Kapitel 5

Vorsichtig streckte ich eine Hand aus der Decke, bereit, sie jede Sekunde wieder in die schützende Wärme zu ziehen und schnappte mir einen Weingummi. Ich lag im Bett, hörte Musik und war so müde wie schon lange nicht mehr. Doch es war eine geistige Müdigkeit.

Ich wusste garnicht, warum mich das so mitnahm. Ich war es ja gewöhnt. Jeder verließ mich. Erst meine Stimme, dann mein Vater und dann das Glück. Ich war ein Krüppel, eine Missgeburt- das hatten mir alle Menschen, denen ich je begegnet war, klar gemacht. Ich schämte mich meiner Schwäche, dass ich darüber nach dachte, aber ich konnte es nicht verhindern. Die Gedanken kamen in meinen Kopf und auch als ich die Musik noch lauter machte, waren diese ekeligen Stimmen da.

Ich schmiss mich auf die andere Seite des Bettes, aber jede Position war unbequem. Ich wollte meine Gefühle niederschreiben, aber ich traute mich nicht, ich wusste nicht so recht, warum.

Mir war kalt. Kalt des Gewissens von Lewi. Es machte mir Angst, dass sie solche Macht über mich hatte. Mich zum Verzweifeln bringen konnte, denn normalerweise hätte ich dem jenigen nur den Mittelfinger gezeigt und wäre weggegangen. Doch ihr Vorteil war, dass sie wusste, wo mein Schwachpunkt war; mein Vater.

Mir wurde schlecht, als ich trotzdem immer weiter aß und Sachen in mich hineinstopfte. Am liebsten würde ich alles auskotzen. Alle Gedanken, jedes Gefühl. Wollte mich weit von ihnen distanzieren und unweigerlich würde ich Mum nun aus dem Weg gehen.

Das war eine Gemeinsamkeit von mir und Louis; wir beide hatten niemanden. Nur, dass er jederzeit Freunde gewinnen könnte, durch seine Art, sein Erscheinen. Mir würde man noch nicht einmal eine Chance geben und ich fragte mich, ob Louis mir die geben würde, oder ob auch er mich anstarren würde, wie ein misslungenes Experiment.

Alle waren sie doch gleich. Mein Blick fiel auf meinem Schreibtisch, auf dem sich die Bücher nur so stapelten. Lesezeichen und Eselohren; viele erlitten auch einfach einen Genickbruch, in dem ich sie auf den Kopf legte. Warum konnte das Leben nicht so wie in Büchern sein?

Was würde ich dafür geben, einige Charaktere zu treffen. Ich würde sie fragen, wie sie so stark sein könnten, auch wenn alles Berg ab ging und woraus sie Kraft schöpfen konnten, wenn scheinbar nichts mehr exestiert, was das schaffen könnte. Und warum sie nicht bitte, bitte real werden können, damit die Welt ein besserer Ort wird.

Ein Gepard kann von 0 auf 72 km/h in zwei Sekunden beschleunigen- diese Geschwindigkeit erreiche ich nur, wenn mein Handy Akku weniger als drei Prozent beträgt. Dann hechte ich durch das Zimmer, mache einen doppelten Salto und stöpsel das Handy mit einem Karate-Schlag ein. Dass der Akku jetzt schlappmachte war meine ganz persönliche Apokalype.

Irgendwann schlief ich ein. Einmal hörte ich, wie Mum ins Zimmer kam, mir zuschaute wie mein Burstkorb sich hebte und senkte und dann wieder ging. Ich hatte etwas anderes erwartet. Früher, wenn wir uns gestritten hatten, hat sie sich neben mich gelegt und geredet, einfach geredet. Über die penibelsten Dinge, aber ich wusste, sie war da. Und jetzt gab sie mir keinen Gute Nacht Kuss.

Als ich aufwachte, öffnete ich den Mund, aber es kam kein Laut heraus. Was hatte ich gedacht? Das alles nur in Traum gewesen war. Ich fragte mich oft, wie es sich anfühlte, zu sprechen - es zu können. Kitzelten die Laute, wenn sie deinen Mund verließ oder vibrierten die Stimmbänder?

Stummheit war ein beschissenes Stück Scheiße, welches schadenfroh in der Ecke sitzt und darüber lacht, dass ich weine. Oder geweint hatte. Es war früh am Morgen und ich wollte frühstücken, bevor Mum aufwachte und meinen Blick sah. Ich schob das Brötchen in den Ofen zum aufbacken und schaltete mein Handy an.

Ich beschloss, zur Küste zu gehen, dem einzigste Ort, den ich an Henley mochte. Er führte durch einen kurzen Waldabschnitt, ehe man die Steine unter seinen Füßen spürte und den großen Fels sah, der über das Wasser reichte. Ich mochte es, den Wind zu spüren und die Beine baumeln zu lassen. Es war der einzige Ort, an dem ich meine vollkommene Ruhe hatte, weil ihn niemand kannte.

Ich war einsam und hatte viel Zeit. Stundenlang hatte in Henley durchkämmt und war in den Wäldern gewesen, wollte fliehen und vergessen. Irgendwann war ich auf den Platz gestoßen, der niemanden zu interessieren schien, obwohl er perfekt war. Die Sonne ging vor einem unter, die Wellen waren nicht so stürmisch wie sonst, weil die Bucht schmal war und die Möwen kreischten nicht, weil sie kein Futter fanden. Im Sommer hatte das Wasser eine angenehme Temperatur.

Man hatte das Gefühl der Natürlichkeit. Man musste ein Stück laufen, aber es machte mir nichts aus. Ich hatte ein Buch mitgenommen und las. Ich kannte kein einziges Buch mit einem stummen Hauptcharakter und das machte mich wütend, weil es die Krankheit auf eine besondere Ebene stellte.

Das anfängliche rot des Himmels verschwand und ich wusste nicht mehr, wie lange ich schon hier war, wie es in letzter Zeit so oft der Fall war. Ich war bei der Hälfte es Buches angelangt, als ich ein Geräusch hinter mir hörte. Erschrocken drehte ich mich um und schaute in zwei erstaunte Augen, die mich zu verfolgen schienen. Was suchte Louis hier?

Woher wusste er von dem Ort? Er sah aus, als fragte er sich genau das gleiche und mir fiel ein, dass er in den Jahren wo er hier gewohnt hatte ja sicher nicht nur im Zimmer saß, wie ich es machte. Er setze sich neben mich und grinste. ,,Du schon wieder!"

Wohl eher er schon wieder. Ich blickte zurück in mein Buch und ich sah, dass er mitlas.

,,Was ist das für ein Buch?"

Ich zeigte ihm den Umschlag, aber er kannte es nicht. ,,Ich lese nicht gerne. Ich weiß nicht, die Welt ist einfach nicht so wie sie in Büchern ist und man sollte sich nicht in Traumvorstellungen verlieben, die niemals wahr werden sondern der Realität ins Gesicht sehen und versuchen etwas Reales zu verändern."

Ich rümpfte die Nase, weil ich nicht wusste, was ich dazu sagen sollte. Ich konnte es nicht ganz nachvollziehen. Er sagte nichts, aber ich sah, wie seine Augen die Zeilen überfolgen. ,,Ach du scheiße."

Ich verdrehte die Augen. Er stupste mich an und ich schaute verwirrt zu ihn. Warum starrt er mich an? ,,Red doch mal.", maulte er. Ich erstarrte. Ich wollte aufstehen und gehen, aber er hielt mich fest.
Wie immer. ,,Seit dem ersten Tag hast du mir noch nie geantwortet."

Ich atmete flach und tief ein und legte das Buch zur Seite. Es ist nur fair, dass er Bescheid weiß, damit er genug Zeit hat abzuhauen. Ich hatte nichts mitgenommen, worauf ich schreiben könnte. Ich konnte ihn nicht ansehen. Ich zeigte auf meinem Hals und schüttelte den Kopf, hoffte, dass er verstand und spürt wie mir das Blut, vor Scham, in die Wangen schoss.

Am ersten Tag, der Tag an dem ich ihm das erste mal begegnete, hatte ich über Zeit nachgedacht.
Er hob mein Kinn sanft mit zwei Finger hoch, damit ich ihn anschaute und ich schloss die Augen.
Er verwirrte mich. ,,Du bist so wunderschön."

Ich schluckte, er fuhr mir über eine Wange und vorsichtig öffnete ich meine Augen. Sie trafen auf seine und ich sah, dass sich in ihnen nichts verändert hatte. Mir fiel auf, wie ich gerade auf ihn wirken musste. Ich schüttelte mich einmal. Schweigen zwischen uns. Er kannte mich doch garnicht, warum nannte er mich wunderschön? Meinte er das ernst? Ich war es nämlich nicht.

Ich schüttelte fester den Kopf. ,,Doch. Forme die Worte mit deinen Lippen, wie heißt du? Ich will es wissen." Er reichte mir seine Hand hin. ,,Ich heiße Louis, freut mich, dich kennen zu lernen."

Er stellte sich mir noch mal vor, warum? Ich wollte ihn fragen, aber beschloss es zu verlegen, wenn ich Blatt und Papier zur Hand hatte. Ich formte ein R, aber er dachte es wäre ein B. Er schaute verzweifelt und ich lächelte ihn vorsichtig an. R-O-S-E...

,,ROSE!"

Er schaute mich an und klopfte sich auf die Schulter. ,,Wir werden das tranieren, das Lippen lesen, meine ich. Ich will doch mehr von dir erfahren."

Ich öffnete den Mund, aber schloss ihn wieder. Es war nicht richtig, wie er sich benahm.
Wenn, dann wollte ich auch was über ihn erfahren. Fairheit und so. Ich zeigte auf ihn und er fragte, was ich wissen wollte. Alles.

"Ich wohnte in New York für Jahre und fühlte mich wohl. Ich hatte Freunde, eine kleine, aber schnieke Wohnung und war Stammgast in allen möglichen Kneipen. Mehr gibt es eigentlich nicht zu erzählen.", er grinste. Er lügte. Warum? Das machte mich wütend.

Ich packte meine Sachen zusammen und er ging mit mir mit. ,,Kommst du zum Laden? Bis Sommer muss er doch fertig sein."

Er hörte sich verzweifelt an und ich wollte erst den Kopf schütteln, bis mir auffiel, wie dumm das eigentlich wäre. Meines Buches wegen musste ich erst nach Hause und als er sah, dass ich im Nachbarhaus wohnte, entfielen ihm die Gesichtszüge und er schaute nervös immer wieder nach links; Lewi. Da ich mir sicher war, dass Mum nicht da war, bat ich ihn herein und schloss die Tür hinter uns. Ich holte ein Glas Wasser und einen Block.

Warum bist du von NYC wieder nach Scheiß-Henley gekommen?

Er seuftze. ,,Lange Geschichte. Ein andermal, Rose."

Ich wechselte das Thema. Wieso hast du den Laden gekauft?

,,Hast du Harry Potter gelesen? Ich bin mir sicher, du hast. Es ist doch nichts anders, als ein riesiger Horcrux. Es hängen Erinnerungen und Gefühle an ihm, ein Teil deiner Seele. Es ist ein Teil von dir- würdest du dies einem x-beliebigen Menschen überlassen?"

Also hattest du viel mit ihm zu tun? Mit Gunnar? Ich hoffe, ich verärgerte ihn nicht, aber ich würde so gerne wissen was aus seiner Sicht damals passiert war.

,,Er war mein Vater." Sein Blick wurde hart. Ich bohrte in einer Wunde herum und es tat mir leid. Ich biss mir auf die Lippe und schaute ihn entschuldigend an. Ich quälte ihn, obwohl ich das alles schon wusste.

Tut mir leid.

,,Alles gut.", lächelte er. Er nahm einen Schluck Wasser. ,,Schönes Haus habt ihr."

Ich verdrehte die Augen. Der Laden wird schöner.

,,'Türlich, das ist sonnenklar. Wir müssen noch so viel machen. Ausräumen, einkaufen, dekorieren, planen. Wollen wir morgen ins Möbelhaus?" Ich nickte und er lächelte mich an. Warum sah er so gut aus? Und warum war ich so hässlich gegen ihn?

Er trank das Glas mit einem Zug aus und ich goss neues Wasser ein. Harry Potter war toll.
Man konnte soviel mit diesem Buch in Verbindung bringen und soviel aus ihm lernen, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheinte- zwischen den Zeilen.

Er hatte es gelesen, obwohl er Bücher nicht mochte. Ich dachte an die vielen Bücher im Laden.
Wenn er sie wegschmeißt, werde ich ihn killen müssen.

Um wie viel Uhr treffen wir uns?

"Um zehn am Laden?"

Ich sah in entgeistert an. Menschen, die vor elf Uhr aufstanden, waren mir suspekt und auch ich brauchte meinen Schlaf, sonst war ich ungenießbar. Wenn ich dann keinen Kaffee bekam, konnte man mich vergessen und in die Tonne kloppen, weil ich für nichts mehr zu gebrauchen war. Das würde schwierig werden.

Ich gab mich geschlagen. Es war noch früh. Ein Uhr. Aber ich war mir sicher, dass wir das Zeitgefühl austricksen könnten.

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