Buch Onyx: Obelisken

Onyx

Die Träume aus der Zeit, wo Naelin seine Erinnerungen noch besessen hatte, hatten nie wirklich aufgehört. Sie waren Onyx Zufluchtsort vor der brutalen Gegenwart gewesen. Und jedes Mal, wenn er aus ihnen erwacht war, hatte er sich verzweifelt in die Vergangenheit zurückgesehnt.
Jetzt war es anders.
Seit er in dieses abgeschiedene Bergdorf gekommen war, wollte er nicht mehr schlafen. Er wollte gesund werden und wach bleiben, um Zeit mit Naelin zu verbringen. Dem Naelin aus der Gegenwart. Trotz seiner verlorenen Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit, wollte er in seiner Nähe sein.

Wenn ich dich nur wenigstens beobachten hätte können. Naelin. Aber selbst das war mir verwehrt. Sieben Jahre ist es her, seit wir uns das letzte Mal sahen.

Onyx schleppte sich vom Weidenplateau zurück zur Hütte des Heilers, die gar nicht so klein war, wie er anfangs gedacht hatte. Sie sah vom Hauptweg aus, wie jede andere der umstehenden Häuschen, zog sich nach hinten jedoch viel länger. Es gab zwei Eingänge, den Haupteingang, der in den kleinen Gastraum führte, in den er gebeten worden war, als er vor Tagen hier aufgetaucht war und es gab den schmalen Nebeneingang, dessen Tür elegant beschnitzt war. Das war der Heilbereich. Und zu dem wollte er jetzt.

Naelin hat recht, die Sonne tut mir nicht gut.

Mit verschwommener Sicht wankte er zur Tür und durch den Hauptraum. Auch in diesem Teil gab es einen Holztisch mit zwei Holzbänken und einen Kamin. Aber es wirkte weniger wie eine winzige Gaststube, sondern eher wie ein normales Wohnhäuschen, dessen Besitzer einen besonderen Faible für Kräuter und Tinkturen zu haben schien. An den Wänden ragten hohe Regale aus hellem Holz zur Decke hoch. Auf ihnen standen Tütchen und Säckchen und Gläser mit duftenden Mixturen und Kräutern.
Als er zur Tür neben der Feuerstelle trat, kam er zu einem schmalen, dunklen Flur. Danach wandte er sich nach links und fand sich in seinem Zimmer wieder. Es besaß ein Fenster, ein Bett und einen breiten Kasten.
Inzwischen fühlte sich Onyx, als würde jemand von innen gegen seine Schädeldecke hämmern. Stumm vor sich hinleidend, ging er noch einmal zum Fenster, um hinauszusehen. Am Vormittag hatte er Naelin von hier aus beobachtet, wie er draußen umhergehuscht war. Wie er mit seinem Bruder, Alvar, gestritten hatte. Beim Gedanken an Alvar zog sich Onyx Magen zusammen. Echte Mordlust kochte in ihm hoch und ließ ihn die Fäuste ballen. Bevor die Emotion ihn völlig einnehmen konnte, schleppte er sich zum Bett. Seine Beine waren so schwach, dass sie ihn kaum mehr tragen konnten. In einer Bewegung streifte er seine Tunika ab und legte sich auf die nach Zedern duftende Matratze.

Zedern. Diesen Geruch hat er geprägt.

Die Szene von vorhin am Plateau blitzte vor seinem inneren Auge auf. Er spürte Naelins Wange an seinen Fingerspitzen.

Naelin. So nah.

Mit brennendem Herz rollte er sich auf die Seite und schlief sofort ein. In seinen Träumen kehrte er in die Vergangenheit zurück:

»Das ist der Obelisk, der hier in Onyx die Magiezirkulation zwischen Himmel und Erde reguliert«, erklärte Onyx mit hörbarer Kälte in der Stimme dem staunenden Labradoritelfen Naelin. »Und eigentlich dürfen wir hier nicht rein.«

Aber das ist jetzt egal, hätte ich ihn nicht hierher gezerrt, hätten uns die Wachen erwischt. Außerdem wird es niemand merken.

Dabei warf er einen verächtlichen Blick in Richtung des muskulösen Schwarzalben, der neben der mit Runen verzierten Tür selig zwischen zwei Flaschen Sprudelwein lag.

Weil Parwa stockbesoffen in der Ecke liegt und um sein Leben schnarcht.

»Ich habe mir die Obelisken immer gigantisch vorgestellt«, sagte Naelin und umrundet den schwarzen, zehn Meter in die Höhe ragenden Stein.

»Ist er dir nicht groß genug?«, fragte Onyx trocken.

»In meiner Vorstellung reichte er bis in den Himmel, sodass die Spitze mit dem Firmament verschmolz.«

»Gut, dagegen ist er wirklich klein«, meinte Onyx und sah sich selbst im Raum um. Die Runen an den schwarzen Steinwänden dienten zur Aufrechterhaltung der heiligen Energie und ließen den Ort geheimnisvoll und wichtig wirken. Der Sockel, der sich um den heiligen Obelisken wand, bestand aus purem Gold und war eines der wertvollsten Dinge, die der Schwarzalbenstamm besaß.

Naelin umrundete den Obelisken zum zweiten Mal.

»Nicht auszudenken, was geschieht, wenn die Menschen es tatsächlich schaffen, alle Obelisken zu zerstören«, überlegte Naelin laut, mit Blick auf die Spitze des heiligen Steins gerichtet.

Onyx' Gesichtsausdruck verhärtete sich. »Es gibt nur mehr vier von sieben.« Verachtend fügte er hinzu: »Die anderen sagen, dass es eine Frage der Zeit ist, bis die Menschen die Obelisken komplett vernichten und die Nebel zur Gänze über diese Welt hereinfallen.«

»Das ist blödsinnig. Die Erwachsenen haben den Kampf noch nicht einmal begonnen und sehen sich schon geschlagen? Ich weigere mich, an deren Ängste zu glauben.« Naelins Miene war ernst, als er Onyx' Blick suchte.

Nachdenklich sah Onyx ihn an.

»Sie haben sich bezüglich der zwei Menschenkönigreiche beraten, die die Sumpfelfen bedrohen. Ich war gestern dabei, als Mahwa den Silberelfenkönig um Beistand bat und er mit gerümpfter Nase ablehnte. Die Elfen werden nicht wegen der Menschen untergehen, sondern weil sie sich nicht helfen.« Seine eben ausgesprochenen Worte waren eine Mischung aus seinen eigenen Gedanken und den Worten, die Tarak einmal zu ihm gesagt hatte.

»Warum muss immer jeder so stur sein, oder in irgendwelchen dummen Mustern verfangen? Selbst ich versteh, dass Aberglaube Irrsinn ist«, beschwerte sich Naelin und ließ sich auf dem Goldsockel nieder. Müde vom ewigen Herumstehen, tat Onyx es ihm gleich und setzte sich in einigem Abstand neben ihn.

»Das hat nichts mit Aberglaube zu tun, sondern mit Stolz.« Während Onyx das sagte, musterte er Naelin von der Seite. Der aufgeweckte Labradoritelf wippte mit seinen Beinen, hatte die Augenbrauen nachdenklich zusammengezogen. Die Gesellschaft des Jungen löste etwas in Onyx aus. Sie brachte Wärme in sein einsames Herz.

Plötzlich riss Naelin die Augen auf, wandte sich zum Obelisk.

»Natürlich«, ein freudiger Ausdruck hielt auf Naelins Gesicht Einzug, »es war eine Anomalie.«

»Eine Anomalie?«

»Der Grund, warum du vor drei Tagen in meiner Kammer standest«, erklärte Naelin und sah Onyx tief in die Augen, »die Magie um Obeliske ist dichter. Das bedeutet aber gleichzeitig, dass sich magisches Ungleichgewicht an solch einem Ort stärker als Anomalie verdichtet.«

»Das heißt, etwas stimmt mit den Obelisken nicht?«, stieß Onyx aus.

»So in etwa.« Naelin nickte. »Wenn die Menschen einen einzigen weiteren Obelisk zerstören, zerbricht das Gleichgewicht zwischen himmlischer und irdischer Magie.« Bei seiner Erklärung hielt er seine Hände wie zwei Waagschalen. »Die letzten drei könnten das Gewicht nicht mehr halten«, er versetzte seine Hände ins Ungleichgewicht, »und dann Zawusch!« Energisch klatschte er seine Handflächen zusammen.

»Schwachsinn«, murmelte Onyx. »Aber ich sollte Tarak d'Onyx Bescheid geben.« Mit diesen Worten erhob er sich und bedeutete Naelin, ihm zu folgen. Sie waren bereits zu lange hier. Möglicherweise suchte jemand nach ihm oder dem verschollenen, dämonischen mittleren Drilling.

Als sie aus dem heiligen Ort schlichen, packte Naelin Onyx am Handgelenk.

Überrascht sah Onyx Naelin an.

»Bitte besprecht diese Überlegung mit Eurem Ziehvater. Niemand in meinem Stamm wird mir diesbezüglich Glauben schenken.« Naelins Blick war durchdringend, bestimmt.

»Ich hoffe selbst, dass ich mich irre. ... Aber wir dürfen diese Anomalie nicht ignorieren.«

»Was soll die höfliche Anrede plötzlich«, sprach Onyx und riss sich los. »Ich tue, was ich kann.«

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