihm den Zauber der Welt zeigte. Als hätte sie einen Schleier gehoben, gelingen ihm in letzter Zeit handwerkliche Meisterstücke. Zur Freude Dareks erzielen diese Möbel einen deutlich höheren Preis, als es seine bisherigen konnten.
Bald würde der Herbst das Land wieder prägen und wenn dann der Winter einsetzt, hat Andrew die Hoffnung, dass Darek sich einmal etwas Zeit nehmen würde, bei seiner Familie zu verweilen. Manchmal beschleicht ihn das Gefühlt, als würde Darek getrieben von etwas, was er selbst nicht fassen konnte, die Ferne bevorzugen.
Schnell kommt die herbeigewünschte Zeit und tatsächlich verbringen sie allesamt schöne Wintermonate. Darek wirkt ein wenig entspannter, als sonst und meidet es nicht mehr ganz so oft, seinem Bruder und Fala ins Gesicht zu schauen. Nur ihren wachsenden Bauch, den kann er nicht frei von Schmerz ansehen. Um diesem Gefühl zu entfliehen, erhöht er seine Bemühungen mit seiner Frau. Es bereitet ihm nicht sonderlich viel Freude, dennoch verschafft es ihm Erleichterung. Dass es auch für seine Frau nicht besonders erfüllend sein könnte, daran verschwendet er kaum einen Gedanken. Wenn er doch einmal hochkommt, schiebt er ihn mit aller Kraft wieder zur Seite. Sein Kiefer presst sich aufeinander und heftiger stösst er sich in sie, während einmal im Monat dann wieder die Enttäuschung über ihm Zusammenbricht.
Im späten Frühjahr ist es dann soweit. Als Andrew bereits glaubte, er müsse mit einer Nadel Luft aus Falas Bauch lassen, bevor sie platzt, weckt sie ihn mitten in der Nacht.
«Es ist so weit, er kommt.» Sofort ist Andrew hellwach.
«Was? Bist du sicher? Was muss ich...wie...ich habe keine Ahnung, was ich tun soll.» Fala beginnt zu Lachen und legt ihre Hand beruhigend auf Andrews Schulter.
«Ich weiss es, komm mit...» Damit führt sie ihn nach draussen in die Wälder.
«Aber hier...»
«Vertrau mir.»
Als sie ein gutes Stück in den Wald gegangen sind, hält Fala unter einer grossen und prachtvollen Pappel an.
«Hier ist es. Machst du bitte ein Feuer?»
«Natürlich», erwidert Andrew, mittlerweile ruhig und in vollstem Vertrauen, dass seine Frau weiss, was zu tun ist. Die mitgebrachten Decken und Tücher legt sie behutsam auf den Boden, während sie am nahe fliessenden Bach Wasser in die kleine Holzschüssel gibt. Als sie zurückkommt, beginnt sie sich auszuziehen. Sie liebevoll unterstützend, hilft ihr Andrew dabei, während sie ihm deutet sein Hemd ebenfalls auszuziehen.
Er folgt ihren Anweisungen und fühlt, wie sie sich vollständig dem Prozess hingibt und auf seine Stärke baut. Nichts ist ihm in diesem Moment ein grösseres Bedürfnis, als ihr den Raum schützend zu geben, den sie braucht, um ihren Sohn sicher zur Welt zu bringen.
Das Feuer knistert leise und wirft sein Lichterspiel auf die beiden. Andrew hockt am Baum angelehnt, während Fala auf seinem Schoss sitzend in den letzten Wellen, hin zur Geburt ist. Stark fängt er ihren bebenden Körper mit seiner Kraft auf. Vorsichtig streicht er ihr über den Rücken, die Taille und den Bauch. Ganz sanft um sie wissen zu lassen – er ist da, er hält sie. Kurz vor dem letzten Aufbäumen legt sie in einem kurzen Moment des Innehaltens, ihren Kopf an seine Brust und nimmt einen tiefen Atemzug.
Ihre Hände wandern zwischen ihrer beider Beine und in einem letzten Pressen, empfangen diese, das kleine frisch geborene Wesen. In einer Wolke aus Gefühlen, vollkommen überwältigt, greift Andrew um seine Frau und ihren gemeinsamen Sohn und drückt sie ganz sanft an sich.
Langsam lösen sie sich aus der Position und Andrew deckt die beiden zu. Zufrieden liegt der kleine an der Brust seiner Mutter. Die kleinen Bewegungen seines Mundes lassen Andrew schmunzeln. Bald wird sich der Kleine seinen Weg zu seinem Lebenselixier schaffen. In der Zwischenzeit erklingt das Vogelorchester um sie und läutet den neuen Tag ein.
Während der kleine Dyami zufrieden und glücklich heranwächst, wachsen und entspannen sich auch die Spannungen zwischen den Brüdern wie Wellen. Als ein Jahr später - Andrews Sohn, gerade mit den ersten Schritten beschäftigt - auch die Bemühungen Dareks und Leanes endlich bleibende Früchte zu tragen scheinen, kehren friedliche Monate ein. Der Sommer zieht vorbei und Darek bleibt zu aller Erstaunen häufiger zu Hause und verlässt seine Frau nur für kurze Reisen. Diese scheint diesen Umstand zu schätzen und blüht richtiggehend auf.
Andrew realisiert, dass so unwahrscheinlich es zu Anfang war, Leane definitiv Gefühle für Darek entwickelt hat. Wie es um seinen Bruder steht, kann Andrew nur schlecht abschätzen, dass dieser jedoch mehr zu Hause bleibt, stimmt ihn zuversichtlich. Abends sitzt er - wie so oft - auf der Veranda und beobachtet zufrieden seine Geliebte und seinen Sohn in den Feldern oder beim Spielen. Oft gesellt er sich dazu, doch heute geniesst er es einfach. Das Licht der Abendsonne bricht sich in den Haaren der beiden und der rötliche Schimmer zeigt unverkennbar, ihre Zusammengehörigkeit. Zu aller Überraschung und Falas insgeheim grösster Freude, hat der kleine die Augen seines Vaters.
Wie oft betrachtete sie die beiden und konnte gleichermassen in ihren grauen Tiefen versinken. Seit zwei Wochen nun fühlt sie, dass sie im nächsten Jahr ein weiteres Leben werden willkommen heissen dürfen. Doch zuvor würde sie Leane beistehen dürfen. Sie schätz, dass das kleine Mädchen, so nahm sie es zumindest wahr, mit den ersten Boten des Winters kommen würde. Immer und immer wieder geht sie im Kopf die Liste durch, was sie alles mit ihr durchgehen muss. Denn aus irgendeinem Grund steigt bei dem Gedanken an die Geburt ihrer Schwägerin immer eine Nervosität in ihr auf.
Die ersten Boten des Winters kommen und in den letzten Wochen wurde Leane immer blasser. Sie ass kaum noch etwas und obwohl Fala ihr immer wieder gut zuredete und Mrs. McKenzie alles erdenkliche in der Küche zauberte, bekamen sie kaum etwas in die fahler werdende Frau. Darek war zu der Zeit auf einer, wie er sagte, unaufschiebbaren Geschäftsreise. Fala und Andrew hegten den Verdacht, dass er zum Zeitpunkt der Geburt am liebsten nicht anwesend wäre.
Kurz bevor die Ereignisse ins Rollen kamen, bestellte Andrew den Arzt ein. Er wollte kein Risiko eingehen und einen Fehler machen. Fühlte er sich doch verantwortlich, solange Darek weg war. Wie Fala ihm bereits vor Wochen prophezeite kam mit dem ersten leichten Schneefall die Geburt in Gange.
Der Arzt ergab sich seinem Schicksal und akzeptierte widerwillig den Wunsch Leanes, dass Andrew und Fala bei der Geburt im Zimmer bleiben. Während Dyami in nur wenigen Stunden seinen Weg in die Welt schaffte, zieht sich diese Geburt nicht nur eine gefühlte Ewigkeit dahin. Bereits den halben Tag liegt Leane unter Schmerzen in den Wehen und nun dämmert es schon bald wieder. Andrew fühlt sich komplett hilflos und wenn Fala nicht gerade Leanes Hand hält, so klammert er sich an sie.
Immer wieder wechseln sie sich ab, holen Wasser, Essen und warme Kompressen, hin und wieder legen sie sich für einen Moment hin. Als sich erneut die Nacht ankündigt, verliert Leane – sofern überhaupt möglich - noch mehr Farbe. Schon die ganze Zeit war sie fahl, doch jetzt wird es Andrew unheimlich. Die Haustür unten fällt in diesem Moment ins Schloss und er atmet erleichtert auf. Einen kurzen Blickwechsel mit Fala, die genauso besorgt wirkt und er stürmt nach unten.
«Darek, zum Glück bist du da. Du musst unbedingt kommen, Leane geht es gar nicht gut. Die Geburt dauert schon viel zu lange.» Ohne etwas zu sagen und erblasst, eilt Darek Andrew hinterher. Das Zimmer betretend, tritt Andrew zur Seite zu seiner Geliebten. Darek erstarrt vor dem Bett. Der Geruch von Blut und Schweiss erfüllt den Raum, Andrew kann es kaum noch wahrnehmen, doch Darek überwältigen diese Eindrücke. Das Leben ist beinah komplett aus dem Gesicht seiner Frau entwichen. Der Arzt wendet sich an ihn.
«Wir sollten Pfarrer Smith holen.» Diese Botschaft hallt wie im Echo durch den Raum und es dauert einen Augenblick, bis Andrew sich regt.
«Das werde ich übernehmen.»
Sofort rennt er los, schwingt sich, ohne es zu satteln, auf sein Pferd und reitet los. Der Pater ist glücklicherweise noch wach und schnell bereit mit ihm zu kommen.
Als die beiden in der Dunkelheit das Haus erreichen, wirkt es merkwürdig still. Die Natur hat den Atem angehalten, denkt Andrew und ihm schwant übles.
Eilig gehen sie nach oben. Das Zimmer betreten sie leise und ruhig. Denn die drückende Stimmung ist bereits vor dem Eintreten klar spürbar. Darek hockt auf dem Boden am Fenster, während Fala ihn im Arm hält und wie ein kleines Kind wiegt. Leise summt sie ein Lied.
Andrews Blick fällt auf das Bett. Leanes Körper samt Rundung ist zugedeckt, als würde sie schlafen. Aus diesem Schlaf würde sie allerdings nicht mehr erwachen. Andrew wird übel und er blickt zum Arzt. Dieser sitzt blass am Bett der Toten und tätschelt die leblose Hand. Der Pfarrer erteilt der Verstorbenen den letzten Segen, die letzte Ölung. Danach zieht er sich mit dem Arzt in die Küche zurück um der Familie Zeit zu geben.
«Darek, Bruder, es tut mir so leid», flüstert Andrew und hockt sich ebenfalls auf den Boden. Hinter dem Rücken seines Bruders streicht er sanft über den Arm seiner Frau, unendlich dankbar, um ihren Halt und vor allem darum, wie sie ihren Sohn gesund zur Welt gebracht hatte.
Schauer um Schauer kämpft sich durch seinen Körper. Er kann sich nicht annähernd vorstellen, was gerade in Darek vorgehen muss, denn wäre das dort Fala, es würde ihn vernichten.
In den nächsten Wochen übernimmt Andrew das erste Mal eine geschäftliche Reise anstelle von Darek. Seit dieser Nacht hat er nicht mehr gesprochen als nötig. Dieses nötig bezog sich ausschliesslich auf die Arbeit. Die Beisetzung besuchte er nur auf ausdrückliches Drängen des Paters und Falas. Sie scheint die Einzige zu sein, die er aktuell zumindest ein wenig an sich ran lässt. Andrew lässt die beiden allerdings nur ungern mit Dyami zurück. Doch Fala versicherte ihm, dass es in Ordnung sei.
Seit sie zusammengefunden hatten, war er noch nie so lange von ihr getrennt. Intensiv und gefühlvoll, war ihre Verabschiedung, die die ganze Nacht andauerte. Ihre Küsse kann er auch jetzt noch an sich fühlen. Sie begleiteten ihn die gesamte Woche und er konnte sich an dieser Wärme festhalten. Dennoch fühlt er nun die wachsende Freude und Anspannung in sich auflodern, wo er sich ihrem zu Hause wieder nähert. Im Moment, wo er sie in die Arme schliessen wird, weiss er, dass diese Spannung sich in eine tiefe Entspannung wandeln wird. Ob sich Dyami bereits verändert hat?, gehen ihm die Gedanken durch den Kopf. Seine Geschäfte waren erfolgreich und Andrew war beeindruckt, was für Arbeit Darek geleistet hatte. Er freut sich, ihm diese guten Nachrichten zu überbringen.
Friedlich liegt ihr Gut vor ihm. Für einen Moment hält er Inne und saugt den Anblick in sich auf. Die Sonne ist dabei unterzugehen und lässt die dünne Schneeschicht orange funkeln. Alles wirklich magisch in diesem Kleid und bedeckt die Spuren der Tragödie die sich erst vor so kurzer Zeit ereignete.
Das Gut erreicht er, als die Sonne gerade untergegangen ist. Stimmen dringen aus der Werkstatt zu ihm. Laute Stimmen, schreiende Stimmen. Irritiert und ohne zu zögern steigt er vom Pferd und gibt die Zügel Mrs. McKenzie. Dyami drückt er einen Kuss auf die Wange und knufft seinen Sohn kurz in die Seite, dann schickt er die drei weg.
Eilig geht er auf den Lärm zu und als er die Türe aufreisst, bricht seine Welt für immer zusammen.
Falas Kleid ist zerrissen und sie wirkt arg mitgenommen, ihr Haar ist zerzaust und tränen rinnen ihr über die Wangen. Sofort bricht sein Herz in tausend Stücke, die Luft bleibt ihm weg, als er seinen Bruder sieht. Auch er sieht in Mitleidenschaft gezogen aus. Seine Hose ist ein gutes Stück nach unten gerutscht und Andrew erkennt Kratzspuren an dessen Hals und Armen.
«Was...», schafft es Andrew zu sagen, bevor ihm klar wird, was hier geschehen war. Alles restliche Blut entweicht seinem Gesicht. «Wieso?»
Darek dreht sich nun zu seinem Bruder um, sein Blick wirkt beinahe wahnsinnig und sein Gesicht ist so verzerrt, dass Andrew nicht mehr weiss, wen er da vor sich hat.
«Du hast ALLES...und ich habe nichts. Ich habe mir nur geholt, was mir zusteht.»
«Dir zusteht?!», brüllt nun auch Andrew.
«Ja, mir, ich habe sie zuerst gesehen, ICH bin der Ältere von uns beiden! Mir gehört das alles hier! Nur MIR!»
Andrew wankt einen Schritt zurück. Die Worte seines Bruders brechen auf ihn ein, wie ein tobender Sturm. Sein Blick wandert zu Fala und absolutes Grauen spiegelt sich darin. Das weckt etwas in Andrew und sofort geht er wieder auf seinen Bruder zu.
«Was hast du ihr angetan? Hast du sie gegen ihren Willen...!», mehr kann er nicht aussprechen, er bringt es nicht über sich. Das irre Grinsen im Gesicht seines Bruders bestätigt jedoch seine schlimmsten Befürchtungen. Ein Damm bricht in Andrew. Die Wut, die zwar schon immer da, aber mehrheitlich geschlafen hatte, prescht an die Oberfläche, wie eine Flutwelle die sich durchs Land frisst. Erbarmungslos und vernichtend, beginnt er auf Darek einzuschlagen.
Darek, nicht minder neben sich, erwidert den Kampf. Mit noch halb herunter gelassener Hose fällt er über seinen Bruder her. Schnell fliesst Blut, während Darek droht die Überhand zu gewinnen. Die rote Flüssigkeit wirkt auf Fala wiederbelebend. Aus ihrem Schock auftauchend stürzt sie auf die beiden zu. Eigentlich selbst nicht schwach, doch durch den vorhergehenden Kampf und die Schmerzen gepeinigt, kann sie Darek kaum davon abhalten, weiter auf ihren Geliebten einzuschlagen.
Mit einer Gewalt, die sie sich in ihren schlimmsten Alpträumen nicht hätte ausmalen können, schleudert Darek sie zurück. Dabei erhascht sie, wie in Zeitlupe, das zerschlagene Gesicht ihres Mannes. Seine grauen Augen treffen auf ihre dunklen Moosgrünen und es ist wie ein Abschied. Alles liegt in diesem einen Augenblick, bevor sie mit dem Rücken gegen den Tisch schlägt. Ein stechender Schmerz fährt durch ihren Bauch und echte Panik erschüttert sie in ihren Grundfesten.
Blind in ihrer Angst bekommt sie ein kleineres Holzbrett zu fassen. Damit stürzt sie - gegen den tobenden Schmerz - auf Darek zu und trifft ihn am Rücken damit. Zur Seite fallend, lässt dieser von Andrew ab und bleibt am Boden liegen. Über Andrew zusammenbrechen, verlassen sie alle Kräfte. Tränen strömen über ihr Gesicht, während sie verzweifelt seine Brust nach dem vertrauten Herzschlag absucht. Doch er bleibt aus, nichts, Stille, das ist alles.
Der Schmerzensschrei, den sie von sich gibt, scheucht die ruhenden Vögel draussen auf und sie steigen in den Nachthimmel.
Wenig später hält sie den leblosen und winzigen Körper ihres zweiten Kindes im Arm. Eine absolute Schwere ergreift von ihr Besitz. Sie legt das zarte Geschöpf auf die Brust seines ebenso leblosen Vaters. Von der Dunkelheit übermannt legt sie ihren Kopf auf dessen Schulter.
Was sich danach ereignet, bekommt sie nicht mehr mit. Mrs. McKenzie, von den Geräuschen mehr als beunruhigt eilt herbei. Von dem was sie vorfindet zutiefst erschüttert, stürzt sie los ins Dorf. Von weitem sind ihre Schreie zu hören. Als sie mit dem Arzt und dem Pater zurückkehrt, finden sie Darek über der kleinen Familie kauernd vor.
Sein Gesicht ist von Schmerz, Entsetzen und Abscheu gezeichnet.
«Was habe ich getan...sie alle...ich wollte doch nie...er hatte recht...ich habe es zerstört...» In beinah endlosem Strom murmelt er vor sich hin, nicht realisierend, dass er nicht mehr allein ist. Suchend und dennoch blind stolpert er durch die Werkstatt. Schliesslich scheint er fündig geworden zu sein. Nach dem scharfen Schnitzmesser greifend, dringt die Klinge schneller in seine Arme, als die Beobachtenden hätten reagieren können.
Schnell und pulsierend dringt das helle rote Blut hervor und nur schwankend schafft er es zurück zu seinem Bruder und dessen verlorenen Familie.
«Es tut mir so leid...ich war...geblendet...ich...mir nie verzeihen...tut...leid...»
Eine warme kleine Hand berührt ihre Wange. Vorsichtig öffnet sie ihre unfassbar schweren Lider und blickt in graue Augen. Freude und Schmerz gleichermassen flammen in ihr auf.
«Dyami...», flüstert sie mit rauer Kehle. Sie fühlt sich wie ausgedorrt. Doch das Geräusch bringt weitere Bewegung um sie herum in Gange.
«Mrs. Johnson, sie sind wach, Gott sei gedankt. Wir dachten, wir hätten auch sie verloren», redet Mrs. McKenzie sofort auf sie ein.
Die Tage nach ihrem Erwachen bleiben verschwommen. Viele Menschen kommen und gehen, drücken ihr Mitgefühl aus. Doch sie fühlt sie nicht, leere Worte, leere Gesichter, leere Welt. Nur an ihren Sohn klammert sie sich. Wider aller Erwartungen erholt sie sich körperlich schnell.
Als sie wieder einigermassen einen klaren Gedanken fassen kann, fasst sie einen Entschluss.
«Ich werde mit Dyami zu meinem Stamm zurückkehren. Hier gibt es nichts mehr, was mich hält.»
«Aber Mrs. Johnson, das können Sie doch nicht machen. Das gehört nun ihnen, also ihrem Sohn genau genommen. Er ist der einzige Nachkomme ihres Mannes. Der einzig lebende männliche Johnson auf dieser Seite des Ozeans», redet der Pater auf sie ein, «und denken Sie nur an die Gemeinschaft, an Gott, der sie hierhin geführt hat.» Fala sieht ihn lange an. Immer wieder fragt sie sich, ob er realisiert, was er da gerade sagt. Sie befürchtet nicht. Also lässt sie ihn in seiner Verklärtheit.
«Alles was ich hier geliebt habe, ist nun fort. Ich sage es nochmals, ich gehe zu meinem Stamm. Machen Sie mit dem Nachlass, was Sie wollen. Mir ist das gleichgültig.»
«Aber..»
«Das ist mein letztes Wort.»
Erschöpft und bis in die Tiefen verletzt, tritt Fala durch die Bäume auf die Lichtung ihres Stammes. Dyami klammert sich dabei fest an sie. Ihm fehlt sein Vater, sie kann es fühlen. Sie kann fühlen, dass er auch ihren Schmerz wahrnimmt und sie würde alles geben, könnte sie ihm diesen Schmerz nehmen. Als Fala ihrem eigenen Vater gegenübersteht, erkennt dieser ohne Worte, was geschehen ist.
«Gier zerstört alles. Er konnte es selbst nicht erkennen, erst als es zu spät war. Ich fühle für dich meine geliebte Tochter. Hier hast du immer ein zu Hause und wir werden dir alle helfen, dass eure Wunden kleiner werden können. Wir sind für euch da.»
Tränen rinnen über ihre Wangen, als sie die wärmenden Arme ihres Vaters um sich fühlt.
Unendlich dankbar für ihre Familie, für den Zusammenhalt...
Die Stimme ihrer Grossmutter begleitet sie fortan durch ihr Leben:
Alles ist Verbunden. Wir heilen nie allein, wenn die Welt in Asche liegt, brauchen wir einander, um wieder aufzustehen. Auch wenn uns alles genommen wurde, fühle den Schmerz, lass ihn zu, irgendwann wirst du sehen, dass immer mehr Licht das Dunkel zu erhellen beginnt. Ein natürlicher Prozess und du musst dich ihm nur hingeben.
Die trommelnden Klänge und der Duft der heilenden Kräuter wabern um sie. Aus einem tiefen Wasser, emportauchend, nach Luft ringend, bereit die ersten Schritte zu gehen...
※※※
...das Glühwürmchen, ich kann es in mir fühlen. Es pulsiert, es lebt, es strahlt. Aber ich bin allein, ich habe niemanden..., hallt meine Stimme verzweifelt in meinem Kopf wieder und alles um mich herum beginnt in Schmerzen zu beben. Halb blind vor Wut und Angst, blicke ich empor, da steht er noch immer. Ist überhaupt Zeit vergangen? Seine klaren Augen liegen auf mir.
«Ich bin allein...», brülle ich ihn nun an, «ihr habt mich allein gelassen...» Tränen brennen in meinen Augen und die Wut droht meine Stimme zu ersticken, während die Welt um mich herum weiter bebt.
«Erinnere dich...», hallt diese eine unbekannte Stimme, durch die Welt, als würde sie aus jeder Pflanze, aus jedem Molekül sprechen. Das damit verbundene Dröhnen verstärkt sich. Faryds Zeigefinger berührt mich an meiner Stirn. Wann ist er mir so nah gekommen?
Rückwärts falle ich...umgeben von Dunkelheit, wie bei Fala, drücken mich Tonnen von Wasser in die Tiefe, ich will schreien, doch alles bleibt still. Nur dieses - erinnere dich, steig hinab und erinnere dich... - begleitet mich ins unendliche Nichts.
Nach hinten kippend, fallend, durchdringt mich Dunkelheit...
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