Kapitel 1
Zeit ist etwas merkwürdiges. Sie kontrolliert uns, auch wenn wir es nicht bemerken und sie zwingt uns zu Dingen, die wir nicht wollen. Wenn man sie braucht, ist sie nicht da und wenn man nichts lieber will, als endlich wieder im Bett zu liegen und Serien zu schauen lehnt sie sich zurück und lacht.
Zeit ist etwas wundervolles und ungreifbares und das ist wohl der Grund, warum es so viele Menschen fasziniert. Ich dagegen hatte immer eine gewisse Angst vor ihr. Etwas so schwankhaftes und gleichzeitig so festes konnte wohl nicht für die Ewigkeit gedacht sein und was würde passieren, wenn es sie irgenwann nicht mehr geben würde?
Meine Finger klopften ungeduldig auf das dunkle Holz des Tisches und hinterließen ein klackendes Geräusch. Aus meinen Kopfhörern dröhnte Musik und ich wippte leicht vor und zurück, zum Takt des Basses, der mich jedes mal mitriss. Heute morgen war meine Mutter in mein Zimmer gestürmt und hatte gemeint, ich würde zu viel Zeit im Zimmer verbringen und schleppte mich in Gunnars alten Laden, um ihn aufzuräumen.
Ich glaube sie wollte, dass ich normal bin. Ich denke aber auch, dass ihr normal sich von meinem unterscheidet, denn ich sehe nichts verwerfliches an der Tatsache, dass ich meine Ferien im dunklen Zimmer verbringe und illegal Filme im Internet schaue. Ich komme doch ab und zu sogar runter, um mir ein Eis zu holen. Oder ich setze mich mit dem Computer in den Garten und schreibe.
Doch sie war überzeugt davon, dass mir sämtliches Vitamin D3 fehlte und schleppte mich nach draußen. Nun stand ich also in einem anderen dunklen Zimmer, weil das so viel Sinn machte und fühlte mich erdrückt von den Gegenständen, die überall rumstanden.
In zehn Minuten wäre ich erlöst, hätte meine Mum glücklich gemacht und Gunnar einen Dienst erwiesen, auch wenn es vielleicht zu spät war, weil er vor drei Wochen gestorben war. Jetzt musste ich mir das tägliche Geschnatter von Lewi, seiner Frau und meiner Mum anhören, die darüber spekulierten, wer den Laden aufgekauft hatte. ,,Ich sehe es kommen!", rief sie mir immer zu und Lewi nickte dann immer. ,,Irgendeine Kette die unsere Stadt zerstören wird!"
Ich habe Gunnar immer gemocht, wirklich. Er war ein netter Kerl, der keine große Reden schwang und mich in Verlegenheit stürzte. Doch was mit dem Laden passierte war mir ziemlich egal und ich fand, dass Lewi froh sein sollte, dass noch ein wenig Geld raussprang.
Der Song wechselte in meinem Ohr und die Uhr zeigte mir an, dass es nur noch fünf Minuten bis fünf Uhr waren und weil ich eine selbstständige Frau war, beschloss ich, mich vorzeitig zu entlassen. Der Schlüsselbund klimperte und mit einem Griff hatte ich den richtigen gepackt und steckte ihn in das Schloss, um ihn zweimal umzudrehen. Ich warf einen letzten Blick ins Fenster.
In goldener Schnörkelschrift stand "Antikwarengeschäft" an der Scheibe, was sich an einigen Stellen auflöste und wie Lappen runterhing. Die Scheibe war verstaubt und der Regen gestern Nacht hatte es nicht besser gemacht. Die Sonne blendete mich, als ich hoch in den Himmel schaute. Es war heute wärmer geworden, als die Nachrichten angekündet hatte und ein sicheres Zeichen, dass der Frühling schon längst da war. Unser kleines Dorf Henley war erfüllt mit einer Frische, die man nach dem langen Winter nicht mehr gewöhnt war und die Blumen in jedem Fensterkasten bezeugten, dass die tristlose Zeit nun vorbei war. Ich atmete einmal tief ein.
Henley puhlte sich langsam aus seinem Winterschlaf und ich hatte das Gefühl, dass ich noch nicht erwacht war. In ein paar Wochen würden Ströme von Touristen unser kleines Dorf überfallen und ich konnte nur hoffen, dass bis dahin die neue Staffel meiner Lieblingsserie erschienen war. Ich hatte es nicht so mit Leuten. Ich war lieber alleine, um in keine peinliche Situation zu kommen und ich lernte nicht gerne Leute kennen, die dieses Gesicht hatten. Dieser "Oh-du-kannst-nicht-reden-interessant-" Blick, mit dem du dich ausgeliefert und wie ein Vorstellungsobjekt fühlst. Wenn Leute das nicht checkten und einen als arrogant abstempelte, weil man nicht antworte, hilft auch kein Finger mehr, der auf den Hals zeigte.
Ich hasste es mir solche Blößen zu geben. Meine Mutter konnte zwar die Blindensprache warscheinlich besser beherrschen als ich, trotzdem fand ich es unheimlich demütigend so zu kommunizieren. Deswegen schwieg ich die meiste Zeit, berrufte mich auf Kopfschütteln und hoffte, in Ruhe gelassen zu werden. Wenn ich zu Hause wäre, würde ich mir mein Baby (Erdbeereis) holen, mich ins Bett legen und meinem Hauptberuf, faulenzen, nachgehen.
Meine Mutter müsste noch bei unseren Nachbarn sein und niemand würde mir Vorwürfe machen, dass ich wie ein Penner aussah. Als ich den Marktplatz durchquerte viel mir einmal mehr auf, warum ich es hier so hasste. Jeder kannte jeden. Jeder wusste das ich ein Krüppel war und jeder wusste von meiner Mutter, dass ich es wohl nicht leicht hatte. Das war eine Lüge. Mir ging es so weit gut. Mir ging es nicht super-mega-fantastisch, aber es war in Ordnung. Die einzige, der es beschissener ging, war meine Mutter. Denn sie hatte nicht nur meinen Vater und dann Gunnar verloren, sie hatte auch ihre Tochter verloren.
Noch so etwas mit der Zeit. Bei bestimmten Situationen, bei verschiedensten Handlungen konnte sie plötzlich schneller oder langsamer werden. Als ich jetzt zu Boden ging, wusste ich. dass es in Serien in Zeitlupe dargestellt worden wäre. Ein Geschwirr aus braunen Haaren überall wo ich hinsah verdeckte mir die Sicht auf das, weswegen ich jetzt hier lag und nahm mir die Luft, als es sein Gewicht auf meinen Brustkorb abstütze um hochzukommen. Ich wollte mich zur Seite rollen, aber da war eine Hand. Dann war das Gewicht weg und als ich hochblickte sah ich einen jungen Mann, der mir erschrocken die Hand hinhielt. ,,Es tut mir wirklich sehr leid.", sagte er, als ich sie ergriff. ,,Ich hatte nur eine Sekunde nicht aufgepasst und dann warst da plötzlich du und- alles ok? Hast du dir wehgetan?"
Er sah gut aus, keine Frage. Seine braunen Haare waren verwuschelt, ob es nur von dem Zusammenstoß kam wusste ich nicht und seine Augen glänzten. Ein einfaches Shirt schmückte seinen Körper und seine Armen waren übersäht von Tattoos, die völlig zusammenhanglos und unbedeutsam wirkten. Ich kannte ihn nicht und das war komisch, denn ich kannte jeden.
Ich nickte schnell und mehrmals hintereinander, wollte meinen Weg fortsetzen. Der Mann guckte mir hinterher, als ich ohne ein Wort wegging, drehte sich dann aber auch um. Anscheinend war er genauso in Gedanken wie ich und unwillkürlich fragte ich mich, worüber er sich den Kopf zerbrach. Als ich jedoch meinen Kühlschrank erreichte und glückselig meinen Weg ins Schlafzimmer fortsetze, dachte ich da nicht mehr drüber nach.
Seuftzend ließ ich mich auf mein Bett fallen und stopfte mir gierig die Löffel voller Eis nur so in den Mund. Eine Lichterkette, die um mein Bett gewickelt war, war meine einzigste Lichtquelle und ich genoss einen Moment die Ruhe, die die Dunkelheit mit sich brachte.
Wochen freier Zeit lagen vor mir und ich wusste schon jetzt, dass ich die Zeit damit verbringen werde, nichts zu tun. Mich ins Gras zu legen und den Wolken beim ziehen zuschauen, Musik zu hören, zu schreiben. Tun und lassen zu können was ich möchte und einen Moment hatte ich das Gefühl, frei zu sein. Doch dann fiel mir wieder ein, dass ich in Henley war, wo morgen um sieben Uhr der Hahn schreien wird (Ich hatte tatsächlich einmal versucht, ihn umzubringen. Meine Mutter hatte mich aber bemerkt und meinte dann, Channing Tatum würde mich nicht lieben.) und ich wünschte mir, einmal mehr, raus zu kommen.
Channing hatte mich gelehrt, dass der Mond nie größer als der Daumen war, egal wo ich bin. Ich wollte mich selbst davon überzeugen.
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