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Der Himmel ist wolkenlos.
Durch mein geöffnetes Fenster kann ich leises Vogelgezwitscher vernehmen. Ich schließe die Augen und genieße den Gesang. Es ist wie ein Guten-Morgen-Lied, das mich sanft wach werden lässt und mir ein Lächeln ins Gesicht zaubert.
Ein Windhauch bläst die Gardine ein wenig zu Seite. Sonnenstrahlen dringen nun ungehindert in mein Schlafzimmer und ich ziehe mir die Bettdecke übers Gesicht.
Schließlich wird es mir doch zu warm, sodass ich noch etwas verschlafen aus meinem Bett krieche. Ich tapse in die Küche und gönne mir erstmal eine Tasse Kaffee. Danach bereite ich mein Frühstück zu, stelle alles auf ein Tablett und gehe damit zurück in mein Schlafzimmer. Wieder gemütlich im Bett sitzend, beiße ich genüsslich in meine Semmel und lecke mir dann über den Mundwinkel, an dem sich noch ein bisschen Marmelade befand. Im Fernseher an der gegenüberliegenden Wand läuft irgendeine Tiersendung, die ich nicht sonderlich aufmerksam verfolge. Vielmehr starre ich aus dem Fenster. Das wunderschöne Wetter ist wohl das beste Geschenk an meinem Geburtstag. Die Vögel singen, die Sonne lacht und alle Telefone sind auf stumm gestellt. Mich kann heute niemand erreichen und somit auch niemand stören. Seit einigen Jahren pflege ich an meinem Geburtstag eine gewisse Tradition. Ich lasse es mir gut gehen, genieße die Ruhe, erfreue mich an Kleinigkeiten und blättere später in einem alten Fotoalbum. Jedes Jahr das Gleiche. Und immer wieder ist es ein wirklich toller Tag, auch wenn die Traurigkeit nahezu greifbar wird, wenn ich Bilder aus meiner Kindheit anschaue. Bilder mit meinem Bruder, meinem Kumpel, meinen Eltern, meiner ersten Freundin oder dem vermeintlichen Weihnachtsmann.

Ich lasse meinen mittlerweile kalten Kaffee stehen und schäle mich ein weiteres Mal mühsam aus der Bettdecke. Anschließend ziehe ich eine dunkelblaue Kiste unter dem Bett hervor. Ich streiche einmal darüber, um sie ein wenig abzustauben. Vorsichtig hole ich das Fotoalbum heraus und schließe die Kiste wieder. Dann setze ich mich an die Bettkante, das Buch auf meinem Schoß, und blättere die erste Seite auf. Sofort strahlen mich zwei Kinder an. Der Rechte ist ein blonder Lockenkopf mit Zahnlücke, während der Linke braune Haare hat und schon eine Zahnspange trägt. Beide Jungen grinsen breit in die Kamera. Sie haben die Arme umeinander geschlungen und tragen das selbe weiße T-Shirt, das an einigen Stellen schon Grasflecken aufweist. Am unteren Bildrand erkennt man das Logo eines Fußballvereins. Ich weiß noch genau, wie sehr ich mich gefreut habe, dass mein Bruder und ich in der gleichen Mannschaft Fußball spielen konnten. Das war eine wirklich schöne Zeit, an die ich mich oft und gerne erinnere.

Die Sonne steht mittlerweile hoch am Himmel. Ich habe schon Stunden damit zugebracht, in diesem Fotoalbum zu blättern, bis ich schließlich zu einem Bild komme, das sowohl das schönste als auch das schmerzhafteste ist.
Das Foto wurde in einem Krankenhaus aufgenommen. In der Mitte ist mein Bruder zu sehen, der mit einem Gips am Bein im Bett liegt und schief in die Kamera grinst. Auf der rechten Seite sitzt mein bester Freund, der verlegen den Kopf wegdreht. Und links bin ich und schneide eine Grimasse.
Nachdem mein Bruder mit dem Fahrrad an einen Baum gefahren und anschließend einen Abhang hinunter gefallen ist, musste er in die Notaufnahme. Dort stellte sich dann heraus, dass er sich das Bein gebrochen habe. Jahre später ist der dann mit dem Auto in ein Unwetter geraten, ein Baum ist auf seinen Wagen gekracht und er ist vollständig ertaubt.
Das alles gedanklich noch einmal zu durchleben, macht mich fertig. Es zieht mich runter und hüllt mich in eine dunkelgraue Wolke aus düsteren Gedanken.
Die ersten Tränen sammeln sich in meinen Augen, doch ich konzentriere mich wieder auf das Foto vor mir. Noch immer tut es weh. So furchtbar weh.
Als mein Bruder mit Gips in diesem sterilen Krankenhauszimmer lag, sah er so verloren aus. Durch seine Verletzung konnte er an einem wichtigen Fußballspiel nicht teilnehmen, auf das er sich schon so lange gefreut hatte. Mein Freund und ich wollten uns in seinem Namen ganz besondere Mühe geben und für ihn fleißig Tore schießen. Dass wir im entscheidenden Spiel kein einziges Mal getroffen haben, bleibt Nebensache. Viel wichtiger ist das, was wir uns an diesem Tag geschworen haben.

Wir werden durchhalten.

Wir versprachen uns füreinander da zu sein, komme was wolle. Schließlich hakten wir unsere kleinen Finger ineinander, schauten uns eindringlich an und sprachen noch einmal unser Mantra.

Wir werden durchhalten.

Es war ein kindliches Versprechen, das erst viel später eine tiefere Bedeutung erlangte.
Mittlerweile bin nur noch ich übrig. Die Beiden haben es nicht geschafft. Sie haben den Schwur gebrochen und den Traum vom gemeinsamen Alt-werden innerhalb weniger Sekunden zum Platzen gebracht.
Selbstmord.

Ich schaue nochmals auf das Foto vor mir und wische mir verstohlen die Tränen aus den Augen.
Als Kind schien alles so leicht zu sein. Man hat viel mehr gelacht, sich viel freier gefühlt und war viel öfter glücklich.
Zu gern würde ich wieder in diese Zeit reisen, meinem Bruder noch ein paar wichtige Worte sagen und meinem Kumpel fest auf die Schulter klopfen.

Die Zeit, die ich mit ihnen hatte, war zwar eindeutig zu kurz, aber dennoch wunderschön und voller einprägsamer Momente.

|D wie Danke|

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