B
Noch immer halte ich die Scherbe, die nun rot glitzert, in meiner Hand. Eigentlich sollte ich sie wegschmeißen. Damit ich mir nie wieder in den Unterarm schneide. Doch ich lasse sie nicht los. Stattdessen stehe ich auf, stecke sie in meine Jackentasche zurück und setzte meinen Weg ins Unbekannte fort.
Langsam werde ich wieder nüchtern. Die Welt dreht sich nicht mehr so schnell und ich kann wieder gerade laufen.
Eigentlich schade. Denn mit der Klarheit in meinem Kopf machen sich nicht nur Kopfschmerzen, leichte Übelkeit und ein brennender Schmerz in meinem Unterarm bemerkbar, sondern auch düstere Gedanken.
Wütend schlage ich mit der Faust auf die Bank, auf der ich mich inzwischen niedergelassen habe. Braune Farbe bröselt auf den Boden und ich kratze weitere ab.
Wieso habe ich es nicht bemerkt? Wie konnte ich nur übersehen, wie schlecht es meinem Bruder ging?
Seit seinem Unfall, bei dem er vollkommen das Gehör verloren hatte, kam ich ihn regelmäßig besuchen.
Er war wieder bei unseren Eltern eingezogen, nahm aber kaum noch am Leben teil. Andauernd saß er in seinem Zimmer und ging nur ein paar Mal in der Woche zum Arzt oder zum Psychologen. Ansonsten traf man ihn nie.
Einmal stand ich vor seinem Zimmer und klopfte durchgehend an seine Tür. Dass er das nicht hören konnte, kam mir erst später in den Sinn und als ich das Zimmer betrat, sah ich, wie er tief über den Schreibtisch gebeugt, fleißig schrieb. Sogleich habe ich mich hinter ihn gestellt, um ihm über die Schulter zu linsen. Viel konnte ich nicht erkennen. Doch als er meinen Atem bemerkte, zuckte er heftig zusammen, ließ den Füller fallen, der daraufhin Tintenflecke verursachte, und drehte sich mit weit aufgerissenen Augen zu mir um. Beschwichtigend hob ich die Hände und als er den ersten Schock verdaut hatte, fuhr er sich mit beiden Hände über sein Gesicht.
Ich bemerkte seine fast schon schwarzen Augenringe, seine aufgeplatzte Lippe, auf der er andauernd herumkaute, und seine verstrubbelten Haare. Viel Schlaf schien er nicht zu haben. Und auch ich schlief schlecht. Aus Sorge um ihn.
Es hätte mir auffallen müssen. Ich hätte sehen müssen, wie fertig er war. Wie schnell sein Ende sich näherte.
Doch ich habe einfach geglaubt, dass er sich damit abfinden würde. Dass er damit klar kommt, taub und somit anders zu sein. Dass er nach ein paar Monaten wieder der Alte sein würde. Der Bruder, den ich immer bewundert habe. Der Mensch, der so wundervoll, hilfsbereit und aufgeschlossen war.
Erst als man ihn tot in seinem Zimmer fand, gestorben an einer Überdosis Schlaftabletten, fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
Ich habe seine Oberfläche erkannt, aber sein zerstörtes Inneres nie gesehen.
Und das Gefühl der Schuld brach über mich herein.
|B wie Blind |
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