Kapitel 21

,,Guten Tag Mrs Parker", sagte Raph unten an der Haustür und ich sah entgeistert auf die Uhr. Schon so spät? ,,Ich wollte Rose abholen."

Mum klang nicht wenig überrascht: ,,Oh, was für eine schöne Überraschung! Komm doch rein!"

Oh, scheiße, scheiße, scheiße. Ich sprang aus dem Bett und hechtete in das Bad. Ich sah mich im Spiegel an und wägte ab: War eine Dusche wirklich notwenig? Ich entschied mich dagegen, obwohl ich einen sehnsüchtigen Blick in die Duschkabine nicht verhindern konnte.

Schnell band ich mir meine Locken zu einem Zopf. Eine besonders widerspenigste Locke strich ich mir hinter mein Ohr, dann ging ich in mein Zimmer und schnappte mir meinen Rucksack und polterte die Treppe nach unten.

,,Ah, Rose", begrüßte mich Ralph und ich nahm mir einen Apfel. Den 'Bis später' Ruf meiner Mutter übertönte ich mit dem Zuschlagen der Hautür und machte mich, mit Ralph an meiner Seite, auf den Weg zur Schule.

,,Bist du auch so müde wie ich?", fragte Ralph und ich nickte träge. Ich konnte meine Augen kaum offen halten.

Meine Mutter hatte mich heute morgen dreimal geweckt. Als sie aufstand und ins Bad ging (,,Rosie? Schatz, es ist Zeit, aufzuwachen..."), als sie fertig war (,,Rosie! Aufstehen!") und dann, als das Frühstück fertig zubereitet war (Rosie! Wie oft denn noch: Aufstehen! Du kommst zu spät!").

Und ja... ich hatte genickt und mir vorgenommen, nur noch ein paar Minuten liegen zu bleiben.  Das Bett war so unglaublich bequem und ich wollte es nicht verlassen und aus ein paar Minuten war eine Stunde geworden. Kann ja schon mal passieren.

Jetzt waren wir in Eile.

,,Ich hasse diesen Ort einfach", sagte Ralph als wir vor dem Schulgebäude standen. Ich nickte. Er sah mich an: ,,Warum bist du eigentlich hier?"

Ich verstand die Frage. Sie war auf meine Behinderung bezogen. Er hatte seinen Blick nicht mehr auf mich, sondern seine Füße gerichtet und schien damit zu ringen den Schritt zu tun, mit dem er das Schulgebäuse betreten würde.

,,Ah, warscheinlich das typische", meinte er plötzlich. ,,Sorge um psychische Stabilität, blablabla."

Ich grinste und hielt einen Daumen nach oben. Ich hatte schon mehrmals überlegt ob es das richtige gewesen war, eine normale Schule zu besuchen, statt eine, die an meine Behinderung angepasst ist und ich bin immer zu dem selben Schluss gekommen: Es bringt nichts darüber nachzudenken. Ich weiß es nicht.

,,Na dann, komm, Rose. Die Schule - verzeihung, die Hölle wartet auf uns."

Klingbrrligrbbrrrrr!

Die furchtbare Schulglocke ertönte. Sie gab diesen undefinierbaren Ton von sich, seitdem vor (ich weiß nicht genau wie vielen) Jahren eine Gruppe von Schülern versuchte, die Schulglocke so umzuprogrammieren, dass sie statt dem typischen Klingelingeling - Geräusch laut Chuck Berrys 'School Days' von sich gab. Leider erwischte man sie, bevor sie ihr Werk vollenden konnten. Was sie auf jeden Fall geschafft hatten: Von da an war der Ton noch unerträglicher. 

Ralph packte meine Hand. ,,Essen wir Mittag zusammen?", fragte er noch, bevor unsere Wege sich wegen verschiedenen Fächern schieden. 

Natürlich - ich hatte garnicht darüber nachgedacht, dass ich nicht zusammen mit ihm Essen würde. Deshalb nickte ich ihm zu und er verschwand um die nächste Ecke. Weil wir zu spät waren, war niemand mehr auf dem Gang außer uns.

Mein erstes Fach war Geschichte. Ich versuchte so unauffällig wie möglich auf den ersten freien Sitz zu huschen, den ich sah, aber Mr Koeß war schneller: ,,Schön, Sie auch zu sehen, Miss Parker."

Kann ich jetzt nicht von Ihnen sagen.

,,Verschlafen, huh? Anstrengendes Wochende gehabt? Wenn ihr jungen Menschen nur halb so viel Zeit mit lernen, wie mit dem Feiern verbringen würdet..."

,,Feiern? Sie? Mit wem?", flüsterte jemand eine Reihe hinter mir und ich widerstand dem Drang, mich umzudrehen. Wenn ich könnte hätte ich gerne mit etwas bissigem geantwortet.

,,Oh, Mr Tenner, sie sollten sich auch mehr auf die Schule konzentrieren, statt großkotzige Antworten zu geben." Mr Koeß kramte in seiner Tasche. ,,Ich habe hier ihre Aufsätze und ich muss sagen", er sah Tenner mit ernstem Blick an, ,,das ist ausbauungsfähig. Miss Parker, ihrer war sehr gut."

Er gab jedem im Kurs die Aufsätze zurück und mit Freuden sah ich, dass er ein kleines 'Prima!' unter meinen geschrieben hatte. Zufrieden lehnte ich mich zurück. Ich hörte Mike Tenner wütend grummeln. Tja. Manche können's und manche können's nicht.

Die Zeit verging schleppend langsam. Immer wieder schaute ich zur Uhr, dann auf den Lehrer und auf meine Mitschriften, die so unordentlich waren, dass warscheinlich nur ich sie lesen konnte.

Und dann war endlich Mittagspause. Ich wurde ein paar Mal angerempelt - aus Versehen oder extra? - und als ich den großen Raum betrat, suchte ich die Tischreihen nach meinem Freund ab, den ich schließlich in der hintersten Ecke sitzen sah. Während ich quer durch den Raum auf ihn zuging, hatte das Gefühl, mir würden hunderte Blicke Löcher in den Rücken bohren.

Ich konnte mir vorstellen was sie dachte: Die Stumme und der Selbstmordkanidat. Die zwei Außenseiter der Schule.

Aber es war mir egal. Ich schob den Stuhl zurück und das schabende Geräusch ließ Ralph aufschauen. Er las gerade in einem Buch und hatte mich garnicht kommen sehen. ,,Hi."

Ich setzte mich hin und schnappte mir sein Buch um zu sehen, was er las. Er war peinlich berührt, als ich ihn angrinste, weil auf dem Einband groß 'Pride and Prejudice' stand. ,,Mu.. muss ich für die - die Schule lesen", stammelte er und ich nickte übertrieben verständnisvoll.

Wir stellten uns zusammen in die Essenschlange und verzogen gleichzeitig den Mund, als ein unappetlicher Haufen Kartoffelbrei auf unseren Teller geklatscht wurde.

,,Ugh", kam aus Ralphs Mund. Ein Fetzen Fisch und Brokkoli folgte dem Kartoffelbrei auf den Teller und ein Schwall Soße überzog das Gericht.

Ich prostete ihm mit meiner Wasserflasche zu. Zögerlich nahm er einen Bissen und schluckte kräftig, ehe er auch schnell zum Wasser griff und den Happen damit runterspülte. Unser Mittagessen war entspannt - ich mochte es, bei Ralp nicht das Gefühl zu haben, ich müsste etwas sagen.

Wir gingen beide unseren eigenen Gedanken hinterher und ich verlor mich schnell in ihnen. An mein Ohr drang Getuschel über das Schulfest, das nächste Woche stattfinden würde und willkürlich lächelte ich, weil das meinen Gedankenfluss auf Louis brachte. Ich schaute ihm gerne beim Lachen zu. Die kleinen Lachfältchen um seinen Mund und seine Augen ließen ihn sympatisch wirken und machten ihn, dank des sowieso schon von ihm ausgehenden Charismas, unwiderstehlich.

Ich hörte sein Lachen so deutlich, als wäre es keine Erinnerung, sondern Wirklichkeit. ,,Rose", flüsterte Ralph plötzlich und brachte mich in die Wirklichkeit zurück - ich, vor einem Haufen ekeligem Essen sitzend, in der Hölle persönlich.

Verwirrt sah ich mich um. Konnte das sein? Ich hörte Louis' Lachen immer noch. Das Geräusch wurde immer lauter und dann sah ich ihn. Er stand am Eingang zur Cafeteria und grinste mich keck an. Meine Augen weiteten sich.

Louis kam direkt auf mich zu. In seiner Hand hielt er zwei braune Papiertüten, mit der anderen winkte er mir zu. Hatte ich das Gefühl, mich würden alle anstarren, als ich zu Ralph gegangen war, so konnte ich jetzt sicher sagen - die Augenpaare hatten sich verdoppelt.

,,Na ihr beide", grüßte uns Louis, schnappte sich einen Stuhl und setzte sich. ,,Ihr habt doch sicher Hunger, oder? Ich war einkaufen und da ist mir eingefallen, wie schlecht das Essen war, als ich noch hier zur Schule gegangen bin. Und ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich das verändert hat.

Ralph brachte noch ein abgehacktes 'Lebensretter!' raus, ehe er sich über das Essen hermachte. Genüsslich nahm er jede Pommes einzelnd und schob sie in seinem Mund.

,,Guck nicht so geschockt, Rose", flüsterte Louis mir zu. Anscheinend starrte ich ihn immernoch an. ,,Ralph, wie war dein Tag bis jetzt, muss ich mich mit irgendwem prügeln, weil er einen doofen Kommentar abgelassen hat?"

,,Erstaunlicherweise", er sprach mit vollem Mund, ,,nicht. Die scheinen eher Angst vor mir zu haben. Als ob ich eine fremde Spezie wäre, oder so. Aber ist mir e-egal."

,,Gut. Und bei dir meine Liebe?" Er knuffte mir in die Seite. ,,Muss ich wen fertig machen?"

Mir fielen spontan viele Namen ein. Amy, Stella, Tenner, aber ich schüttelte den Kopf. Ich wollte das er neben mir sitzen bleibt und nicht Schläge austeilt. Es klang egoistisch, doch ich wollte den Leuten zeigen, dass er wegen mir hier ist. Dass er Rose Parker besuchen wollte. Dass er sie mochte. Dass er gerne Zeit mit den 'zwei Außenseiter' verbrachte.

,,Ich muss los. Der Countdown für den Laden läuft. Nächstes Wochenende ist Stadtfest und da wollen wir doch eröffnen, oder? Treffen wir uns nach der Schule dort?"

Ralph und ich nickten. Louis beugte sich zu mir und umarmte mich. Als er sich löste, drückte er mir einen Kuss auf die Wange.

,,Guten Appetit!" Mit den Worten verschwand er. Ich sah ihm nach und schaute in die sprachlosen Gesichter von sämtlichen meiner Klassenkameraden. Warscheinlich verarbeiteten ihre Gehirne das gerade gesehene: ein gut aussehner Junge und... Rose Parker.

Donnerwetter, dachte ich, sieht echt nicht schlecht aus. Eine kleine Glocke hatte geläutet, als ich den Laden betreten hatte. Die Fensterfront war zwar immer noch dreckig und ließ wie eh und je kein helles Licht durch, aber auch ohne konnte ich sehen, wie aufgeräumt der Laden aussah und wie klar die Wände strahlten, die wir neu angemalt hatten.

Ich versuchte das bedrückende Gefühl zu ignorieren, das entstand, weil ich mich an den Kauf der Farben erinnerte und wollte stattdessen genießen, wie gut das Ergebnis geworden war. Die Arbeit hatte sich gelohnt.

,,Du willst uns mästen!", sagte Ralph mit Blick auf den kleinen Tisch, um den mehrere Sessel standen. Aus dem dunklem Holz stand eine Dose mit Keksen und er schappte sich einen.

Louis lachte. ,,Ja klar. Das war meine Absicht. Was denkt ihr? Wie gefällt euch?"

Noch bevor wir antworten konnten, wendete er sich ab und wühlte in seiner Tasche. Dann zog er eine Kamera heraus und machte schnell ein Foto von Ralph und mir.

,,Wunderbar", sagte er und machte noch eins, diesesmal nur von mir. ,,Die Rahmen an unserer Fotowand müssen noch gefüllt werden", fügte er erklärend dazu. Ich nahm im die Kamera aus der Hand, um ein Bild von uns allen drei zu machen.

,,Staubsaugen solltest du auch", meinte Ralph. Er schaute auf den Boden. ,,Beziehungsweise die Plastikplane wegwerfen." Damt keine Farbe auf den Boden tropfte, hatte Louis eine Plane ausgelegt, die noch immer das Gesamtbild des Raumes störte.

,,Jaja", sagte Louis locker. Wir haben noch knapp eine Woche. Ich freu' mich!"

Ich meinte einen Hauch Traurigkeit in seinem Blick zu sehen, doch Louis' Grinsen war breit und ich verscheuchte den Gedanken aus meinem Kopf. Warscheinlich sah ich nur wieder Gespenster.

,,Ich - ich glaube ich muss nach Hause", sagte Ralph irgendwann. Wir hatten gemütlich beisammen gesessen und Kekse gegessen, Fotos gemacht und uns entspannt. Auf jeden Fall hatte ich das. Denn Ralph sah alles andere als seelenruhig aus. ,,Meine Mum macht sich bestimmt schon Sorgen."

Und da war es erneut. Ein trauriges Blitzen in Louis' Augen. Ich verstand. Mein Brustkorb drückte sich zusammen. Wieder war ich über mich selbst verärgert. Zwischen all meinen Problemen vergass ich immer wieder, dass Louis auch welche hatte - er mochte zwar älter und selbstständiger sein und verdammt viel Kohle haben, doch er brauchte trotzdem seine Mutter.

Ich wartete, bis sich Ralph verabschiedet hatte, dann ging ich zu der Tafel und stellte meine Frage: Kommt Lewi zur Eröffnung?

Zögerlich wartete ich auf seine Reaktion. War die Frage zu persönlich? Aber wir waren doch Freunde und vertrauten einander, oder?

Er starrte einige Zeit auf den Satz, so, als wenn er jeden Buchstaben einzelnd begutachten würde. Louis' Gesichtszüge wurden hart und er spannte seinen Kiefer an. Ruckartig schüttelte er den Kopf und zuckte mit den Schultern, ganz so, als wenn es ihm egal wäre.

,,Du musst mich garnicht so mitleidig angucken", zischte er. Ich verschränkte meine Arme.

,,Sie denkt immer noch, dass ich... das mich der Tod von Dad nicht interessiert hat. Angeblich hat er mir einen Brief geschrieben, in dem er gesagt hat, er hätte Krebs, aber so einen hab ich nie bekommen! Das musst du mir glauben! Und als ich dann drei Monate später hier aufgetaucht bin... naja, du hast ja mitbekommen, wie es lief."

Ich erinnerte mich an die Szene, als Lewi einen Stuhl durch ihr Fenster geworfen hat und Louis aus dem Haus jagte.

,,Ich wusste wie viel Dad der Laden hier bedeutet hat. Er gehört zu meiner Kindheit dazu. Ich wollte ihn retten, aber Mum... Lewi denkt, das ich-"

Louis schien vor meinen Augen zu schrumpfen. Er wurde immer kleiner in dem Sessel und verschwand hinter einem riesigen Kissen.

,,Ich habe Dad geliebt. Er hat mir nie einen Brief geschrieben. Und das glaubt sie mir nicht."

Erschrocken sah ich, wie seine Augen anfingen zu glänzen. Er weinte. Völlig überfordert saß ich gegenüber von ihm, dann stand ich auf und umarmte ihn. Schlaff hatte er seinen Kopf an meinem Hals vergraben und schluchtze. Ich strich ihm über den Rücken.

,,Das ist nicht fair", sagte er und griff nach meiner Hand.

Nein, das ist es nicht.

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