14 - Teil 2 - Schmerz
In der darauffolgenden Nacht ereilen Fea Bilder im Traum. Sie hört viele Stimmen, alle durcheinander, doch sie vermitteln eine Unruhe, die damit auch Besitz von Feas Körper ergreift. Zwischen dieser düsteren Dynamik tauchen Pflanzen auf. Pflanzen, die sie kennt, welche sogar aussergewöhnlich gut gewachsen sind in diesem Jahr. Kerzengerade richtet sie sich aus dem Schlaf erwachend auf. Ihr Blick wandert in der Dunkelheit zu den Kräutern.
Wie im Schlaf wandelnd, aber dennoch wach, murmelt sie Worte vor sich hin, die nicht von ihr zu kommen scheinen.
«Beifuss, er öffnet und macht bereit
Wacholder, er Schütz den gegebenen Raum
Mariengras, einst der holden Göttin geweiht
Es kommen die friedvollen Wesen aus dem Traum
Tannenharz in Innigkeit geheilt...»
Und so wiederholt sie die Worte, immer und immer wieder, bindet dabei kleine Räucherpäckchen. Eins ums andere, stapelt sich vor ihr auf dem Tisch. Als die Dämmerung, den bald erwachsenen Win aus dem Bett ruft, staunt er über den überraschenden Anblick, der sich ihm bietet.
«Mama, du hast ja beinah all deine Kräuter aufgebraucht», stellt er fest und geht auf sie zu. Als sie nicht reagiert, wird er nervös, die leisen gemurmelten Worte aus ihrem Mund, ergeben für ihn wenig Sinn. Vorsichtig berührt er sie an der Schulter.
«Du musst dir unsere Worte merken...», und wieder zitiert sie den Reim. Erst als Win ihr versichert, verstanden zu haben, verschwindet dieser getriebene Ausdruck aus dem Gesicht seiner Mutter. «Win, was ist los, was kuckst du denn so, mein Schatz?»
«Mama, du hast das alles gemacht diese Nacht», erwidert er immer noch irritiert. «Du hast mir vorhin gesagt, dass ich es mir unbedingt merken muss.»
«Was merken?»
«Na, den Reim?»
«Win, ich versteh nicht ganz. Ich hatte geträumt, da habe ich Pflanzen gesehen und dann bin ich aufgewacht. Von da an fehlt mir aber eine konkrete Erinnerung.» Win wiederholt den Reim, welcher er sich Wort für Wort eingeprägt hatte. Eine Gänsehaut erfasst Fea bei diesen Worten und erneut lässt sie ihren Blick über die getane Arbeit schweifen.
«Das sind alles Pakete mit jeder Pflanze drin.» Mit grossen Augen starrt sie erst die an, dann erneut Win, nicht imstande zu erklären, was da geschehen ist.
«Mama, kannst du mir etwas zu Essen machen, ich muss zur Arbeit. Besprechen wir doch alles heute Abend, wenn der Herr hier ist. Er kommt heute doch wieder oder?»
«Natürlich mein Schatz, aber ob er heute kommen kann, das weiss ich nicht. Er hat vielleicht viel zu tun...na du weisst schon...wegen dieser...Krankheit.»
«Wieso sollte er deswegen viel zu tun haben? Er ist gesund und bisher ist sie doch nur in der Stadt aufgetreten.»
«Ja, aber mein Engel, das ist keine Tagesreise von uns entfernt. Wenn vielleicht Verwandte von ihm krank werden, vielleicht muss er dann zu ihnen.»
«Aber er hat uns doch untersagt mit Kranken kontakt zu haben.»
«Ja, das hat er.»
«Wieso sollte er dann zu ihnen gehen?»
«Vielleicht wenn er keine andere Wahl hat? Wir verstehen zu wenig von seiner Welt, Win.»
«In seiner und unserer Welt gibt es vieles, was wir nicht verstehen können, oder?»
«Mir geht es zumindest so.»
«Mir auch und weisst du, Mama, ich will so eine Welt nicht verstehen. Wenn ich mir ansehe, was du machst und wie du aussiehst, wenn du in deinem Garten arbeitest oder Menschen deine Kräuter verkaufst, dann hast du so ein Strahlen. Das was ich bei dir dann fühle, ist das Gleiche, wie wenn ich ein Stück Holz vor mir habe und es mir erzählt, was es werden möchte und meine Hände führt.» Feas Augen beginnen nass zu glitzern, während sie nebenbei mit Eiern und frischen Kräuter, sowie etwas Brot ein Frühstück zaubert.
«Mama, in diesen Momenten existiert keine Zeit, keine Angst, kein Rang, es ist einfach eine Aneinanderreihung von Augenblicken und sie sind gefüllt mit Liebe und Hingabe. Sie sind gelebt. Das ist es, worum es im Leben gehen sollte.»
Eine Weile bringt Fea kein Wort heraus, so sehr bewegen die Worte ihres Sohnes ihr Inneres. Als sie ihm den vollen Teller hinstellt, streicht sie ihm sanft und voller Liebe über den Rücken.
«Mein Engel, in einer solchen Welt würde ich gerne Leben.»
«Das werden wir Mama, ich weiss es.» Dann beginnt er sein Frühstück zu verschlingen.
Der Winter ist hart und kalt. Ewiges Weiss kommt vom Himmel und bedeckt die Welt mit seinem kalten Gewand. Es spricht daher noch mehr für die missliche Lage der Menschen, als immer mehr von ihnen zu Feas Hütte pilgern und die Räuchermedizin holen kommen. Einigen hilft sie, doch andere wiederum kamen zu spät. Immer mehr Leid und Trauer drückt gegen Feas Hütte und auch Win strahlt nicht mehr so freudig.
Die Aufträge für die Schreinerei werden weniger oder zumindest anders gelagert. Immer wieder werden von den Adeligen Särge geordert. Särge für Erwachsene, aber auch für Kinder. Eine Woche lang ist es so schlimm, dass Rauchschwaden in den Himmel empor steigen und damit die Stellen kennzeichnen, wo vor lauter Hilflosigkeit und entgegen jeglichen Glaubens, die Toten verbrannt wurden. Über den dadurch leicht in der Luft schwelenden Geruch, darf Fea nicht nachdenken.
Nachdem der edle Herr schon seit einigen Wochen die beiden nicht mehr besucht hatte, klopft er an diesem Abend an die Tür. Fea öffnet vorsichtig. Zu diesen Tagen kann es auch ein Hilfesuchender sein. Als sie das vertraute Antlitz erblickt, erhellt ein Lächeln ihr Gesicht, nur um Augenblicke später wieder zu erlöschen.
«Mein Herr, was ist denn, ihr seht schrecklich aus. Seid ihr krank?»
«Nein, ich habe extra zwei Wochen gewartet um ganz sicher zu gehen. Ich bin gesund. Darf ich hineinkommen?», fragt er mit flatternder Stimme.
«Natürlich, kommt, wärmt euch am Feuer. Win ist bereits im Bett.» Er nickt und geht an ihr vorbei ins Innere des Hauses. Aus Gewohnheit zieht er seine Stiefel aus und legt seinen Mantel über den Stuhl. Seine Mütze und die Handschuhe folgen gleich darauf. Einen Moment verharrt er mit dem Rücken zu Fea und sie kann sehen, wie seine Schultern sich schwer heben und senken. Einen Stich im Herzen fühlend, geht sie auf ihn zu und legt ihre Arme um ihn.
Zitternd hält er ihre Hand und konzentriert sich auf seinen Atem. Er möchte nicht hier die Fassung verlieren, hat er sich doch all die Wochen beherrscht. Sich stoisch dem Chaos und dem Drama gestellt. Doch nun wo er diese liebevolle Geste empfängt, drängt alles in ihm hoch.
«Erzählt es mir», flüstert sie leise an seinem Rücken.
Vorsichtig schiebt sie ihn zum Sofa, welches auch ihr Bett ist. Dann füllt sie den heissen Tee, welchen sie täglich zubereitet in eine weitere Tasse und bringt sie zu ihm.
«Danke...ich weiss gar nicht wo ich anfangen soll.»
«Dort wo es für euch wichtig ist.»
«Du hast dir bestimmt schon gedacht, dass einiges geschehen sein muss, da ich dich und Win so lange nicht besucht habe.» Sie nickt zustimmend und schiebt die vielen Gedanken schnell beiseite, welche sie die Tage und hin und wieder auch die Nächte nicht in Ruhe liessen.
«Die Pest hat mein Haus erreicht. Eine der Mägde muss sich beim Einkauf angesteckt haben. Beinah die Hälfte meiner Bediensteten sind daraufhin erkrankt, darunter auch die Zofe meiner Frau.» Kurz hält er Inne in seiner Erzählung, um sich ein wenig zu sammeln. «Du weisst ja, meine Frau leidet...ehm...litt schon seit langer Zeit an etwas, was sich nur schwer definieren lässt...liess. Einige Ärzte nannten es Melancholie, ohne je genauer darauf einzugehen. In diesem Sinne dürfte es die wenigsten überraschen, dass auch sie krank wurde. Mich hatte es überrascht.»
«Das tut mir so leid zu hören.», erwidert Fea in seiner Pause, während sie all die gesichtslosen Toten vor Augen sieht. Ein Schauer durchläuft sie.
«Wir standen uns nie sehr nahe und dennoch fühlte es sich bei ihr nochmals anders an. Versteh mich nicht falsch. Jeder meiner Bediensteten, der es nicht überlebte, riss mir ein Loch ins Herz. Doch bei ihr, ich weiss nicht, wie ich es ausdrücken soll. Es traf mich so persönlich, machte mich verwundbar. Ich konnte mit diesen gesellschaftlichen Rangunterschieden nie gross etwas anfangen und dennoch waren sie zeitlebens da und bestimmten alles darin. Doch diese Krankheit, der schwarze Tod, er kennt diese Unterschiede nicht. Entweder interessiert er sich für dich oder eben nicht, deine gesellschaftliche Stellung spielt dabei keine Rolle. Für Amelie war es schwer. Eigentlich dachte ich, die Pest würde sie schnell dahinraffen, doch sie litt, Tage, viele Tage länger als die meisten anderen. Ich kam nicht darum, bei ihr zu weilen und ich habe in meinem Leben noch nichts grauenvolleres Gesehen.»
Sanft streicht Fea ihm seine Haare aus dem Gesicht, während er Löcher in die Luft starrt und das Ganze nochmals vor Augen hat.
«Sie war nie glücklich, Fea, es ist meine Schuld», schluchzt er und sieht sie dabei das erste Mal richtig an, seit er das Haus betreten hat.
«Wenn ich etwas weiss, dann, dass es nicht Eure Schuld war. Ihr habt ihr ein gutes Leben geboten und wenn ich das richtig verstanden habe, habt ihr euch Jahrelang darum bemüht, eine Lösung für ihren Zustand zu finden. Dass die Pest sie nun getroffen hat, ist genauso wenig Euch zuzuschreiben.» Ihre Stimme ist bestimmt und mit Nachdruck, so wie sie mit Dietwin sprach, als er noch kleiner war und dabei war, wirklich gefährliche Dinge zu tun.
Herr von Babenberg fehlen die Worte und auch die Kraft Fea darüber aufzuklären, dass er sich schon immer schuldig fühlte, weil er eben in dieser Welt geboren wurde. Es ihm wegen nichts und wieder nichts möglich war Bedienstete zu haben, in einem luxuriösen Bett zu schlafen und jeden Tag, auch in einer Hungersnot, verhältnismässig fürstlich zu speisen. All dies empfand er als so ungerecht. Seine Grosszügigkeit Fea und Win gegenüber sah er in diesem Sinne auch nur als Tropfen auf den heissen Stein, denn sie gaben ihm so viel, dass es kaum noch als grosszügig gelten konnte.
Von Trauer und Selbstekel überrollt, sinkt er an Feas Brust und lässt all die gehaltenen Dämme brechen. Hier ist er in Sicherheit, hier kann er sich zeigen. Wider jeder Erwartung sich selbst gegenüber.
Der Frühling bricht an und mit dem dahinschmelzen der dicken Schneeschicht, zeigt sich eine vom Elend gezeichnete und stark erschütterte Welt. Win äussert es eines Abends beim Essen so:
«Es gibt nur Überlebende, keine Lebenden.»
Herr von Babenberg stimmt ihm dabei leise nickend zu, gehört er doch selbst zu ihnen. Immer häufiger bleibt er mittlerweile die ganze Nacht bei Fea und findet Trost in ihrer Nähe und Wärme. Fea erblüht hingegen mit dem Frühling zu neuem Leben. Voll Elan widmet sie sich ihren Kräutern und Heilpflanzen. Sie sammelt weiteres Wissen, Wissen, was ihr allenfalls helfen könnte, noch mehr Menschen zu retten. Denn aus ihrer Sicht, ist es dieser Räuchermischung zu verdanken, dass sie, Win, als auch Herrn von Babenberg noch immer unter den Lebenden sind. Gerade der Herr ist ihr stärkster Motivator, hat er doch den langen und engen Kontakt mit seiner Frau überlebt.
So folgen die Monate aufeinander und es ist ruhiger um die Krankheit, wenn auch nie vollkommen still. Hingebungsvoll am Tag bei ihren Pflanzen, hingebungs- und lustvoll Nachts in den intimen Stunden mit dem Herrn.
Win wiederum erlangt beim Schreinermeister immer höheres Ansehen, gelingt es doch immer öfters nur ihm, sperriges Holz zu verwandeln. Ihm Leben einzuhauchen und eine Geschichte. Dies trägt zum Erfolg – trotz des vielen Leids – der Schreinerei bei. Bald kommen die Bestellungen und Aufträge auch von weither.
Gegen Herbst häufen sich die Pestfälle wieder, immer emsiger beginnt Fea ihre Kräuter zu bearbeiten und als der erste Schnee fällt, ist sie bereit. Nach einigen Wochen, gegen Weihnachten zu, überkommt sie der Eindruck, dass es dieses Jahr noch schlimmer ist, als davor. Viele Menschen kommen sterbend zu ihr. Doch die Worte des Herrn nie vergessend, meidet sie direkten Kontakt. Abends räuchert sie das Haus aus und trinkt ihren Tee, welchen sie auch Win und dem Herrn täglich verabreicht.
«Mama, ich habe heute mein Meisterstück heimgebracht. Es ist eine Kommode, sieh sie dir an. Darin kannst du deine Kräuter besser verstauen und die Ablage dient dir bestimmt besser, als der alte Holztisch da, um alles zuzuschneiden. Sie passt perfekt in diese Ecke da.» Seine leuchtenden Augen zeigen seine Freude und Liebe für seine Arbeit und seine Mutter. Als zwei Männer das Prachtstück in die Stube tragen, traut sie ihren Augen kaum.
«Das hast du für mich gemacht?»
«Ja.» Tränen schiessen ihr in die Augen und sie würdigt die Männer keines Blickes mehr, wenn sie doch auch ihre Arbeit beitrugen. Sie schliesst die Arme um Wins Brust und presst ihr Gesicht auf diese. So gross ist er geworden..., geistert es ihr im Kopf herum. Sie fühlt seine kräftigen Arme um sich und geniesst den Augenblick, während die Zeit kurz stehen bleibt. Etwas von dem kindlichen Duft, den sie so an ihm liebt, ist noch immer da, nach all den Jahren. Er katapultiert sie in ihre ersten gemeinsamen Jahre zurück.
Ein Husten lässt sie hochschrecken. Panisch blickt sie an Win vorbei und begutachtet zum ersten Mal richtig, die beiden Gehilfen. Einer der beiden zeigt deutliche Krankheitssymptome. Er ist blass und der Schweiss steht ihm auf der Stirn, wobei es sich nicht um den zu erwartenden Anstrengungsschweiss handelt.
«Seit wann fühlst du dich nicht wohl?», fragt sie ihn spitz.
«Seit einigen Tagen.»
«Ist sonst jemand in deiner Familie krank?»
«Meine Familie ist letztes Jahr an der Pest gestorben.» Einen kurzen Moment überrollt sie eine Welle von Mitgefühl. Dann greift sie zu einem Räucherpaket und drückt es dem Mann in die Hand.
«Die Anleitung steht drin. Geh nach Hause. So darfst du nicht mehr zur Arbeit. So werden nur noch andere krank.»
«Aber...wenn ich nicht arbeite, dann verhungere ich.»
«Darum werden wir uns kümmern. Wo lebst du?»
Als er ihr das Zimmer angibt, in welchem er wohnt, wird ihr ein wenig flau. In dieser Art von Häusern ist es nicht ungewöhnlich, dass auch andere Krankheiten grassieren. Sie wird den Herrn um Hilfe bitten müssen, nimmt sie sich vor.
Als die jungen Männer weg sind, blickt sie streng zu Win.
«Wie lange hattest du mit ihm Kontakt?»
«Nicht sehr lange. Er hat mir nur ein wenig geholfen. Die Kommode ist wirklich schwer, Mama», erwidert er das ganze herunterspielend.
In dieser Nacht bekommt Fea kein Auge zu. Immer wieder treibt es sie hoch und sie betritt Wins Zimmer, lauscht seinen regelmässigen Atemzügen. Vor dem Schlafen hatte sie ihn mit Tee gefüllt bis dieser ihm beinah zu den Ohren rauskam. Auch räucherte sie alles doppelt aus.
Eine leichte Abneigung überkommt sie, wenn sie die Kommode ansieht, wenn sie auch einfach wundervoll ist. Doch sie brachte ihren Sohn in diese Gefahr. Die Gedanken treiben sie um, ohne zu ahnen, dass die Tischlerei bereits von der Krankheit durchzogen war und es keinesfalls an diesem einen Moment hätte liegen können.
Am darauffolgenden Abend treffen ihre schlimmsten Befürchtungen ein. Sie konnte Dietwin morgens nicht davon abhalten, erneut zur Arbeit zu gehen und hätte sich beinahe deswegen mit ihm gestritten. Unruhig verbrachte sie den Tag damit das ganze Haus auf den Kopf zu stellen, zu reinigen, Wins Bett zu machen und Tees vorzubereiten. Händeringend erwartet sie ihren Sohn bereits, als dieser die Tür öffnet. Sofort fällt ihr dessen veränderte Gesichtsfarbe und Blick auf. Wo er normalerweise seit Beginn seiner Ausbildung mit einem leuchtenden Strahlen zur Tür hereinpoltert, wirkt er nun matt und stumpf.
«Mama, ich glaube mir geht es nicht so gut.»
«Ich sehe es, mein Engel. Komm, setz dich, ich habe Brühe und Tee. Du brauchst Energie.»
«Ich fühle mich nicht danach.»
«Du musst, mein Engel, ich weiss, dass du müde bist.» Geschwächt folgt er dennoch der energischen Anweisung seiner Mutter. In ihm breitet sich jedoch trotz aller Zuwendung ein flaues Gefühl aus. Als sie ihn wenig später ins Bett verfrachtet, nachdem sie ihn mit einem Kräutersud und einem Lappen am ganzen Körper abgerieben hat, sieht er sie einen Moment lange an.
«Mama, meinst du Papa wartet auf uns?»
«Mein Schatz, darüber darfst du jetzt nicht nachdenken. Bitte. Denke daran, was du noch alles für wundervolle Kunstwerke schaffen kannst. Wie diese Menschen berühren und bewegen. Konzentriere dich auf das Leben, mein Engel.»
«Ja, Mama», haucht er, bevor ihn ein heftiger Schüttelfrost in einen unangenehmen und unruhigen Schlaf zerrt. Immer wieder tauchen lang vergessen geglaubte Bilder seiner Kindheit in seinen vom Fieber geprägten Träumen auf. Bilder seines Vaters flimmern an ihm vorbei und immer wieder hat er das Gefühl, dass dieser ihm etwas mitteilen will. Doch er kann ihn einfach nicht verstehen.
Als seine Mutter ihn weckt, ist es noch immer Dunkel draussen und er fröstelt stark, während ihm der Schweiss nur so am Körper hinunter läuft. Mit einem Lappen wäscht sie ihn erneut ab und murmelt leise vor sich hin.
«Mama...», versucht er leise zu sagen.
«Ja, mein Engel, ich bin da...hier du musst etwas trinken.» Er fühlt den kühlen Becher an seinen Lippen, während seine Mutter ihn mit ihrem Körper stützt. Nach einem kleinen Schluck der warmen Flüssigkeit kann er allerdings nicht mehr, so sehr strengt es ihn an. «Komm, ich helfe dir, schluck einfach.»
Dunkelheit empfängt ihn erneut und als Fea das Zimmer kurz verlässt, muss sie sich die Tränen wegwischen. In ihr findet ein Kampf statt. Ein Kampf zwischen Verstand und Herz. Nein, er darf nicht sterben, er darf einfach nicht..., kämpft ihr Kopf und dreht weitere Runden durch all das gesammelte Wissen. Währenddessen fliessen ihre Tränen unkontrollierbar über die erhitzten Wangen. Erhitzt von der Anstrengung und der massiven Wärme, die vom dauernd brennenden Feuer ausgeht und ihr kleines Haus in eine Art Schwitzhütte verwandelt. Als es wenig später an der Tür draussen klopft, sind ihre Augen so gerötet und ihre Haare vom vielen Raufen zerzaust.
«Du lieber Herr im Himmel, was ist los Fea, was ist mit dir? Bist du krank?», fragt der augenblicklich von Panik erfasste Herr von Babenberg. Fea fehlt die Kraft, also schüttelt sie den Kopf, während sich ein erneuter Schwall Tränen auf die Reise über ihre Wangen macht.
«Win? Ist es Win?», fragt der beinah paralysierte Mann. Der Schreck in seinen Gliedern macht es ihm unmöglich, sich zu bewegen, alles in ihm schreit danach, davon zu laufen. Sich in die nächste Eisesflut zu stürzen. Ich will nicht in einer Welt leben, in der so wundervolle Menschen einfach aus dem Leben gerissen werden. Oh Gott. Wie kannst du uns das nur antun?, schreit er innerlich und fehlt zeitgleich, er möge Win schützen und ihn heilen.
Als er sich endlich aus seiner Starre befreien kann, tritt er ins innere des Hauses, wo ihm die abnorme Hitze gewaltig entgegenschlägt. Die vielen Kräuterdämpfe wirken beinah etwas benebelnd auf seine Sinne. Sofort legt er seinen Mantel ab. Als er der Temperatur entsprechend entkleidet dasteht, zieht er Fea in seine Arme.
«Meine Liebste, ich bin da und ich bleibe bei dir, bis er gesund ist.»
«Aber...», jammert sie an seine Brust gedrückt. Sorge um ihn gesellt sich zu ihrem elenden Gefühl hinzu.
«Nichts aber. Wenn du und Win nicht mehr seid, was will ich noch hier? Was hat das Leben für einen Sinn?» Aus Ermangelung an Worten, schliesst sie haltsuchend ihre Arme um ihn und findet darin sowas ähnliches wie Trost. Vielleicht könnte sie es als Halt bezeichnen. Ein im geteilten Elend geschmiedeter Halt.
Zwei Tage später, Fea hat kaum das Haus verlassen, während der edle Herr sich darum bemüht, alle erdenklichen Lebensmittel und Kräuter zu beschaffen. Stunde um Stunde harrt Fea an Wins Seite und singt ihm leise alte Lieder vor. Die sanfte rollende Sprache wirkt beruhigend, auch auf den Herrn, obwohl er kein einziges Wort versteht. Es muss sich um eine der weniger kultivierten Sprachen handeln, doch das kümmert ihn gerade sehr wenig.
Am Morgen entdeckte Fea die ersten geschwollenen Knoten in Wins Nacken, als dieser sich zum wiederholten Mal in einen Eimer erbrach. Die Beulen zeigten bereits die so typischen dunklen Charakteristika.
Langsam schwand jeder Funke Hoffnung aus jeder Zelle des edlen Herrns und als er die melancholisch wirkenden Lieder Feas hört, weiss er, dass es auch ihr so geht. Dennoch ist es ihm nicht möglich aufzugeben und so holt er diesmal frische Hühnerbrühe bei seinem neuen Koch. Er möchte nicht, dass Fea nochmals Stunden in dieser winzigen Kochnische zubringen muss.
«Ich möchte, dass du jede Minute bei ihm sein kannst», spricht er gedämpft, als er sich für die kurze Abwesenheit entschuldigt.
«Danke», haucht die sonst so starke Frau, die nun ein Schatten ihrer Selbst ist.
Während sich die Krankheit erbarmungslos immer weiter in den Jungen frisst, murmelt dieser immer mehr vor sich hin. Immer wieder ruft er nach seinem Vater. Das wiederum lässt seine Mutter das Gesicht schmerzhaft verziehen. Die hager werdenden Wangen sind mittlerweile trocken.
«Ich habe einfach keine Tränen mehr, ich weiss nicht mehr, was ich tun soll. So vielen Menschen haben meine Kräuter geholfen, doch meinem Sohn kann ich nur beim Sterben zusehen», heult sie tränenlos am Tisch, als der Herr ihr wenigstens die Suppe versucht zu verabreichen, wenn der Junge sie schon nicht zu sich nehmen kann.
«Sei nicht so streng mit dir. Du kannst nichts dafür. Niemand versteht Gottes Pfade.»
«Gott kann mir gestohlen bleiben mit seinen beschissenen Pfaden. Er soll seine verdammten Finger von meinem Sohn lassen. Er soll sich zum Teufel scheren. Welcher Gott sorgt dafür, dass auf einer Welt so viel Krieg herrscht, dass so viele unsinnige Dinge geschehen? Welcher Gott lässt Menschen in Massen sterben. Macht es ihm Freude? Wenn hier überhaupt jemand am Werk sein sollte, dann ist es der Teufel», bricht es wutentbrannt aus der sonst so sanftmütigen Frau heraus. «Nein...», spricht sie nun mehr zu sich selbst weiter, «nein, wenn hier jemand Schuld ist, dann bin ich es. Ich bin nicht gut genug, ich habe zu wenig gelernt. Zu wenig das alte Wissen studiert. Ich weiss nicht, wie ich meinem grössten Schatz helfen kann. Ich versage und ich hasse mich zutiefst dafür.»
Geknickt schleppt sie ihren Körper zum Zimmer ihres sterbenden Sohnes.
«Soll mich Gott oder der Teufel oder wer auch immer doch gleich mit holen...», ist das letzte, was er versteht.
Die Gnade wurde ihr jedoch nicht gewährt. Nachdem sie ihren Sohn zu Grabe getragen hatte, stehend nur dank dem Halt des Herrn von Babenberg, sollte sie noch einige Jahre erleben. Einige Jahre von Krankheitswellen und Hungersnöten geprägt. Die sonst so liebliche und sanftmütige Frau altert schnell und so tut es der Herr ihr gleich. Verhärmt und bitter verbringen sie ihre Tage gemeinsam. Wissen doch nur sie beide vom Verlust und Leid des jeweils anderen. Die in Liebe gefertigte Kommode steht zeit ihres Lebens unberührt und staubig in der Ecke, sie zerfällt mit dem Haus...
※※※
Erinnere dich...erinnere dich...erinnere dich...
Dröhnend hallt die Stimme in meinem Kopf, der unter diesem Druck zu zerbersten versucht. Doch diesen Gefallen will er mir auch nicht tun. Feas Todeswunsch nachfühlend gebe ich einen stummen Schrei von mir.
Sie hat alles zurückgeholt. Den Schmerz, den Verlust, all das Leid. Ich will das nicht, ich versteh es nicht und ich kämpfe. In mir kämpfe ich und zeitgleich kämpfe ich um ihn. Jie, mein Blick fährt halb blind herum und sucht ihn.
Er liegt noch immer unverändert da. Erinnere dich...
Komplett erschöpft kaure ich mich hin. Mein Atem geht schwer und mit dem Druck meiner Hände versuche ich dem inneren Dröhnen Stand zu halten. Leise murmle ich:
«Woran, woran erinnern. Ich weiss es nicht, was ist es, was sich im Rauch versteckt? Wo ist der Zugang? Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr kämpfen. Ich bin so erschöpft...»
Nach einer Weile fühle ich das starke Kribbeln in meinen Beinen, sie sind eingeschlafen. Mehr aus Gewohnheit, als wegen dem sich aufbauenden Schmerz, entknote ich mich. Was macht etwas Schmerz auf einen Ozean voll Schmerz schon aus?
Ich atme, darauf konzentriere ich mich nun, auf das Heben und Senken meiner Brust. Sowas banal einfaches und dennoch beschäftigt es mich. Hält mich da. Das Kribbeln in meinen Beinen löst sich und mein Körper beginnt langsam weicher zu werden, Spannung zu verlieren.
Dann sehe ich es, ein sanftes goldenes Band es fliesst von mir zu Jie, von meinem Herzen zu seinem. In diesem Augenblick fällt es mir wie Schuppen von den Augen, wieso kann ich auch nicht sagen, geschweige denn, warum ich es so lange nicht gesehen habe.
«Es ist mein Schmerz, es ist meine Krankheit...», rufe ich erschrocken aus und sofort rebelliert mein gesamtes Sein...
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