Glücksspiel unterm Mistelzweig

Nach dem Essen holen wir uns alle nochmal neue Drinks an der Bar und machen uns dann auf den Weg zu dem Glücksspiel, welches ich vorhin entdeckt habe. Der Raum ist voll und ein lautes Stimmengewirr schlägt uns entgegen. Offensichtlich haben alle Gäste beschlossen jetzt hier her zu kommen. Dicht aneinander gequetscht drängen wir uns trotzdem in den Raum und versuchen eine freie Stelle zu finden.

Ich werde von der Seite angestoßen und drehe mich verwirrt um. Vor mir steht Rezo. Der Rezo. „Hey, ich wollte bloß kurz Hallo sagen. Ich bin Rezo und du bist doch der Neue hier. Jan, oder?", spricht er mich locker an. Überfordert, dass ausgerechnet ER mich anspricht, antworte ich: „Ähm ja... schön dich kennenzulernen! Schlumpf!" Er lacht nur über den Spitznamen, den Gisela ihm wegen seiner blauen Haare sofort gibt.

Die meisten Influencer hier kenne ich nicht, aber Rezo hatte ich damals schon auf der Website des Managements entdeckt. In meinen Augen ist er ein deutscher Promi. Und dann spricht er mich einfach an und weiß schon wer ich bin. „Du hast Tourette, habe ich das richtig verstanden?", reißt er mich aus meinem Gedanken. „Das stimmt. Wenigstens einer, der nicht so blöd ist wie Tim!" „Was ist mit mir?", fragt Tim, der sich in diesem Moment ebenfalls umdreht, da er wohl seinen Namen gehört hat. „Ach hey Tim!", begrüßt Rezo nun auch ihn. Interessant, dass sie sich anscheinend schon kennen, da muss ich Tim später mal fragen woher. „Hey Rezo, wie geht's?"

Nach einem kurzen Gespräch, in dem ich Rezo auch eine Kurzerklärung zu meinem Tourette gegeben habe, verabschiedet er sich wieder und wir wenden uns wieder zu unserer Gruppe. Rezo ist wirklich sehr sympathisch, genau so, wie ich ihn aus den Medien kenne und konnte auch direkt super mit Gisela umgehen, was mich gleich etwas entspannter werden lies. „Kommt ihr mit beim Glücksspiel mitmachen?", fragt jemand aus der Gruppe und wir schleusen uns durch die Menschen auf die andere Seite, wo die Tische aufgestellt sind.

Die betreuende Mitarbeiterin erklärt uns, dass jeder Gast einmal an diesem Glücksrad drehen darf und dann der Anzahl entsprechend viele Lose aus dem Topf ziehen kann. Auf einem Tisch weiter hinten sind einige Preise drapiert, darunter Gutscheine für etwas, was ich aus der Entfernung nicht mehr lesen kann, Taschen und übliche Werbegegenstände, die eigentlich keiner braucht. Der Hauptgewinn scheint dann aber doch ein etwas wertvollerer Gegenstand zu sein und zwar eine kleine Kamera, die sich anscheinend zum „vloggen" eignet, aber ich kann das nicht so wirklich beurteilen. Für Influncer scheint es jedoch ein durchaus attraktiver Gewinn zu sein, weshalb sich vor dem Glücksrad bereits eine Art Schlange gebildet hat. Wir stellen und einfach an.

Nur langsam geht es voran, da jeder seinen Gewinn immer erst großzügig feiert, bevor der nächste weiter macht. Aber es stört niemanden, da wir uns nebenher weiter unterhalten. Die Influencer in der Gruppe berichten über ihre coolen Kooperationen, die sie bereits hatten und was sie schon alles durch ihren Job erleben können und meine ehemalige Skepsis gegenüber diesem Beruf schwindet weiter.

„KÜSSEN!", brüllt plötzlich ein Typ durch den Raum in unsere Richtung. Erschrocken drehen sich alle zu ihm um. „Ihr müsst euch küssen!", wiederholt er sich und deutet dabei auf Tim und mich, jedenfalls vermute ich das. Jetzt schauen die Menschen alle in unsere Richtung. Verwirrt schaue ich Tim an, der genauso planlos scheint. Mein Blick wandert zu Sina, welche plötzlich anfängt zu grinsen. „Was?", frage ich sie. „Ihr steht unter einem Mistelzweig", erklärt sie und deutet dabei Richtung Decke. Tatsächlich, da hängt ein Mistelzweig. „Ja!! Wir machen jetzt vor allen rum!", freut sich Gisela und lässt mich kurz Tims Ohr abschlabbern, bevor er mich angewidert wegdrückt. Die Menschen um uns herum müssen alle lachen, aber nach und nach fordern sie uns wieder auf uns zu küssen. „Küssen! Küssen! Küssen!", erklingt immer wieder im Einklang durch den Raum und ich wende mich wieder Tim zu.

Erst jetzt wird mir wirklich bewusst, dass ich Tim küssen sollen. Die Person, bei der ich sowas am ehesten vermeiden sollte, weil es nur eskaliert. Und dann noch hier vor lauter Menschen, die ich kaum kenne. Andererseits ist klar, dass wir keine Ruhe bekomme, bevor ich ihm nicht wenigstens einen kleinen Schmatzer verpasst habe. Tim schaut ebenfalls nicht erfreut über die Situation drein und lässt nervös seinen Blick durch die abwartende Menge gleiten. Dann meint er leise: „Uns bleibt wohl nichts anderes übrig." Ob er es wirklich zu mir gesagt, oder mehr zu sich selbst, weiß ich nicht, denn ohne mich nochmal richtig anzuschauen, zieht er mich zu sich und drückt seine Lippen auf meine. Überrascht kralle ich mich an seinem Oberteil fest, da ich sonst mein Gleichgewicht verloren hätte. Noch bevor ich diesen Kuss erwidern kann, löst sich Tim von mir.

Die Reaktionen um uns herum bekomme ich nur am Rande mit, während ich wieder auf Sicherheitsabstand mit Tim gehe. Das war wirklich mit Abstand die unangenehmste Kuss-Erfahrung, die ich gemacht habe. Wenn sie den Namen „Kuss" überhaupt verdient. Es war ja mehr ein „Tim drückt mir seine Lippen ins Gesicht". Ich hab mir ja schon einige Male vorgestellt, wie es wäre Tim zu küssen, aber das war eindeutig nicht dabei.

Mit einem großen Schluck Alkohol spüle ich die Erfahrung runter und klinke mich wieder in das entstandene Gespräch ein.


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Ich wollte wirklich einen romantischen Kuss schreiben damit wir hier mal voran kommen, aber das wäre einfach zu vorhersehbar gewesen 😂

Schönen Freitag euch und sorry, dass gerade so unregelmäßige Updates kommen, meine Zeit und meine Motivation sind aktuell nicht die besten Freunde und lassen sich nur selten gemeinsam blicken.  

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