10 - Fliessen

Es gibt Begegnungen, die will ich schnell vergessen...
Es gibt Begegnungen, an die möchte ich mich festklammern...

Und es gibt diese eine Begegnung, die mich so nachhaltig und immerwährend berührt, dass sie die Ewigkeit verändert. Es ist diese eine Verbindung, die ich nie vergessen werde, ob durch Finster oder Hell, ob negierend oder verzehrend, sie ist da. Die Spur, die diese Begegnung hinterlässt, hat ihr Licht durch Zeit und Raum gezogen. Das Mobile der Welten und Existenzen erschüttert und für immer verändert.

In Liebe und Hingabe, werde ich dich suchen und finden, obschon wir immer verbunden sind.

Deine helfende Hand, von Weisheit geführt, sie ist da, ich muss nur die Augen schliessen und mich ihr öffnen.

Durch Zeit und Raum fliessend, für immer berührt.

※※※

Die Tage ziehen wie die Wolken ins Land und wechseln sich rhythmisch mit der Nacht. Wieder werde ich von Laila besucht. Ihre leisen Klänge kündigen sie noch vor dem fahlen Licht, welches sie immer umgibt, an. In weite Fernen scheint sie mich damit entführen zu wollen.

«Komm, sieh es dir an...», wispert sie leise und ihre Stimme klingt, als würde sie von weither kommen, obwohl sie mittlerweile direkt vor mir schwebt. Ohne Widerworte folge ich ihr. Meine Jacke um mich schlingend und in meinen Stiefeln, führt sie mich - wie so oft - nach draussen. Lenny hockt sich dabei auf meine Schulter, während Jie und die Eichhörnchen drinnen zurück bleiben.

Laila führt mich durch die nächtliche Landschaft, immer weiter, bis wir genügend Distanz zwischen uns und den Wald gebracht haben. Hier bleibt sie in der Luft schweben und sieht in Richtung Horizont. Knirschend komme auch ich auf dem leicht gefrorenen Untergrund zum Stehen. Mein Atem bildet kleine Wölkchen und Lenny hat sein Federkleid weit aufgeplustert.

Ohne ein weiteres Wort zu sprechen, bleibt Laila regungslos, bis ich ihrem Blick folge und den vollen Mond am Nachthimmel erkenne. Helle Nebelschwaden ziehen an ihm vorbei, können sein Licht allerdings nicht komplett verbergen.

So dastehend rücken meine fragenden Gedanken in den Hintergrund und der Moment zieht sich immer mehr in die Länge. Ich kann meine Augen nicht abwenden und sanft erreichen mich Klänge und Bewegungen aus weiter Ferne. Tief in mir fühle ich das ziehen meiner Muskeln, die mit in den Tanz einsteigen möchten. Ohne gross darüber nachzudenken, gebe ich ihnen nach.

Lenny flattert in meinem Tanz mit seinem goldenen Zwitschern um mich herum, während ich immer wieder warme, liebevolle Hände auf mir fühlen kann. Niemals würden sie mir schaden wollen. Darum bemüht im Einklang mit mir und meiner Bewegungen zu sein, folgen sie mir und ich lasse mich immer tiefer auf unseren Austausch ein.

Erst als die Dämmerung das Lichterspiel verändert, kehre ich aus meinem tiefen tranceartigen Zustand zurück. Mein Körper pulsiert und fühlt sich lebendiger als seit langer Zeit. Mit leicht geröteten Wangen und leuchtenden Augen wende ich mich Lenny zu, der zufrieden auf meiner Schulter Platz nimmt. Von Laila fehlt mittlerweile wieder jede Spur.

Gemächlich kehren Lenny und ich zur Hütte zurück, wo wir gemeinsam mit den anderen ein kleines Frühstück zu uns nehmen, bevor wir bei fahlem Sonnenschein unsere Vorräte auffüllen gehen. Am späten Nachmittag kehren wir, von grauen Wolken gefolgt, zur Hütte zurück.

Das Feuer habe ich schnell entfacht und einem Impuls folgend, lege ich ein paar frische Tannenzweige hinein, welche augenblicklich ihren Duft in der Hütte verströmen. Das laute Knacken erfüllt den Raum und langsam beginnen sich alle um mich zu sammeln, denn ich habe eine neue Geschichte zu erzählen.

«Unsere Geschichte führt uns an einen beinah paradiesischen Ort, mit wundervollen Pflanzen, Früchten und exotischen Düften...»

※※※

Mit geschlossenen Augen wandert sie durch das lebendige und unendliche Reich unter ihren nackten Füssen. Die Hand liebevoll auf der Erde liegend, während die Gräser im sanften Wind wiegen. Tief atmet sie den Duft der warmen Luft ein. Bald wird es regnen. Das Wasser des ihr so vertrauten Flusses wird langsam übertreten und die vielen Brunnensysteme ihrer Heimat noch mehr zum Sprudeln bringen.

Die näherkommenden, sanften Vibrationen unter ihrer Hand verraten ihr, dass sie gleich das Flüstern der Natur nicht mehr vernehmen können wird. Ein Lächeln schleicht sich in ihr Gesicht und mit einem letzten, liebevollen Blick in die Erde, verabschiedet sie sich für den Augenblick. Genau in diesem Moment erklingen die Stimmen.

«Ishara...hier bist du...»

«...wir haben dich überall gesucht...»

«...hast du wieder mit ihr gesprochen?»

Die leuchtenden Augenpaare der beiden Schwestern Enit und Elif fixieren mich. Ihr tiefes Blau enthält keine Spur eines Vorwurfs, wirken jedoch amüsiert. Das sind die beiden sowieso meistens, kaum hatte Ishara die beiden je traurig oder zermürbt erlebt. Ganz im Gegensatz zu ihr selbst. Ihren Gedanken folgend, erkennt sie, dass die beiden auf eine Antwort warten.

«Entschuldigt, ja, habe ich.»

«Und, kommt der Regen bald, geht es ihr gut?», fragt Elif und neigt dabei ihren Kopf leicht schräg. Eine Geste, die sie und Enit gemein haben.

«Ich denke schon. Es fühlt sich so an.»

«Wir sollten dich holen für die Nanna-Zeremonie...»

«...Ukht Ruhiya Mahdiya hat uns geschickt», ergänzt Elif die Ausführung ihrer Schwester. Ein wenig genervt, verdreht Ishara die Augen.

«Natürlich tut sie das», flüstert sie, doch Enit entgeht es nicht. Ihr messerscharfer Blick durchbohrt sie. Ishara konnte den Zeremonien nie so viel abgewinnen. Ihr fehlte immer etwas. Die Liebe in den Ritualen durchaus spürend und mit einer Begabung die Erde wahrzunehmen, war da dennoch immer diese Spannung.

Sich ihrem Schicksal ergebend, folgt sie dem Geschwistergespann. Schnell ist sie dabei wieder in ihrer Umgebung versunken und ihr Körper scheint ohne ihr geistiges zutun den beiden zu folgen. Der sanfte Wind bewegt das Laub der vielen Bäume und Pflanzen. Das Rauschen zieht Ishara mit sich in die Lüfte und lässt sie ihre Heimat von Oben betrachten.

Fasziniert von dieser unglaublichen Farbenpracht, von der wundervollen Symmetrie die von den Kanälen gefasst wird, saugt sie den damit verbundenen Duft der vielen Blüten tief in sich auf. Für einen winzigen Moment hält sie ihre Augen geschlossen und sieht dabei gestochen scharf, wie eine kleine Biene eine der vielen Jasminblüten anfliegt. Sorgsam holt diese sich den kostbaren Nektar. Ein leises Flimmern scheint sie in diesem Augenblick zu umgeben. Dieser Moment katapultiert Ishara augenblicklich zurück in ihren Körper.

Erstaunt blinzelnd betrachtet sie nun wieder die Rücken der beiden Schwestern, deren rotgoldene Locken im Takt ihrer Schritte schwingen. Die beiden sind nicht die einzigen, mit dieser wundervollen Haarpracht, während Ishara selbst immer wieder mit ihren Schwarzen locken hadert. Sie scheinen ihr Gemüt hin und wieder nur allzu gut zu unterstreichen. Während sie ihren Gedanken folgt, treten sie in die schattigen Hallen.

Auch wenn Ishara den Zeremonien nur wenig abgewinnen kann, so fühlt sie dennoch die starke Energie, die von der Bauweise des Tempels herkommt. Alles scheint leicht und betörend zu vibrieren. Schnell verfallen hier Besucher, wie auch sie als Tempeldiener in einen Trancezustand. Viele besuchen die Hallen um - mit Hilfe Nannas - Heilung oder Antworten auf grosse Lebensfragen zu finden.

Während draussen langsam die Sonne hinter dem Horizont verschwindet und damit das Licht mittels Nanna in die Welt schickt, beginnen die Priesterinnen und ihre Schülerinnen mit den Waschungen. Als der Mond und damit der Geist Nannas die Länder und dank präziser Ausrichtung, auch die Innenräume der Tempel erleuchtet, beginnen die Frauen ihre Tänze.

Geführt von den sanften Flötenklängen und deren perfekten Widerhall an den Wänden, ist Ishara diesmal schneller in anderen Welten, als sie es sich hätte vorstellen können. Sie befindet sich wieder in den Gärten, jemand geht neben ihr, doch sie kann ihn nicht sehen. Die Kraft und Energie die von ihm ausgehen, erschüttern sie jedoch aufs Tiefste. Allerdings fühlt es sich nicht schlecht an. Im Gegenteil, Ishara fühlt sich, als hätte sie etwas lange gesuchtes Wiedergefunden. Etwas von dem sie nicht einmal wusste, dass sie es gesucht hatte.

Sie schreiten gemeinsam durch die Gärten und obwohl sie seine Stimme nicht hört, fühlt sie, wie er mit ihr spricht. Immer wieder fallen ihr Pflanzen auf. Erst die Orangen, beinah reif und so reich an Energie. Sie bilden den perfekten Kontrast zum satten Grün der Blätter. Als die Orangen vorbeiziehen, fällt ihr bereits die nächste Frucht ins Auge. Das gelb der Zitrone scheint wundervoll zum Orange ihrer Pflanzenschwester zu passen.

Langsam schreiten sie weiter und begegnen erneut dem blühenden Jasminstrauch. Tief den Duft einsaugend, holt sie dieser erneut augenblicklich in ihren Körper zurück. Die Musik ist verklungen und regungslos, beinah leer verharrt sie in ihrer Position. In ihr dröhnt die Stimme ihres Herzens. Es fehlt noch etwas, das war nicht alles...es ist noch nicht harmonisch. Eine Hand auf ihrer Schulter holt sie endgültig ins Jetzt zurück.

«Ukht Ruhiya...verzeiht...habe ich etwas falsch gemacht?», hört sie ihre Stimme, die so eigenartig fremd klingt.

«Du hast etwas gesehen? Doch wieso bist du so in Aufruhr?»

«Ihr wisst davon?» Als Antwort erhält Ishara nur einen langen Blick, welcher sie ausserdem zum weiter Sprechen auffordert. «Nun ich habe diese Pflanzen gesehen. Sie haben sich mir gezeigt, obwohl ich sie doch schon mein ganzes Leben kenne. Ich soll damit etwas machen, doch ich kann fühlen, dass noch entscheidende Komponenten fehlen. Und dann war da dieser Mann...» Ihre Stimme bricht ab und sie verfällt in Schweigen.

«Macht der Kosmos Fehler?» Ishara hätte mit vielen Erwiderungen gerechnet, doch nicht mit dieser. Was sollte das überhaupt heissen? Wie sollte Ordnung ein Fehler machen? «Und wieso stellst du dann die Botschaft in Frage?»

«Das tue ich doch gar nicht.» Frustriert stapft Ishara mit dem Fuss auf. Der Hall breitet sich in der mittlerweile leeren Halle aus. Ihre Schwestern haben sich bereits zurückgezogen. Wieso muss auch immer ich aus der Reihe fallen?

«Hast du schonmal daran gedacht, dass es vielleicht noch nicht an der Zeit ist, für die restlichen Informationen?», holt Mahdiya sie aus ihren aufbäumenden Gedanken zurück. Augenblicklich wird sie ruhig. «Vertrauen ist der Schlüssel zur Geduld, Liebes.» Mit diesen Worten entschwindet die Ukht Ruhiya und lässt Ishara allein zurück.

Einige Monde später -  in denen Ishara ihre Zeit damit zugebracht hat, die fehlenden Teile ihrer Vision zu finden - nachdem unzählige Regentropfen auf das Land niedergingen, geht sie nervös im Orangengarten auf und ab. Erste Blüten öffnen sich und verströmen ihren lieblichen Duft. Enit und Elif sitzen derweil gelassen auf der feuchten Erde und beobachten Ishara.

«Vielleicht suchst du am falschen Ort?», wirft Enit ein.

«Wo soll ich denn noch suchen?»

«Ich weiss auch nicht, vielleicht einfach wo anders...»

«...an einem Ort an dem du eine Antwort am allerwenigsten erwarten würdest?», ergänzt Elif. Diese Worte bringen Ishara zum Stehen. Irgendwie scheint die Luft um sie es ihr gleichgetan zu haben. Die Welt hält Inne und da sieht sie es.

«Ihr seid die Besten», ruft sie überschwänglich und mit dem Kopf schon zehn Schritte weiter, «ihr habt was gut bei mir.» Damit eilt sie davon und so entgeht ihr der leicht amüsierte Blickaustausch zwischen den Schwestern.

Hektisch eilt Ishara zu Mahdiya, welche sie beim Essen antrifft.

«Ukht Ruhiya Mahdiya, ich glaube nun zu wissen, wo ich Suchen sollte. Enit und Elif gaben mir den entscheidenden Hinweis. Dazu müsste ich in die Stadt. Könnt ihr mich heute entbehren? Es ist wirklich wichtig.»

«Wenn du einen Hinweis bekommen hast, solltest du ihm folgen.»

«Danke Ukht Ruhiya, dann geh ich gleich los.»

«Achte auf deinen Atem...», gibt Mahdiya leise von sich. Die Worte sind gerade laut genug, damit sie die forteilende Ishara erreichen können.

Sich immer weiter vom Tempelkomplex entfernend, hin zu einem der weiteren Zentren dieser unendlich kunstvollen Stadt, pocht Isharas Herz laut in ihrer Brust. Das dröhnen erreicht beinah ihre Ohren und sie fragt sich nicht nur einmal, ob es andere nicht auch hören können.

Überall wird sie freundlich gegrüsst und erwidert die Gesten. Farbige Gewänder, kleine Geschäfte mit Gewürzen und vieles mehr fluten Isharas Sinne. Das Plätschern der vielen Wasserkanäle, das Flattern und Pfeifen der unzähligen Vögel lassen den Strom der Reize nicht weniger werden.

Doch sie hält ihren Fokus auf das fehlende Teil gerichtet. Immer weiter führt es sie in die inneren Bereiche der Stadt. Unruhe steigt in ihr auf. Was, wenn ich es nicht finde? Was übersehe ich? Die Worte der Ukht Ruhiya hallen erneut in ihr nach.

«Atmen, genau...», flüstert sie zu sich selbst und bleibt abrupt stehen. Tief zieht sie die würzige Luft in sich ein, hält diese kurz und entlässt sie danach wieder in die Freiheit. Wieder und wieder atmet sie aufs Neue, bewusst und tief, während ihr pochendes Herz langsam zur Ruhe kommt. Die Geräusche der Menschen rücken in die Ferne, der Wind frischt auf und fährt ihr durchs Haar. Mit ihm dringt ein Klang aus den vielen hervor. Ein weinendes Kind...

Schnell öffnet sie ihre Augen und folgt dem Ruf. Als sie einen der wundervollen Gärten erreicht der nah am Handelsplatz ist, bleibt sie erneut abrupt stehen. Sofort wendet sie ihren Blick, das Geräusch ist weg. Langsam und möglichst achtsam betritt Ishara den Garten durch den wundervollen grün bewachsenen Torbogen. Da sieht sie die beiden.

Mit dem Rücken an den Baum gelehnt wiegen sie sich in einer Einheit. Der Wind umspielt sie, wiegt sie in seinem Rhythmus. Die Frau, vollkommen bei ihrem Kind, folgt mit dem Körper den zarten Bewegungen, während das kleine Kind an ihrer Brust in demselben Rhythmus nuckelt.

 Bewegt und tief ergriffen von dem Anblick dieser Einheit, geht Ishara in die Knie. Mit den Händen auf dem Boden und Gefühlen, die sie niemals in Worte fassen könnte, versucht sie weiter zu atmen. Der Wind ergreift nun auch sie und trägt einen süsslichen Duft mit sich. So sanft und milde und dennoch warm umhüllend.

Vanille..., schiesst es ihr durch den Kopf, obgleich dieser vermeldet, dass sie unmöglich den Duft der Milch wahrnehmen könne. Darum geht es überhaupt nicht, bringt sie diese ungebetene Stimme zum Schweigen.

Als sie wieder hochblickt, sieht sie direkt in die Augen der Mutter. Ein zufriedenes Lächeln umspielt deren Augen, die von ihrer Weisheit erzählen.

Einen Wimpernschlag später ist der Augenblick vorüber und Ishara steht langsam auf. Beinah betäubt vom Erlebten, wandelt sie den Weg zurück. Diesmal dringen die vielen Eindrücke nicht mehr zu ihr durch, nur die Begrüssungen erwidert sie konsequent.

«Du hast es gefunden.» Die in sich ruhende Stimme der Ukht Ruhiya dringt zu Ishara durch, während diese sie erstaunt anblinzelt.

«Ja, Ukht Ruhiya Mahdiya, ich habe sie gefunden. Es war ganz anders, als ich gedacht habe.» Das Lächeln der Ukht Ruhiya bedürfte keiner Worte, dennoch spricht sie sie diesmal aus.

«So ist es des Öfteren.»

«Ich werde nun versuchen die Essenzen zu mischen.»

«Tu das und erzähle mir anschliessend, welche Erkenntnisse du daraus gewonnen hast.»

«Das werde ich.» Damit wendet sich Ishara erneut von Mahdiya ab, um ihrem Weg zu folgen. Die Ukht Ruhiya blickt ihr, wissend, mit viel Liebe hinterher. Sie empfand schon seit Ishara zu ihnen kam, eine tiefe Zuneigung ihr gegenüber.

Bereits das warten auf die Vanille fühlte sich für Ishara wie eine Ewigkeit an. Doch das Beschaffen und Herstellen der Essenenzen in der höchsten Qualität erforderte nochmals einige Geduld und Hingabe seitens Ishara. Erst mit der Vanille kam ihr auch die Art und Weise der Zubereitung in Form von Ölen.

Abermals zogen viele Monde dahin, bis Ishara jedes der vier Öle in reinster Qualität vor sich hat. Langsam öffnet sie eines der Fläschchen und führt es ein Stück näher zu ihrer Nase. Sie könnte genauso in eine frische Orange beissen, so intensiv empfängt sie deren Duft. Nur wenige Tropfen fügt sie dem reinen, erdigen Sesamöl hinzu. Diesen Vorgang mit den anderen Ölen in unterschiedlichen Mengen wiederholend, schliesst sie zuletzt mit der Vanille. Nachdem sie die Öle gut mit dem Sesamöl durchmischt hat, führt sie diese erneut an ihre Nase.

Die entstandene Mischung löst ein tiefes Wohlbefinden in ihr aus. Nach kurzer Zeit jedoch fühlt sie, dass nicht alles Rund ist. Empört und mit ihren Nerven wieder einmal an die Grenzen stossend, stapft sie mit dem Fuss auf.

«Es fehlt etwas, ich glaube es einfach nicht!»

Frustriert über die Unvollständigkeit ihrer Arbeit, legt Ishara diese zur Seite und begibt sich stattdessen auf eine lange Reise. Elif und Enit tun es ihr aus anderen Gründen gleich und trotzdem fühlen sich die Drei dadurch irgendwie verbunden, auch wenn jede für sich unterwegs ist.

Während ihrer Reise lernt Ishara viele neue Orte kennen, Städte und Bildungszentren, von denen sie zuvor nur gelesen hatte. Sie besucht ausserdem die anderen Heiltempel und sucht dort, auch wenn sie es sich nicht eingestehen würde, nach dem fehlenden Element. Dadurch innerlich immer leicht in Spannung, fällt es ihr hin und wieder schwer, sich einfach dem Fluss der Reise hinzugeben. Wenige Dinge und nur wenige Menschen schaffen es, ihren Fokus so auf sich zu ziehen, dass sie sie wirklich vollumfassend wahrnimmt.

Immer wieder kehren ihre Gedanken zu der Mutter zurück, die sie mit so klarem Blick konfrontiert hatte. Was heisst das? Muss ich selbst Mutter sein? Das will ich nicht, es ist mir zuwider....

Ihre Gedanken ziehen vorbei und nehmen kein Ende, sie sind geprägt von Unruhe und der Suche. Doch kein Schritt scheint sie wirklich näher zu bringen. Näher zu diesem Gefühl, näher zur Ganzheit, näher zum Frieden.

Als sie Assur erreicht, umfängt sie einerseits eine Faszination für diese ehrwürdigen Tempel, Paläste und die Schönheit der Stadt, andererseits wird sie von einer tiefen Taubheit und Erschöpfung ergriffen. Unfähig weiter zu Reisen findet sie ein Heim in einem ebendieser Tempel. Lethargisch und zeitgleich rastlos, wandert sie nachts durch die ruhige Stadt. Die Sterne funkeln am Himmel und der Mond hat sich zurückgezogen. Dennoch ist es nicht zu dunkel und mittlerweile kennt sie sich auch ein wenig aus.

Ihre Schritte führen sie zielsicher zu einem der grossen Gärten, nahe ihrer Unterkunft. Dort, umfangen von der lauen, duftschwangeren Luft, legt sie sich auf die Erde. Mit einer Handfläche auf dem Gras liegend, taucht sie hinab in die Tiefen der Natur selbst. Dieser Kontakt bringt ihr zeitweise Ruhe und lässt sie regenerieren, auch wenn sie später wieder in Rastlosigkeit verfällt.

Es ist in einer dieser Nächte, als sich das Blatt zu drehen beginnt. Tief in sich und die Erde versunken, bemerkt sie den anderen Gast erst, als dieser neben sie tritt. Sofort jagt sie hoch und ihr Herz pocht stark in ihrer Brust. Gedanken rasen vorbei. Wie konnte ich ihn überhören? Wie hat er sich angeschlichen? Geht von ihm eine Gefahr aus?

«Du scheinst diesen Ort hier zu mögen», spricht der Fremde mit leiser Stimme, um die Ruhe nicht zu stören.

«Es ist der einzige Platz, an dem ich zumindest kurz Frieden finde», erwidert sie noch immer mit pochendem Herzen. Dabei wandert ihr Blick über den Störenfried. Sein dunkles Haar scheint in der Nacht noch viel schwärzer, wobei es dank der Locken liebenswert, anstatt bedrohlich wirkt. Ebenso seine Augen, wenn auch bei diesem Licht kaum klarer erkennbar, scheinen von Natur aus dunkel zu sein. Alles an ihm strahlt eine Liebenswürdigkeit aus und so beginnt sich ihr Körper wieder zu entspannen.

«Was raubt dir denn den Frieden, dass du jede Nacht hier hin wanderst?» Sofort wird ihr klar, dass er sie bereits des Öfteren beobachtet haben muss. Unschlüssig, was sie darüber denken soll, antwortet sie dennoch.

«Wenn ich das wüsste, müsste ich nicht jede Nacht herumwandeln.»

«Das ergibt Sinn.»

«Natürlich tut es das.» Ein Lächeln stiehlt sich in sein Gesicht. «Machst du dich lustig über mich?»

«Nicht im geringsten. Ich finde dich faszinierend.» Dankbar um die Dunkelheit fühlt Ishara, wie ihr die Farbe ins Gesicht schiesst.

«Wie kommt es, dass du mich beobachtest? Und was brachte dich dazu, mich genau heute anzusprechen?»

«Auch das kann ich damit beantworten, dass ich fasziniert bin und was die zweite Frage angeht...ich reise Morgen für unbestimmte Zeit ab.» Diese Worte versetzen Ishara einen Stich in den Magen, auch wenn sie sich nicht erklären kann wieso. Irgendetwas an dem Gedanken, dass sie ihn nur diese Nacht treffen kann, gefällt ihr nicht.

«Wohin wird dich deine Reise führen?»

«Richtung Ägypten.»

«Was wirst du dort tun?»

«Ich werde dort ein Studium der Welten bei einem spirituellen Meister beginnen.»

«Wie kommst du dazu?»

«Er hat mich im Traum dazu eingeladen.» Sprachlos beobachtet sie den jungen Mann. Alles an ihm strahlt Ruhe und Klarheit aus. All dies, was ihr gerade zu fehlen scheint.

«Dann wünsche ich dir eine gute Reise.»

«Die werde ich bestimmt haben. Was hast du jetzt vor?»

«Ich weiss nicht, ich kann mich aus diesem Stillstand gerade nicht befreien.»

«Bist du sicher?» Leicht angestachelt und genervt blickt sie ihn, mit ihren intensiven Augen an. Normalerweise erbeben die Menschen darunter, er jedoch scheint unbeeindruckt. Er setzt sich sogar zu ihr auf die Erde.

«Gib mir deine Hände.»

«Wie bitte? Wieso sollte ich?»

«Tu mir einfach den Gefallen.» Seine Stimme ist so sanft und ruhig, dass sie nicht anders kann, als sich seiner Bitte zu fügen. Vorsichtig streckt sie ihm ihre Hände entgegen. Sanft berührt er ihre Handflächen mit den seinen. Sofort beginnen die Flächen zu prickeln und Ishara fühlt die Ruhe, die von ihm zu ihr strömt. Eine tiefe Verbundenheit öffnet sich ihr. Mit einem tiefen Atemzug schliesst sie die Augen.

Der Himmel öffnet seine Weiten vor ihr. Immer tiefer gleitet sie in den engen Kontakt mit diesem eigentlich fremden Menschen. Aus den tiefen des Universum zeigen sich ihr Bilder von Wäldern, so fremdartig und dennoch so heimisch. Am Fuss einer grossen Eiche findet sie zur Ruhe und der junge Mann ist neben ihr.

Als sie die Augen öffnet liegt sie im Gras - allein. Der Tag ist angebrochen und um sie herum erwacht das Leben. Doch von ihm fehlt jede Spur. War er überhaupt da? Habe ich mir das nur eingebildet?

Sofort hört sie innerlich sein Lachen und versteht; Nein, er war da, er ist real.

Durch diese Begegnung wachgerüttelt, fühlt Ishara einen weiteren tiefen Wunsch in sich rufen. Ich möchte nach Hause.

Und so kehrt sie nach langer Reise, wieder zurück in die ihr so vertrauten Gärten, zu dem ihr so vertrauten Tempel. Heim, zu Mahdiya, die gespannt auf sie und ihre Geschichten gewartet hat.

«...ich verstehe nicht, warum ich ihn nur dieses eine Mal sehen durfte. Ich fühle eine so starke Verbindung zu ihm, eine so tiefe Vertrautheit, als würde ich ihn schon ewig kennen.»

«Manchmal tauchen diese Vertrauten kurz in unserem Leben auf, um uns zu helfen, den nächsten Schritt zu erkennen oder einen Prozess zu durchlaufen. Nicht mehr und nicht weniger ist in dem Moment der Sinn dieses Aufeinandertreffens. Auch wenn unser Kopf dies zeitweilen nur schlecht annehmen kann. So ist es dennoch Realität. Sei dankbar für dieses Geschenk, es hat dich zurück auf deinen Weg gebracht.»

Ishara nickt und kann die Worte verstehen, während ihr Verstand das Gesagte tatsächlich nur mit Mühe annehmen kann. Also wandert sie, wie so oft durch die Gärten, bis sie von jemandem freudig von hinten umarmt wird.

Grinsend löst sie sich aus der Umklammerung und schiebt Elif etwas von sich. Es ist ungewohnt, sie allein zu sehen. Dabei entdeckt sie auch gleich, wie sehr die Reise Elif verändert hat.

«Ich muss dir unbedingt von meiner Reise erzählen. Ich war in Ägypten...» Bei diesem Wort horcht Ishara sofort auf und ihre Neugierde ist geweckt.

«Erzähl mir alles.» Gemeinsam setzen sie sich auf eine Bank, umgeben von Rosensträuchern, während Elif zu schildern beginnt.

«Ich habe in Ägypten einen der wahren Meister getroffen. Ishara, du kannst es dir nicht vorstellen, wenn du es nicht erlebt hast. Als ich in seine blauen klaren Augen blickte, hatte ich das Gefühl das gesamte Universum, alle Welten zu sehen. Es war, als würde sich in diesem einen Augenblick die Welt neu organisieren. Alles in mir hat gekribbelt und die Zeit schien für einen Moment stehen zu bleiben.»

Um ihren Worten Raum zum Wirken zu geben, legt sie eine Pause ein und Ishara erkennt, wie Elif den Moment nochmals zu durchleben scheint. Eine Präsenz um sie glüht förmlich und gibt ihr allerdings auch eine Ruhe, die Ishara nur zu gerne selbst hätte. Geduldig wartet sie darauf, dass Elif fortfährt.

«Nach einiger Zeit des Studiums kam er auf mich zu. Er fragte mich, ob ich Einblick in meine Zukunft haben wolle. Es wäre jetzt eine Möglichkeit für mich und ich solle es mir dennoch gut überlegen, denn Wissen bedeute Verantwortung. Ich konnte fühlen, wie wichtig diese Entscheidung war, also nahm ich mir genügend Bedenkzeit.
Am Ende habe ich mich dafür entschieden und Ishara, du glaubst es nicht, ich dachte es ginge um dieses Leben, doch es ging um so viel mehr. Ich darf dir keine Details erzählen, weil es meine Geschichte sein wird. Aber es kommen spannende und sehr intensive Zeiten auf uns zu. Aber Ishara, es wird der Moment kommen und zwar für jeden von uns, wo wir die Früchte unserer vielen Erfahrungen ernten und wir werden sie nicht allein essen, wir werden sie verteilen, wir werden anderen helfen ihren Weg zu finden. Wir werden sie inspirieren und berühren. Dafür wird jeder Abstieg in die Dunkelheit es wert sein, denn wir werden dadurch das Licht erfahren. So werden wir erblühen.»

Die Begeisterung und Hingabe in Elifs Worten, bewegen auch Ishara und sie fühlt die Tränen in ihren Augen. Ohne Worte sieht sie ihre Freundin an, es gibt einfach keine Worte dazu.

«Ich weiss...», flüstert diese nur und nickt sanft mit dem Kopf. Auch ihre Augen sind glasig.

In dieser Nacht träumt Ishara. Sie geht erneut durch die Gärten und wieder geht jemand neben ihr. Als sie diesmal zur Seite blickt, erkennt sie ihn augenblicklich. Es ist dieser Weise, von dem ihr sowohl der junge Mann, als auch Elif erzählt hatten. Sein blondes Haar reicht ihm zu den Schultern und seine blauen Augen lassen einen in die Universen gleiten. Sofort atmet sie aufgeregt auf. Ein Lächeln umspielt seine Lippen.

Ohne Worte gehen sie weiter. Ishara fühlt, dass in der Stille alles gesagt wird. Die Rosen im Garten um sie herum strahlen in einem zarten Rosa und verströmen ihren heiligen lieblichen Duft. Ishara nimmt den Duft in sich auf und als sie den Weisen erneut anblickt, erkennt sie, dass auch er von diesem lieblichen Duft durchdrungen ist. Als würde er ihn selbst verströmen. Abermals bildet sich ein Lächeln in seinem Gesicht.

Mit Tränen in den Augen kehrt Ishara in den Tag zurück und ohne zu zögern beginnt sie mit der Herstellung der Rosenessenz.

«Sie wird alles verbinden, sie ist das Bindeglied, das ausgleichende, ewige Element. Die Reinheit in sich», erzählt sie Ukht Ruhiya Mahdiya, als sie die wertvolle Flüssigkeit vor sich stehen hat.

Ein paar wenige Tropfen fügt sie nun der Mischung zu und erneut riecht sie nach sorgsamem Vermengen daran. Sofort fühlt sie den Raum, der in ihrem Bauch entsteht; die Freiheit vom Druck von aussen; die Kraft aus ihrem Zentrum gehend; die Sonne, die in voller Stärke ihr Licht in den ganzen Körper entsendet.

※※※

«...die Mischung wurde noch viele Jahrhunderte angewandt, bis sie in den dunklen Zeiten, die Elif voraussah vergessen ging.»

«Nichts geht jemals vollends vergessen oder verloren, im Kosmos hat alles seine Zeit und seinen Raum. Irgendwann dringt das Wissen unweigerlich wieder nach oben. Dies ist ein Naturgesetz», dringt eine weise und mir unbekannte Stimme zu mir hindurch. Sofort bilden sich Tränen in meinen Augen, denn ich kann verstehen, was sie mir damit sagen will.

«Wer bist du?», frage ich die Stimme, ohne die Laute auszusprechen.

«Alles kommt zu seiner Zeit.»

Ein wenig aufgewühlt kehre ich aus meinem inneren Austausch zurück und erkenne eine noch unbeantwortete Frage im Raum.

«Ja, Enit und Elif haben sich auch wieder getroffen, sie hatten ein schönes und langes Leben zusammen.» Erleichterung breitet sich in meiner Hütte aus und die Geschichte hinterlässt eine Art goldenen Schimmer und viele Düfte, von denen wir nun träumen können. Genauso wie ein Versprechen. Ein Versprechen, dass irgendwann die Zeit kommen wird, die Früchte unserer Arbeit zu ernten und sie in aller Liebe zu teilen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top