Buch Onyx: Atme
Naelin
Der Geschmack des Brotes lag Naelin noch auf der Zunge, als er die Augen aufschlug. Noch war der Schein der Morgensonne nicht durch das Fenster in sein Zimmer gefallen. Viel mehr lag eine Ahnung des anbrechenden Tages in der Luft, die sich im Gesang der Vögel äußerte und dem immer blasser werdenden Dunkel um ihn herum.
Langsam setzte er sich in seinem Bett auf.
Augenblicklich hämmerte ihm das Herz gegen die Brust, als schnürten ihm die Rippen jeglichen Freiraum ab. Er fasste sich an die Schläfe, atmete tief durch. Gerade noch war er überrascht über die Tränen auf seinen Wangen, schon brach der Schmerz über ihn herein. Von Pein gebeutelt presste er die Hände an seine Schläfen, verzog das Gesicht.
Atme.
Die Luft, die durch seine Lungen strömte, bestand aus Eiskristallen, die das feine Gewebe seiner Lungen zerfetzten.
Atme.
Ihm wurde schwindelig.
Wo ist oben? Wo unten? Bin ich noch auf dem Bett? Liege ich bereits am Boden? Wo bin ich überhaupt?
Er schloss die Augen, um die sich drehende Welt auszublenden.
Atme.
Klirrendes Surren, tausend splitternde Gläser vermengt mit dunklen und schrillen Glocken brachen über ihn herein. Tosend, brüllend fluteten die Töne seine Ohren. Energisch zogen die Klänge sich in den Bereich seines dritten Auges, wo das Pochen und Hämmern der wirren Melodie mit dem Kopfschmerz zu einer Masse aus Qualen verschmolz. Gleichzeitig durchbrach das Eis seine Luge, zerriss seine Organe und schwappte in sein Herz.
Atme.
Trotz der wachsenden Eiskristalle zwang er sich, tief durch die Nase einzuatmen. Als er den Atem aus seiner Lunge presste, ließ er die Luft durch den Mund entweichen. Jedes Mal stellte er sich vor, wie das Eis schmolz, und kühles Wasser die Pein aus seinem Organismus spülte. Jedes Mal war es schwerer als beim Atemzug davor.
Es war kein Traum. Nichts davon. Dies ist eine meiner Erinnerungen.
Erneuter Schmerz durchzuckte seine Schläfen.
Naelin stöhnte auf, presste die Hände stärker gegen seinen Kopf. Weiterhin atmete er, um das Eis in sich zu schmelzen. Aber es war träge, so träge, dass ihm erneut schwindelig wurde.
Ich darf nicht aufhören.
Seine Lunge existierte nicht mehr.
Naelin aber atmete, um weiter gegen das Eis anzukämpfen. Dann atmete er, um das Wasser aus sich zu leiten. Langsam klärte sich der Nebel aus Pein, der ihm die Sicht raubte.
Erinnere dich an Details. Warum warst du in Onyx?
Das Ziehen in seinen Schläfen schwoll erneut an, brüllte wie ein rasendes Tier. Die Ränder seines Sichtfeldes färbten sich gräulich und verschwammen.
Erinnere dich.
Klirrend schmolz das Eis weiter.
Atme.
Wasser floss aus seinem Inneren, trieb die Pein mit der Flut hinweg.
Erinnere dich.
Zäh prasselten weitere Fetzen der Vergangenheit auf ihn ein, dann immer schneller werdend, dass er nur einen Bruchteil erfassen konnte.
Dieses Bankett hatte statt gefunden, noch bevor der Krieg über die Lande gekommen, und die Elfen in ihren Ruin getrieben hatte. Noch bevor die Welt kollabiert und die Magie aus ihr verschwunden war. Es lag so weit zurück, dass er selbst glaubte, es in einem anderen Leben gesehen zu haben. Aber dies dachte Naelin stetig von den Fetzen und Fragmenten seines zerrütteten Geistes, die spärlich, wie herabfallende Blüten des hundertjährigen Baumes, zu ihm zurückkehrten.
Die Anwesenheit des Beschwörers muss die Erinnerung provoziert haben.
Naelin tastete erschöpft und zitternd nach dem Becher Wasser. Zweimal musste er ansetzen, ehe er ihn von seinem Nachttisch heben konnte. Mit fahriger Bewegung, einen Teil des Wassers verschüttend führte er den Becher an seinen Mund. Sofort, als die kühle Flüssigkeit seinen Hals hinunterfloss, entspannte er sich. Nach und nach ließ das Zittern seiner Hände nach.
Die verschwommene Sicht blieb.
Behalte es in Erinnerung. Du darfst es nicht vergessen.
Stück für Stück leerte er den Becher. Nach jedem Schluck rief er Details der Erinnerung ab. Beim dritten Zug hatte sich der Kopfschmerz so weit gelegt, dass er fähig war, zu sehen. Unruhig stellte er den Becher beiseite. Er führte die Beine aus dem Bett, kramte in der Lade seines aus hellem Wurzelholz gefertigten Nachttisches. Das Papier als auch die Feder legte er mechanisch auf die Tischplatte. Als er versuchte, das verkorkte Tintenfass zu öffnen, entglitt es ihm beinahe. Er verschüttete einen kleinen Teil auf dem Holzboden, wo es sich mit anderen, älteren Tintenflecken vermischte. Erst zitternd, dann hastig, kratzte die Spitze der Feder über die gräulichen Blätter aus Baumfasern. Aber ein Teil seiner Erinnerungen war im Sumpf der abflauenden Pein versunken.
Ich darf es nicht vergessen. Nicht alles.
Aber so war es immer, wenn die Bilder vergangener Tage sich ihm offenbarten.
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