Fremde

Kapitel 28
Als Alec erwachte tat ihm alles weh und er wusste sofort, dass er nicht tot war. Wenn so viel Schmerz selbst nach der Erlösung auf ihn wartete, konnte er genauso gut lebendig sein und er wurde in seiner Vermutung bestätigt, als er schwerfällig sein Auge öffnete und an eine graue Decke starrte, bevor sich ein Männergesicht in sein Blickfeld schob.
Der Mund des Mannes bewegte sich. Er war nur wenig älter als Alec selbst, vielleicht fünfunddreißig und er trug einen weißen Overall. Kurz hatte Alec Panik in einem Krankenhaus zu sein. Wo ein Krankenhaus war, war auch die Polizei nicht weit und er verfluchte Nora bereits, die so dumm gewesen war in eines zu fahren. Aber als er sich das Zimmer besah, sah es nicht aus wie in einem Krankenhaus.
„...stehen Sie mich?", drang die Stimme des Mannes zu ihm hindurch. Er sprach Englisch.
„Wo bin ich? Wo ist Nora?", fragte er und der Arzt lächelte symphatisch.
„Ihrer Schwester geht es gut, sie ist auf der Couch eingeschlafen. Sie hatte eine Gehirnerschütterung, die ich gerne näher untersuchen würde, aber ich glaube das schaffe ich nicht in einem Hotelzimmer."
Hotelzimmer. Sie waren in einem Hotelzimmer. Alec stöhnte erleichtert auf und drehte den Kopf um Nora zu sehen. Sie lag tatsächlich auf einer kleinen Sitzgelegenheit nahe der Heizung und hatte einen weißen Kittel über sich ausgebreitet.
Kurz erfüllte Eifersucht seine Brust, als ihm klar wurde, dass dieser Mann sie damit zugedeckt haben musste. Und wenn er sich hätte bewegen können, hätte er den Mann wahrscheinlich gleich angefallen.
„Wer sind Sie?", fragte er ohne dass ihm das „Schwester" bis jetzt aufgefallen wäre. Der Mann hob beschwichtigend die Hände.
„Ich bin Thomas, ich bin Arzt. Der Arzt der Sie wieder zusammengeflickt hat. Ihre Schwester hat mich mitten auf den Parkplatz des Krankenhauses abgefangen und mich um Hilfe gebeten. Aber sie hat mir leider nicht gestattet Sie ins Krankenhaus einzuliefern. Ich habe Sie heimlich in einem stillgelegten Operationssaal verartzten müssen", meinte er und sprach schon fast schwärmerisch von der Begegnung mit Nora, was alle Alarmglocken in ihn läuten ließ. Nora gehörte ihm. Nora war sein. Nora war SEINE Nora!
„Um ehrlich zu sein hätte ich nie gedacht, dass ich sowas mal tun würde," gestand er. Sichtlich versucht Sympathiepunkte bei ihm zu bekommen und dann fiel es ihm endlich auf. Schwester. Sie hatte gesagt sie wäre seine Schwester, damit dieser Kerl einer jungen Frau half. Einer jungen, hübschen und ungebundenen Frau. Seine Mundwinkel zuckten. Er hatte ja gewusst, dass Nora einen anderen Mann um den Finger wickeln konnte und sie hatte es getan, um ihm das Leben zu retten. Dieses clevere kleine Ding.
Am liebsten hätte er diesen Thomas alleine deswegen umgebracht, aber sie brauchten den Mann noch, also würde er sich zügeln, bis der Idiot seinen Zweck erfüllt hatte.
Nora rührte sich auf der Bank und erhob sich. Sofort war Thomas bei ihr und lächelte sie an. Nahm ihre Hand, um ihr beim aufstehen zu helfen. Er grinste verliebt und Nora grinste schmachtend zurück. Alec wurde schlecht und musste sich abwenden. Okay, vielleicht brauchten sie den Typen doch nicht so dringend.
Aber da senkte sich schon die Matratze neben ihm und Nora drückte seine Hand. Nur seine Hand, wie eine Schwester es tun würde und während sie ihm liebevoll anlächelte – auch das würde eine Schwester tun – glomm in ihren Augen ein Feuer, das Versprechen abgab.
„Ich besorge noch etwas Blut für deinen Bruder, möchtest du noch einen Salat?", fragte Thomas hilfsbereit. Nora sah ihn so dankbar an, dass dem Typen das Herz aufging. Oh, Gott. Nora war wirklich hervorragend in sowas. Fast zweifelte er schon an ihren Gefühlen für ihn selbst, aber eine Sekunde bevor Thomas die Tür zugezogen hatte, lagen ihre Lippen schon auf Alecs.
Sie küsste ihn. Lange. Sehr lange. Bis Alec glaubte sie würden es schon stundenlang tun und mehr als diesen Kuss brauchte es zwischen ihnen nicht, um eines zu besiegeln: Der Teufelskreis war durchbrochen.
„Tut mir leid, das mit Thomas. Aber ich brauchte doch jemanden, der dir das Leben rettet!", beteuerte sie nach diesen unendlich langem Kuss, der so zärtlich gewesen war, dass Alec sich fast dafür schämte. Zärtlichkeit war nicht gerade seine Welt, aber die Süße in ihrem Mund hatte ihm geschmeckt.
„Wie lange war ich weg?", fragte er und betastete das große Pflaster an Noras Haaransatz. Er akzeptierte die Notwendigkeit dieses Arztes, was allerdings nichts an seiner Mordlust änderte.
„Sechzehn Stunden, vielleicht etwas mehr. Keine Angst der Wagen ist fort. Thomas hat uns hierhergebracht nachdem er dich für halbwegs transportfähig hielt. Ich habe ihm gesagt, ich sei von kriminellen entführt worden und du wärst bei meiner Rettung so schwer verletzt worden. Und das er die Polizei nicht rufen durfte, weil diese schrecklichen Menschenhändler immer noch hinter mir her seinen und die mich sonst finden würden. Die Polizei ist nämlich korrupt", murmelte sie und küsste seine Hand als er ihr Gesicht berührte. Alec grinste.
„Wer hätte das gedacht", grinste er über ihren letzten Kommentar und wunderte sich kein bisschen darüber, dass der arme Kerl ihr diese abenteuerliche Story abgekauft hatte. Nora wirkte einfach wie die typische Jungfrau in Nöten und nicht wie die Psychopathin, die einem Kerl das Ohr abbeißt.
„Victorius ist uns entkommen", sagte er und wahr wütend darüber sich nicht sofort wieder auf den Weg machen zu können. Nora nickte schwermütig, beugte sich dann aber wieder zu seinem Gesicht.
„Aber ich habe dich noch und das ist es mir Wert!", sagte sie und legte sich neben ihn auf das schmale Bett und versuchte seine Verletzungen nicht zu berühren. Alec sah an sich herab, als sich ihre Hand vorsichtig auf sein Herz legte. Er sah immer noch aus, als hätte man eine Farbpalette auf ihm ausgekippt. An seinem Arm hing ein Tropf, wo er mit Sicherheit gerade Unmengen von Schmerzmitteln eingeflößt bekam. Er war auch froh noch am Leben zu sein. Sehr sogar. Wenn auch beschädigt. Er hob seine Hand und betastete sein verbundenes Auge.
„Du wirst nicht wieder sehen können", entfuhr es Nora neben ihm.
„Es ist noch da, aber Thomas meinte, dass es dir nichts mehr nutzen kann. Mann wird nur einen Augapfel sehen mit einer Narbe darüber. Es tut mir leid", sagte sie und kuschelte sich an ihn als würde er diesen Trost brauchen. Er hatte ja noch ein Auge, also war alles in Ordnung- Auch wenn er sich würde umgewöhnen müssen.
„Wird es dich sehr abstoßen?", fragte er und eigentlich war ihre Antwort egal, denn sie gehörte ihm. Selbst wenn sie sich körperlich nicht mehr zu ihm hingezogen fühlte, würde es ihr nichts helfen. Sie würde in seinem Bett landen, ob sie wollte oder nicht. Aber Nora lächelte nur. Ihre Hand hob sich an seine Wange und strich über seine Lippen.
„Ich habe mir einen Krieger ausgesucht, Narben schrecken mich nicht ab. Selbst wenn da nur eine leere Augenhöhle geblieben wäre und du mit einer lächerlichen Augenklappe herumlaufen musst", fügte sie hinzu. Er wollte es nicht zugeben, aber es erleichterte ihn.
„Abgesehen davon werde auch ich einige Narben haben," sagte sie und Alec sah sie wütend an. „Was?", fragte er entsetzt. Nicht weil ihm das seinerseits abgestoßen hätte, sondern weil er nicht glauben konnte das sie so stark verletzt worden war. Jede ihrer Narben war ein Sinnbild seines Versagens.
„Als sie dich niedergeschlagen haben, bin ich durchgedreht und habe mich gegen die Klinge gedrückt", sie deutete auf einen Verband an ihrem Hals. „Und die Platzwunde wird auch nicht ohne Spuren verheilen", sie deutete auf ihren Haaransatz. Alec schaffte es sich zu ihr zu drehen und beide Stellen zu berühren. Vorsichtig ohne ihr wehzutun. An diese merkwürdige Zärtlichkeit in ihm sollte sie sich aber gar nicht erst gewöhnen. Das war er nicht. Er war lediglich benebelt von den Medikamenten.
„Wir brauchen einen Computer", meinte er dann, wieder ganz dabei den nächsten Schritt zu planen. Nora gähnte und schloss die Augen während sie murmelte. „Ich besorge uns einen", versprach sie und Alec spielte im Kopf seine Möglichkeiten durch. Er würde noch eine Weile außer Gefecht gesetzt sein und solange das so war, brauchten sie beide Schutz vor Victorius und den konnten sie nur von einem bekommen. Den Einzigen der noch eine Schuld bei Alec zu begleichen hatte.

Beta: Geany

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