Kapitel 2


Meine Mutter war auch noch am nächsten morgen nicht unten aufzufinden, was mich einerseits verwirrte, andereseits nicht weiter interessierte. Meine Haare hatte ich zu einem unordentlichen Zopf hochgebunden und einzelne Strähnen steckte ich energisch hinter mein Ohr. Mein viel zu weites Shirt und die schlabbrige Jogginghose ließ mich wohlfühlen und ich frühstückte in aller Ruhe, während ich mir den Zettel durchlas, den meine Mutter auf die Anrichte gelegt hatte.

Süße!
Ich bin nacher wieder da, Lewi braucht mich gerade.
Mach dir einen schönen Tag, den hast du dir verdient. Geh dir ein Eis kaufen, die Sonne scheint!
Hab dich lieb, deine Mummy

Bei dem "Mummy" verdrehte ich die Augen, nahm aber dankend das Geld an, was sie mir dazu gelegt hatte, um mich aus dem Haus zu locken. Ich grinste leicht, den fünf Kronen Schein steckte ich in meine Hose. Ich musste sowieso noch einmal in den Laden, ich hatte gestern Abend mit Schrecken festgestellt, dass ich mein Notitzbuch liegen gelassen habe. Ich wusste nichts mit mir anzufangen und schlüpfte in meine Jacke. Die Kapuze tief in mein Gesicht gezogen verließ ich das Haus, das ich noch meine Bollerhose anhatte störte mich nicht im geringsten, auch wenn ich doof angeguckt werden würde. Henley war träge und den Menschen war so langweilig, das sie über alles und jeden lästern mussten. Die Bewohner gingen jeden Sonntag in die Kirche, alte Großmütter schmipften mit einem wenn man rauchte und Clubs hatte es hier noch nie gegeben. Das ganze Dorf war furchtbar konservativ und das schlimme war, dass die Besucher es liebten wenn sie von ihrem stressigen modernen Leben in dieses "Idyll" kamen.

Ich wollte mich am liebsten in ihren Koffern verstecken und mich heimlich mitschmuggeln. Ich machte einen Abstecher in den Musikladen und hoffte, mit den fünf Kronen von Mum könnte ich endlich meine Schulden begleichen, die ich seit geraumer Zeit hatte. Ich musste mir unbedingt einen Job suchen.

Ich würde mir zwar kein Eis mehr kaufen können, aber Mum hatte Recht, es war heute wirklich warm, noch wärmer als gestern und ich genoss das Gefühl, meine Jacke ausziehen zu können ohne zu  frieren. Ich setze mich auf eine Bank und beobachtete Menschen.

Warscheinlich sah ich aus wie ein Penner; ungeschminkt, strubbelige Haare, Jogginghose. Ich bietete den Menschen Stoff zum lästern, trotzdem konnte ich es wohl selbst am besten. Ich urteilte schnell über Menschen. Guckte an was sie trugen, wie sie aussahen, mit welchen Leuten sie sich abgaben. Aber endgültig ist mein Endschluss erst, wie ich sie finde, wenn ich ihnen in die Augen geguckt habe. Sie sind die Tore zu unserer Seele. Augen machen uns aus.

Ein Vogel zwitscherte und ich wünschte mir, ich könnte fliegen.

Ich stand auf und setze meinen Weg zu Gunnar's fort. Das Geschäft lag in einer kleinen Seitenstraße, etwas abseits von den anderen und bot auch im Touristen-Sommer einen schönen Ausweg aus der Hektik. Das Backsteinhaus, das irgendwie ein bisschen schief aussah, war wie aus einem Bilderbuch entsprungen und auch wenn dieser Anblick so typisch war, mochte ich es. Doch meine gute Laune verflog schnell, als ich merkte, dass ich ja garkeinen Schlüssel hatte und ich wollte mich selbst hauen, weil ich durch die Scheibe das kleine Buch genau sehen konnte. Seuftzend musste ich zurück gehen.

Ein Stuhl flog durch die Scheibe. Ein verdammter Stuhl flog durch die Scheibe von unserem Nachbarhaus und man konnte Lewi schreien hören. Plötzlich bekam Mums Satz "sie braucht mich", eine ganz neue Bedeutung. Vorsichtig näherte ich mich, bereit mich zu ducken, falls der Tisch folgen sollte. Die Tür war offen also nahm ich das als Einladung und ging hinein.

Es wunderte mich, dass Lewi wegen irgendetwas so reagierte. Sie war immer ruhig, ausgeglichen. Sie versuchte immer weiter zu machen, auch nach dem Tod von Gunnar und egal was passiert war, es beunruhigte mich. Aus dem Wohnzimmer hörte ich aufgeregte Stimmen. ,,Scher dich! Hau ab und wag es nicht, noch einmal ein Fuß ich mein Haus zu setzen. Haben wir uns verstanden, nie wieder."

Völlig erschrocken, weil ich dachte sie meinte mich, taumelte ich nach hinten. Eine fremde Stimme ertönte und die Neugier überwog. ,,Was hab ich dir getan, was hab ich dir getan? Ich wollte dir helfen, ok, Dad hätte nicht gewollt, das irgendein Fremder seinen Laden übernimmt! Mum, jetzt hör mir doch mal zu!"

,,Ich bin nicht deine Mum."

Vorsichtig spähte ich um die Ecke und machte schließlich einen Schritt, weil sich sowieso niemand für mich interessierte. ,,Ich wollte noch nur helfen.", murmelte ein Junge, der in der Mitte des Raumes stand und ich hörte, das er den Tränen nah war. ,,Ich wollte Dad einen Gefallen tun...-"

,,Wir haben auf dich gewartete, jahrelang. Du hast dich nicht ein einziges mal gemeldet, hast nicht mal auf den Brief geantwortet, als dein Vater dir gesagt hat, dass er Krebs hat. Das einzigste, was er wollte, war sich von dir zu verabschieden und jetzt kommst du, Wochen später und redest irgendetwas von Liebe. Schämst du dich nicht?"

,,Dad hatte...-"

,,HAU AB!", schrie sie und weinte los. ,,Ich will dich nie wieder sehen. Nie wieder, du bist eine Schande und nicht mein Sohn."

Entgeistert stand ich da. Stille, der schnelle Atmen des Jungen als er aus dem Raum rannte und sich die Tränen aus dem Gesicht wischte. Lewi sackte in sich zusammen und schluchtze bitter, Mum stand genauso unbeholfen wie ich in dem Raum und wusste nicht was sie sagen sollte. Vorsichtig klopfte sie ihr auf die Schulter und erst jetzt fiel mir auf, dass das der selbe Junge wie gestern war.

Mein Mund klappte auf. Ich setzte mich auf die Couch und versuchte zu verstehen, was sich grade abgespielt hatte. ,,Rosie.", jammerte Lewi plötzlich und warf sich an meinen Hals. ,,Meine schöne, kleine Rosie."

Nun, noch überforderter als sowieso schon, versuchte ich sie irgendwie von mir wegzuschieben, was nur mäßig gelang. Hilfe suchend sah ich meine Mutter an und die zuckte mit den Schultern. Auch sie hatte keine Ahnung.

,,Du bist so eine liebe und so eine nette"- warum lachte Mum plötzlich?- "und ich habe dich so in mein Herz geschlossen."

'Ok.', formete ich mit den Lippen und sie nickte und nahm mich fester in den Arm. Meine Hände fingen an zu kribbeln, weil sie kein Blut bekamen und vor meinem inneren Auge sah ich förmlich die Blutkörperchen, die sich alle zusammenpressten und sich gegenseitig schubsten.

Ich versuchte die Umarmung über mich ergehen zu lassen und suchte nach einem Weg zu fliehen. Zum tausendesten Mal wollte ich einfach wieder in mein Bett und die Gardinen zu ziehen. Immer noch fragte ich mich, was passiert war, dass Lewi so ausgerastet war- ihre Worte gingen nicht mehr aus meinen Kopf und ich grübelte, was da hinterstecken könnte. Ich hatte nie gewusst, dass sie einen Sohn hatten und ich weiß nicht, warum es mich überraschte.

Ich stand einfach auf und ging. Ohne ein Wort verließ ich den Raum und hielt die Tränen zurück, die ohne ersichtlichen Grund kamen. Ich entknotete meine Kopfhörer und versuchte, mit der Musik zu gehen. Die traurigsten Lieder kamen und ich musste mit bedauern feststellen, dass selbst Spotify mich verarschen wollte.

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