RAUM 8

╝ RAUM 8 ╔
❝Die Gesichter der Toten❞

MIT EINEM ZISCHEN durchdrang Roes Körper das flimmernde Feld. Einst war das die gläserne Decke des alten Raumes gewesen. Kaum war jede Faser ihres selbst über der durchsichtigen Fläche, fand sie darauf Halt. Violette Lichtströme durchzuckten sie, als sie ihre Hände reflexartig darauf abstützte. Sie beugte sich atemlos vor und ihre Augen weiteten sich. Sean kletterte die letzten Sprossen hoch und setzte gerade dazu an, durch das Kraftfeld zu springen.

Eilig krabbelte Roe auf die Seite, um ihn nicht zu blockieren. Sie war nicht schnell genug - die Wände im letzten Raum rückten gefährlich nahe zusammen. Das Glas links und rechts von Sean drohte ihn einzuquetschen. Er war gezwungen, seinen Körper seitlich zu halten. Nur knapp entkam er der verhängnisvollen Situation. Er sprang gen Decke und ergriff die oberen Kanten. Kraftvoll zog er sich hinauf, was Roe nicht kommen sah. Durch seinen Schwung durchdrang er das flimmernde Feld binnen Zehntelsekunden und landete auf ihr. 

Roe keuchte auf, als er sie unter sich begrub. Mit einem lauten Knall schloss sich der letzte Spalt und ließ den milchweißen Boden erbeben. Sie rollte sich auf den Rücken, als Sean sich hustend entschuldigte und sich schwerfällig mit seinen Händen links und rechts von ihr abstützte. Seine Erschöpfung verlangsamte die Bewegung, worauf Roe nicht gefasst war. Eilig wollte sie ihren Oberkörper aufrichten. Beinahe stieß sie ihren Kopf an Sean an und konnte nur im letzten Moment zurückweichen. Er wandte sich ihr daraufhin zu. Als er ihr plötzlich in die Augen sah, wurde ihr bewusst, wie nahe sie sich gerade waren. 

Vorher wäre sie vor Verlegenheit rot geworden, doch jetzt, wo er sie mit einer unverschämten Direktheit ansah, war sie von seinem Blick gefesselt. Sie vergaß alles um sich herum. Einmal mehr schoss ihr durch den Kopf, dass sie diese Augen kannte. Sein Anblick war so vertraut, was ihr die Sprache verschlug. 

Sie hätte nie genug von seinen warmen, dunkelgrünen Augen bekommen können, wenn er nicht plötzlich weggesehen hätte. Rasch brachte er Abstand zwischen sich und Roe, während er skeptisch zur Seite sah. So etwas wie Sorge spiegelte sich in seinem Gesicht wider. Sie hätte zu gerne gewusst, was er gerade dachte. Er hatte gesagt, dass er sie auch kennen würde. Dass er nicht wüsste, woher. Am liebsten würde sie ihn an der Schulter greifen und einfach fragen. Sie verfluchte ihren erstarrten Körper, der ihren Befehlen nicht gehorchte.

"Entschuldigung", murmelte Sean, als er aufgestanden war. Langsam beruhigte sich Roes Herz und sie richtete sich auf. Ihren Blick hielt sie gesenkt, als sie auf die Beine kam. Sie glättete mit ihren Händen ihr Gewand und sah sich zum ersten Mal in dem Raum um. Bisher hatte Sean ihre Gedanken voll und ganz ausgefüllt.

Fran hatte von all dem nichts gemerkt. Sie stand mit den Rücken zu ihnen und schien etwas gebannt anzustarren. Roe erhaschte nur einen Blick auf ihre wirren Locken, doch ihre angespannte Körperhaltung ließ sie hellhörig werden. Schnell fokussierte sie das, was vor Fran lag und stockte vor Entsetzen.

Alle Leute - bis auf vermutlich eine Person -, standen oder kauerten in der anderen Hälfte des Raumes. Die meisten atmeten heftig und zitterten am ganzen Leib. In der Mitte hockte Molly. In sich zusammengesunken strich sie mit ihrer bebenden Hand eine rote Linie am Boden entlang. Ihr Schädel war nach vorne gebeugt, sodass die Haare ihr Gesicht verdeckten. Ihre gekrümmte Haltung ließ Roe zuerst glauben, sie wäre verletzt. Sie war nur minimal erleichtert, als Molly ihren Kopf anhob und sie registrierte, dass es ihr körperlich soweit gut ging.

"Ich habe jemanden schreien hören", flüsterte sie heiser, sodass Roe nur Wortfetzten verstand. Ihre Hand strich wieder und wieder über die dunkelrote Linie am Boden. Schockiert stellte sie fest, dass es sich dabei um den Spalt handelte, zwischen dem sich Roe hätte befinden können, wenn sie nicht schnell genug gewesen wäre. Eingequetscht von zwei massiven, todbringenden Glaswänden. "Aber ich kann mich an das Gesicht nicht erinnern", sprach Molly. 

Jemand sog kopfschüttelnd die Luft ein - Pluto. "Glück gehabt", meinte er zynisch und deutete mit einem Nicken auf Sean. "Das hätte auch dein Schicksal sein können." Er ließ seine Hände in die Hosentaschen wandern und ließ seinen Blick wieder zum roten Spalt wandern. Jeder starrte den hauchdünnen Strich an. Jeder. Als würde er die neugierigen und schockierten Augenpaare wie ein Schwamm aufsaugen wollen. Die Farbe wurde intensiver. Immer mehr Flüssigkeit tauchte aus dem Untergrund auf.

Sean schluckte schwer und ging näher auf die Menschenmasse zu. Pluto hatte recht - er war dem Tod nur knapp entkommen. Fran blieb an derselben Stelle stehen und schlug sich stumm die Hände vor den Mund. 

"Habe jemanden schreien hören. Kann mich an das Gesicht nicht erinnern", wiederholte Molly verzweifelt und ließ ihre flache Hand in die rote Lache gleiten. "Habe jemanden schreien hören, kann mich nicht an das Gesicht erinnern", sagte sie immer wieder mit entgleisten Gesichtszügen. Abwechselnd betrachtete sie ihre dunkel eingefärbte Handfläche und den Spalt. Roe sah, wie Caesar im Hintergrund stand und kreidebleich das Szenario beobachtete. Ohne einzugreifen. Ohne etwas Beruhigendes zu sagen.

"Jemanden schreien hören! Gesicht nicht erinnern!", rief sie immer und immer wieder. Ihre Lippen überschlugen sich. Wörter schienen sich überlagern zu wollen. Blanker Wahnsinn spiegelte sich in ihrem geröteten Gesicht wider. Ihre verzweifelten Klagen wurden lauter und panischer. Als sie zu schreien und unruhig zu hecheln begann, sah Roe aus dem Augenwinkel jemanden auf sie zulaufen. Eine junge Frau mit langen schwarzen Haaren lief zu ihr und ergriff ihren Oberarm. Molly ließ sich nicht widerstandslos wegziehen.

"Schreien! Gesicht! Schreien! Gesicht!", schrie sie sich die Seele aus dem Leib. Die junge Frau mit dem schwarzen Pony zerrte sie zur Seite und sprach beruhigend auf sie ein. Molly hinterließ rote Fußabdrücke. Die Flüssigkeit sprudelte nur so aus dem Spalt. Mittlerweile hatte sich ein kleiner See gebildet, der sich stetig ausbreitete. Um nicht hineinzutreten, wichen die Leute angeekelt zurück.

"Wir kennen das Gesicht auch nicht", sprach die Frau eindringlich auf die herumzappelnde Molly ein. Sie hielt ihre Handgelenke fest und suchte entschlossen Blickkontakt zu ihr. "Aber das ändert nichts daran, dass dieses Gesicht einmal ein Leben hatte. Nur, weil du es nicht kennst, verschwindet das Gesicht nicht." Mollys Versuche, sich loszureißen, wurden schwächer. Ihre hektische Atmung wurde von heftigen Schluchzern abgelöst. Gebannt starrte sie die Frau an, während sich ihre Augen mit Tränen füllten.

"Das Gesicht war da und wird immer da sein. So wie deines und meines. Unabhängig von uns hatte diese Person ein Leben. Dieses Chaos hat es in Anspruch genommen, aber fühle dich nie, nie verloren. Du bist hier. Jeder ist hier. Wir existieren. " Sie hielt Molly an beiden Oberarmen fest, da sie drohte zusammenzubrechen. "Denn auslöschen kann das Chaos nichts, wenn es schon existiert hat."

Die Lacke wurde immer größer und der metallische Geruch erreichte Roe. Sie rümpfte ihre Nase und riss sich aus der Starre los. Sie ließ den sich ausbreitenden Fleck nicht aus den Augen, als sie eilig auf die anderen zuging. Sean und Fran folgten ihr, während sie einen großen Bogen um den dunkelroten See machten.

"Ich halte das nicht mehr aus, ich halte das nicht mehr aus", weinte Molly und vergrub sich kraftlos in den Schultern der jungen Frau. Roe huschte an ihnen vorbei und fixierte die Wand hinter den Leuten. Während sie darauf zuging, verwandelte sie sich wie auf Knopfdruck in das flimmernde Feld. 

Der Raum verdunkelte sich schlagartig und Roe hielt inne. Sean rannte in sie hinein und sie spürte seine starken Hände auf ihren Schultern. Ein Schrei hallte durch den Raum. Das Licht ging wieder an. 

"Weg! Verschwunden! Dort!", schrie Molly herzzerreißend und zeigte auf eine Stelle auf dem Boden, die leer war. Vermutlich hatte gerade eben noch jemand dort gestanden. "Sie hatte recht, sie hatte recht!" Die Frau versucht sie zu beruhigen, während sie sie dazu überredete, in Richtung des nächsten Raums zu gehen.

Roe sog scharf die Luft ein und biss sich auf die Lippe. Rasch suchte sie die Ziffern, bevor sie durch das unsichtbare Feld ging. Sean ging dicht hinter ihr.

"So viel Tod!", jammerte Molly. "So viel Chaos und Tod!"

┘┌ฬ23┘┌

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