Buch Onyx: Onira
Naelin
Nach einer Stunde verstaute Naelin die beschriebenen Seiten unter einem Pack aus unbeschriebenen, gräulichen Blättern hinten in der Schublade seines Nachttisches. Die Flecken der Tinte auf seinen Fingern beruhigten seinen Geist. Er hatte erneut ein Stück zurückgewonnen.
Ob ich Onyx danach ein weiteres Mal begegnet bin? ... Aber wenn ... so hätte es Alvar mir mitgeteilt.
Noch wackelig auf den Beinen stand er auf.
Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den nächsten, verwischte dabei die Tintenflecken vor seinem Bett. Mitten am Weg zur Wurzelholzkommode neben seiner Tür, musste er stehen bleiben.
Er rang nach Atem.
Fest krallte er sich in sein Nachtgewand.
Wenn ich nicht immer halb kollabieren würde, wenn ich eine Erinnerung zurückerhalte, wäre mir weit mehr geholfen!
Der zweite Becher Wasser vermochte es, gemeinsam mit der Weidenrinde, die er kaute, den Rest des Schmerzes erträglich zu machen. Gegen den Schwindel hatte er noch kein Mittel gefunden. Er musste die nächsten Minuten damit leben. Aber er wäre nicht Naelin, wenn er sich davon klein halten lassen würde.
Langsam entledigte er sich seines Nachtgewandes und wechselte es gegen seine Taggewandung, die aus einer Hose und einer Robe bestand, die er mit einem grünen Tuch um die Hüfte gürtete. Wirr fielen ihm seine Haare über die Schultern, verdeckten zum Teil seine Sicht. Die Partie der linken Seite flocht er in drei Zöpfen zurück bis in seinen Nacken. Dort band er sie mit dem Rest seiner schwarzen Haare zu einem lockeren Zopf zusammen. Und erst nachdem er sich vergewissert hatte, dass sein Labradoritschmuck an seiner rechten Hand war, verließ er sein Zimmer.
Inzwischen war der Schwindel abgeflaut.
Der Geruch von frischen und getrockneten Kräutern empfing ihn im Hauptraum seines Zuhauses. Eine der Türen, der zwei weiteren Räume der Hütte, war nur angelehnt.
Alvar ist bereits im Dorf unterwegs. Ein Wunder, dass er mich nicht aus dem Bett getreten hat.
Im Kamin, dessen Glut schwach glomm, hing ein kupferner Kessel. Naelin schürte das Feuer, fütterte es mit einem Scheit Zedernholz. Er liebte den Duft dieses Gehölzes, den die Hitze in die gesamte Hütte trug. Im Kessel dampfte gekochtes Getreide, vermengt mit Dörrobst des vergangenen Herbstes. Behutsam nahm er den Kessel vom Haken, stellte ihn auf die Steinplatte rechts neben dem Kamin. Fast fühlte er sich schuldig, nichts davon zu essen. Doch die Angst, den imaginierten Geschmack des Marababrots dadurch zu verlieren, siegte.
Dumpf hörte er die Stimmen aus dem Dorf.
Ich sollte nicht weiter trödeln.
Zur Tür gehend fiel sein Blick auf das Fensterbrett. Niemand lag auf dem Kissen. Auch die Dörrpflaumen auf dem kleinen Teller daneben waren nicht angerührt worden.
Wo treibt sich Nyx wieder herum? Die Pflaumen zu verschmähen sieht ihm nicht ähnlich.
Wieder drangen dumpfe Stimmen aus dem Dorf an seine Ohren.
Seine Augen abschirmend trat er aus der Hütte. Vor ihm offenbarte sich Onira in strahlendem Sonnenschein. Vor Jahren waren sie hier her geflüchtet, als das Dorf nur aus dem Brunnen im Talgrund und drei kleineren, verlassenen Hütten bestanden hatte. Niemand hatte Hinweise gefunden, wer hier gelebt hatte. Oder warum der Ort verlassen da lag. Ihre Truppe hatte es als Geschenk der schwachen Götter einfach hingenommen. Und so erzählten die Alten es den hier Geborenen noch immer.
In den letzten Jahren hatten sie das wilde Land urbar gemacht und sich inmitten der höchsten Berge eine neue Heimat geschaffen.
Naelin lächelte.
Onira zog sich, eingebettet in die Natur, über mehrere Terrassen die Berge empor. Zwischen den Etagen dieser führten Wege, die nachts mithilfe von Harzkerzen erleuchtet wurden. Neben den Wegen blühten die unterschiedlichsten Pflanzen, die Naelin zum Teil selbst gesetzt hatte.
Die obersten Reihen der Wälder schirmten Onira, gemeinsam mit den Bergen, vor der Außenwelt ab und verhinderten den Abgang von Muren. Die letzten Unwetter allerdings zeigten, dass sie am Kamm des weißen Dornes zu hoch gerodet hatten. Wegen der Regenfälle war eines der Felder als Mure auf den Dorfplatz gespült worden. Von weitem sah er die Bewohner die Erde auf Karren laden, um sie zurück auf den Berg zu schieben. Dazwischen wuselten Elfen mit Körben umher, mal grabend, mal hockend.
Sie versuchen, die Setzlinge zu retten.
Obgleich Naelin sich all seiner Pflichten bewusst war, trieben ihn seine Beine weg vom Dorfplatz. Er umrundete seine Hütte, bestieg den schmalen Trampelpfad, der die schnellste Verbindung zwischen seiner und Shiska's Hütte war.
Es grenzt an ein Wunder, dass der Beschwörer uns hier gefunden hat. Und dann auch noch das Glück hatte, gleich an die Hütte unseres Medizinkundigen zu klopfen.
»Wo willst du hin?« Naelin zuckte bei der mahnenden Stimme zusammen. Langsam wandte er sich um, blickte in das Antlitz eines drahtigen, hellhäutigen Elfen. Dessen lange Haare rahmten ein schmales Gesicht ein. Bunte Gewänder verhüllten seinen sehnigen Körper. Die Farben und der Schmuck des Elfen ließen ihn an die Geschichte des Gottes der Freude denken. Doch sein strenger Gesichtsausdruck glich dem eines strafenden Lehrmeisters, und nicht dem des Gottes der Späße.
»Ich wollte nach unserem Gast sehen, werter Bruder«, sprach Naelin lächelnd. »Schließlich bin ich das Oberhaupt unseres bescheidenen Dorfes, und als Oberhaupt ist es meine Pflicht, mich zu vergewissern, dass es gut um das Wohlergehen unserer Gäste steht.«
Alvar verschränkte die Arme. Sein Blick wurde tadelnder, kühler. »Deine Pflicht gilt dem Dorf. Der Beschwörer kann warten. Elaile und die anderen arbeiten daran, den Dorfplatz von der Mure zu befreien.«
»Ich sah es bereits.«
Alvar starrte ihn weiterhin streng an. »Dann verstehe ich nicht, warum du nicht dort bist.«
»Kam jemand zu Schaden?«, erkundigte sich Naelin.
»Nein, auch Hütten wurden keine beschädigt.«
»Ein Glück. Gut, ich werde-«
»Nichts wirst du.«
Naelin seufze. »Nur einen Augenblick-«
»Nein. Elaile verlangt nach dir. Sie will deinen Segen für das Aquädukt, das sie plant. Lass sie bloß nicht warten, sie ist schon sehr wütend.« Alvar bedeutete mit einer Handbewegung, dass Naelin sich schleunigst bewegen sollte.
»So, dann ist sie bei der Arbeit mit dem Spaten gut aufgehoben.« Naelin wandte sich ab, wedelte mit der linken Hand zum Abschied. »Wenn du mich entschuldigst.«
Eine Hand umfasste seinen Oberarm. »Nichts da. Du kommst mit!«
»Du elender Spaßverderber«, murrte Naelin. Sehnsüchtigst blickte er in Richtung Shiskas Hütte. Seine Neugier musste er hinten anstellen. Erneut.
Er seufzte. »Also dann.« Er wirbelte herum, folgte unter dem strengen Blick Alvars dem Pfad zurück zu seiner Hütte und an ihr vorbei in Richtung Dorfmitte. Der Weg wurde breiter, führte in einem Halbrund in die Mitte im Talgrund. Mit einem Lächeln betrachtete Naelin die blühenden Ravesblätter. Ihre pechschwarzen Blüten als auch die dunkelroten Blätter waren wunderschön, aber hochgradig giftig.
»Ich werde veranlassen, dass sie diesen Herbst ausgerissen werden. Die gewonnenen Plätze eignen sich besser für Rettich oder Rüben«, sprach Alvar abfällig.
»Nichts davon wirst du tun.« Naelin zog seinen Bruder den Berg hinab, fort von den schmalen Beeten der Ravesblätter. »Solange ich nicht weiß, welche Pflanzen unseren Honig derart einzigartig machen, wirst du nichts davon anrühren!«
»Honig ist nicht die Welt, Bruder.«, Alvar rollte mit den Augen, »Außerdem weiß ich, dass du versuchst, aus ihnen etwas Nützliches zu extrahieren.« Sein buntes Gewand wurde von einer Brise erfasst, wallte auf. »Aber diese Pflanzen sind nutzlos.«
»Nur weil ich ihre Wirkung noch nicht verstanden habe, sind sie nicht nutzlos!«, protestiert Naelin weiter.
»Dann beeile dich, bevor jemand auf die Idee kommt, aus ihnen Schnaps brennen zu wollen«, murrte Alvar. Er strich seine Haare zurecht, die der Wind zerzaust hatte.
»Dampfdestillation«, murmelte Naelin, und hielt inne, den Blick auf ein weiteres Exemplar der Ravesblätter gerichtet, »das sollte ich als Nächstes versuchen.«
Sein Bruder ließ ein genervtes Seufzen erklingen. »Später.« Alvar umfasste erneut Naelins Unterarm. Jetzt war er es, der ihn voran zog.
»Herr Naelin, Herr Alvar, guten Morgen.« Kukune, einer der wenigen Schwarzalben in Onira trat beiseite, als sie sich ihm näherten. Seit etwa drei Jahren war ein Spähtrupp des Dorfes mit ihm zurückgekehrt. Seither wollte ihn niemand mehr missen, so war er doch einer der besten Köche des Dorfes.
»Dir auch einen guten Morgen, Kukune«, lächelte Naelin, während Alvar dem Schwarzalben nur zunickte und Naelin weiter voran zog.
»Ach Herr«, setzte Kukune an, kaum dass sie ihn passiert hatten, »stimmt es, dass der werte Herr Beschwörer im Dorf ist?«
Naelin entzog Alvar seinen Arm, um sich dem Schwarzalben zuwenden zu können. »So ist es. Er regeneriert sich in einem von Shiskas Heilräumen-«
»Er kämpft mit Fieber. Es ist angebracht, ihn nicht zu belästigen. Selbst eine Legende braucht ihre Ruhe«, fiel Alvar ihm ins Wort. »Und nun entschuldige uns, das Oberhaupt wird am Dorfplatz gebraucht.«
Kukune nickte. Seine Lippen öffneten sich, aber wortlos schloss er sie wieder.
»Komm jetzt«, drängte Alvar.
»Hab einen schönen Tag«, richtete Naelin das Wort an Kukune.
Zu gern hätte er nachgebohrt, was dem Schwarzalb auf der Zunge lag. Doch schon zog ihn Alvar weiter. Vorbei an spielenden Kindern, Elfen verschiedenster Rassen, die gemeinsam die Gemüsebeete pflegten, oder mit Spaten in den Händen ebenfalls zur Dorfmitte unterwegs waren.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top