Kapitel 1 - Diagnose gefällig?


'Wenn man treu und brav acht Stunden täglich arbeitet, kann man es vielleicht dazu bringen, Chef zu werden und zwölf Stunden täglich arbeiten.' -Robert Frost


Mit einem lauten Seufzen ließ ich mich aufs Sofa fallen.
Sofort versank ich in dem kuschligen Cordstoff und genoss das langsam nachlassende Pulsieren in meinem schmerzenden Rücken. Ich erlaubte mir, für einen kurzen Moment die Augen zu schließen.
Sitzen -  einfach herrlich!

„Hast du wieder Kopfschmerzen?"

Gequält öffnete ich ein Auge wieder und drehte den Kopf zur Seite. Die verschwommenen Konturen meiner besten Freundin tauchten neben mir auf. Ich blinzelte ein paar mal angestrengt, bis Stella gestochen scharf vor mir erschien. 
Misstrauischer Blick, verschränkte Arme, gehobene Brauen.

„Elli?", hakte sie nach. Den Kopf leicht schiefgelegt, sodass ihr das blonde Pony ins linke Auge fiel, sah sie mich mit ihrem Sorgen-Blick an. So hatte ich ihn getauft, wann immer sie mich ansah wie einen ihrer schwerkranken Patienten.

"Mir geht's gut", antwortete ich knapp und setzte mich auf.
Das war zwar mehr als übertrieben, aber ich wollte ihr keine Sorgen bereiten. Schließlich ging es mir ja gut... irgendwie.

Stella richtete sich ebenfalls auf und strich einige Kekskrümel von ihrem pinken Oversize-Shirt. Sie hatte den Abend wieder einmal mit leckeren Snacks vor dem Fernseher verbracht, während ich meine Spätschicht beim Italiener gegenüber geschoben hatte. 

Ich gab mir alle Mühe, die leise Eifersucht in mir zu verdrängen. Stella arbeitete schließlich genauso hart wie ich und es war eindeutig meine Schuld, dass ich nie Nein zu Guiseppe sagen konnte, wenn er mich mal wieder für eine Spätschicht eintragen wollte.

„Ist dein Nacken wieder steif? Du hältst den Kopf so schief. Dein Rücken macht auch Probleme, nehme ich an", begann Stella ihre ungebetene Diagnostik. Ich wollte schon den Kopf schütteln, doch der stechende Schmerz in meinem Nacken strafte mich Lügen. 

„Ich bin einfach nur erschöpft", brummte ich und ließ mich nun doch wieder in die Kissen fallen. „Hab den ganzen Vormittag in der Bib gesessen und Genetik nachgearbeitet. Und im Delizioso war heute Abend mal wieder die Hölle los." 

„Erschöpft, ja?", wiederholte Stella meine Worte. Auf ihrer zarten Stirn bildeten sich tiefe Falten. „Wie schläfst du denn inzwischen so?"

Langsam kam ich mir vor wie in einem Verhör. 

„Hör mal Stella, ich bin keine deiner Probandinnen, denen du irgendwelche Krankheiten zuordnen sollst!", fuhr ich sie an, doch Stella blieb unbeeindruckt.

„Schlafprobleme? Albträume?", setzte sie unbeirrt fort. 

Ich schwieg. Ich sah keinen Grund zuzugeben, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. Stella seufzte. Ihre Miene wurde weicher und sie streckte ihre Hand nach meiner aus.

„Hör mal, warst du mal bei einem Arzt deswegen? Elisa, bitte. Das geht schon seit Monaten so und wird immer schlimmer. Ich komme in den letzten Wochen kaum noch an dich ran. Ich mache mir doch nur Sorgen." Ihre Hand drückte meine fester.

Stöhnend gab ich mein Schweigen auf. „Wieso sollte ich zum Arzt? Das ist ein wenig Stress wegen des Abschlusssemesters", murmelte ich. Beim Gedanken daran wurde mir gleich wieder schlecht. Ich musste mich dringend nochmal an Genetik setzen!

„Elli, ich liebe dich wirklich sehr und ich finde, du solltest dich mal durchchecken lassen. Du leidest jeden Abend leise vor dich hin. Ich vermute einfach, du könntest kurz vor einem..."

„Lass es!", unterbrach ich sie abrupt. Schon seit Ewigkeiten lag sie mir damit in den Ohren. „Hör auf mich zu diagnostizieren, ich hab es dir oft genug gesagt! Du bist Studentin im vierten Semester, keine Ärztin!"

Ich stand auf, musste mich jedoch gleich wieder setzen. Pünktchen tanzten vor meinen Augen und mein Körper war nicht erfreut über diese ruckartige Bewegung. Als ich wieder klar sehen konnte, blickte Stella mir mit hochgezogenen Brauen entgegen. 

„Bitte", flehte sie leise, „Ich mache mir doch nur Sorgen um dich, meine Kleine."

Ich schnaubte. Stella war genau einen Tag vor mir geboren, unserer Mütter hatten sich noch hochschwanger auf der Entbindungsstation kennengelernt. Trotzdem verhielt sie sich seit jeher wie meine große Schwester. Was ich nur gutheißen konnte, da ich keine Geschwister hatte. Dafür hatte ich eine esoterische Mutter und einen Vater, den ich kaum mehr zu Gesicht bekommen hatte, nachdem er meine Mutter in einen Abgrund gestürzt hatte, um mit seiner Sekretärin einen Neuanfang zu starten. Ich war gerade einmal 7 gewesen, als Mama tränenüberströmt in mein Kinderzimmer gekommen war. Von da an war die unbeschwerte Kindheit vorbei gewesen.

„Soll ich dich begleiten?", riss Stella mich aus meinen Gedanken. „Wir können gleich morgen zu Doktor Brückner gehen. Vor meinem Unterricht! Sie nimmt sich ganz sicher Zeit für dich." 

„Okay", murmelte ich mein Einverständnis. Wenn Stella dann endlich Ruhe gab, würde ich diesen Termin schon über mich ergehen lassen können. 

„Können wir jetzt bitte über etwas anderes reden? Oder einfach nur Netflix bingen?", bettelte ich. 

Zufrieden ließ sich meine beste Freundin neben mir in die Kissen sinken und drückte an der Fernbedienung auf Play. Sofort flackerten Damon und Elena aus The Vampire Diaries über den Bildschirm. Doch noch bevor ich erkennen konnte, in welcher Folge Stella mittlerweile angekommen war, fielen mir die Augen zu.

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