RAUM 23

╝ RAUM 23 ╔
❝Drei Wörter❞

WÄHREND ROE UND Sean Hand in Hand in ihr persönliches Schlachthaus - Raum 23 -, hineinschlenderten, versuchte sie die Zufriedenheit gewaltsam festzuhalten. Sie sog die positiven Emotionen wie ein Schwamm auf und behielt sie krampfhaft in sich. Sie waren wie ein tiefer Atemzug; man konnte nicht für immer die Luft anhalten. Früher oder später musste man ausatmen.

Trotzdem hatte Sean recht. Das unwohle Gefühl war mit Todesängsten nicht vergleichbar. Wenn sie sich an die panischen Gesichter der Sterbenden erinnerte, verspürte sie Scham. Sie schämte sich dafür, dass sie nicht das gleiche empfand.

Andererseits spielte das keine Rolle mehr. Sie war so gut wie tot. Es war belanglos, was sie in der Vergangenheit erlebt hatte und welche Gedanken sie vor ihrem letzten Atemzug zu Ende dachte. Thalia und Molly würden diese Aussage vermutlich heftig kritisieren, wenn sie noch leben würden. Das war ihr glasklar.

Roe befreite sich aus Seans Griff und lief betäubt auf die Wand zu. Während sie ihre gespiegelte Gestalt anstarrte, streckte sie eine Hand aus und ließ sie über die kühle Scheibe gleiten. Ihre Reflexion hing wie ein Schatten über ihr Dasein. In wenigen Augenblicken würden ihr Körper und der Schemen bersten wie die zerbrechlichen Glaswände.

Wenn sie ihr Leben Revue passieren ließ, kam keine Freude in ihr auf. Doch wenn sie daran dachte, dass Sean überleben würde, durchfluteten Glückshormone ihren Körper. In der spiegelnden Wand sah sie, wie Sean weiter in den Raum hineinging. Er hatte seinen Kopf gesenkt und fuhr sich mit seinen Händen durch die Haare.

Roe drehte sich zu ihm und ließ ihre Schultern fallen. Es war logisch. Sie war der kaputte Mensch und Sean war der perfekte Mensch. Er verdiente den Himmel auf Erden. Tief in ihrem Inneren wusste sie von Anfang an, dass er der am wenigsten verdorbene von den vierundzwanzig Leuten war. Es störte sie nicht mehr, dass sie bald sterben würde. Sean würde überleben und das zählte. Sie versuchte sich über diesen Gedanken mehr zu freuen und tatsächlich konnte sie das mulmige Gefühl in ihrem Bauch verdrängen.

Ihre Beine setzten sich in Bewegung und steuerten auf die Mitte des Raumes zu. Sean war dort stehengeblieben und blickte gedankenverloren durch die Gegend. Er verdiente nicht nur das Leben, sondern auch ihre Ehrlichkeit. Sie war das Einzige, das Roe ihm noch schuldete. Dass sie ihn am liebsten auf die Sache mit den Zetteln ansprechen wollte, versuchte sie zu verdrängen. Es konnte ihn töten, wenn es um die Information ging, welche die Stimme ihm gesagt hatte. Das war das Letzte, was sie erreichen wollte.

"Roe?" Als hätte er ihre vorigen Gedankenfetzen aufgeschnappt und gemerkt, wie knapp die Zeit wurde, sah er sie ernst an. Tiefe Sorgenfalten bildeten sich auf seiner Stirn und er fuhr sich zum wiederholten Male nervös durch die Haare. "Da gibt es etwas, das ich dir sagen muss."

Überrascht kam Roe einige Schritte näher. Skeptisch betrachtete sie ihn und überlegte fieberhaft, was er ihr offenbaren könnte. "Was gibt es denn?"

"Ich muss dir die Information sagen, die mir die Stimme mitgeteilt hat", sprach Sean. Mit festem Blick sah er ihr entgegen. Roe durchfuhr ein eisiger Schock wie ein Pistolenschuss.

"Was?", flüsterte Roe heiser. "Nein, das tust du nicht. Das kannst du nicht tun." Sie begann heftig ihren Kopf zu schütteln. Sie versuchte zu erfassen, was er gerade von sich gegeben hatte, doch es war unmöglich. Sie musste sich verhört haben. Sie verstand die Welt nicht mehr. Er wollte die Information verlautbaren, was einem Selbstmord gleichkam. Wieso tat er das? Ihr wurde schlecht und ihr Kopf pochte schmerzhaft. Es war zu viel. Er durfte das nicht tun.

"Roe, bitte lass mich doch zuerst ausreden", verlangte Sean und streckte bestürzt eine Hand aus, nachdem sie zurückwich und ihn fassungslos anstarrte, als könnte er ihr jeden Moment etwas antun. Seine Augenbrauen waren besorgt zusammengezogen.

"Nein, ich will das nicht hören. Das kannst du nicht machen. Ich will das nicht", stammelte sie und schüttelte ihren Kopf. Mit jedem Wort, das aus ihrer Kehle trat und ihren Hals vergiftete, wurde ihr schlechter. Jede einzelne Zelle in ihrem Körper verkrampfte sich. Je öfter sie schluckte desto mehr Tränen sammelten sich in ihren Augen.

"Bitte, Roe", flehte Sean und kam direkt auf sie zu. Er wollte den Blickkontakt verzweifelt halten, doch sie riss ihren Kopf zur Seite. Es war, als wäre ein eisiger Pfahl mitten in ihre Brust geschlagen worden. Je näher er kam und je öfter er seinen Mund öffnete, um sein Todesurteil aussprechen zu können, desto kälter wurde ihr. Sie fröstelte und wollte ihn wegstoßen, doch er schnappte ihre Handgelenke. Entschlossen sah er sie an. "Hör zu. Bitte. Hör einfach zu und vertrau mir."

Die Kälte hatte sich von ihrer Körpermitte ausgehend ausgebreitet und zog sich in Form von feinen Adern durch ihre Arme und Beine. Sie glaubte ihr Inneres zu Eis erstarren zu hören, so still war es plötzlich. Nur ihr Atem hallte in ihren Ohren wider. Sie stand wie eine Statue da. Sie war am Boden festgefroren.

"Ich bringe mich nicht um", flüsterte Sean langsam und eindringlich. Seine Augen wanderten aufgeregt von einem Punkt zum anderen, bevor sie wieder direkt in ihr Tor zur Seele sahen. Ihr vereistes Herz begann aufzutauen und wärmte ihre Brust.

"Bitte hör mir zu. Bis zum Ende", verlangte er und atmete tief ein und aus. Der Griff um ihre Hände wurde lockerer, doch er ließ nicht los. "Die Stimme hat mir erlaubt, es dir zu sagen."

"Was?", fragte Roe mit brüchiger Stimme. Sean kniff kurz seine Augen zusammen, bevor er sie wieder fokussierte.

"Ja. Weil es dich betrifft, Roe." Sean schluckte schwer und machte eine Pause. Die Sekunden zogen sich schmerzhaft in die Länge. "Die Stimme hat mir versprochen, dass du überlebst. Das heißt, dass ich in Raum 23 sterbe. Dass ich jetzt sterbe. Das hat mir die Stimme bereits in Raum 1 gesagt."

Die Worte waren wie ein Schlag in ihr Gesicht. Schockiert starrte sie Sean an. Sie fühlte sich unfähig dazu, etwas mit dieser Information anzufangen. Sie wollte das nicht gehört haben. Ihre Ohren mussten ihr einen Streich spielen. Sie hörte einen schmerzhaften hohen Ton, der einen Knoten in ihrem Kopf erzeugte. Die Verwirrung war unerträglich.

"Nein", brachte Roe hervor. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht zu würgen. Sie glaubte das alles nicht und ekelte sich vor dem Gedanken, dass es wahr sein könnte.

"Doch Roe. Und ich habe dich angelogen, als ich gesagt habe, dass ich dich nicht kennen würde", sprudelte es aus ihm regelrecht heraus. "Ich kenne dich. Unsere Begegnung ist mir nie aus dem Kopf gegangen. Es hat einen guten Grund, warum ich dir so bekannt vorkomme." Er lächelte traurig in sich hinein.

"Als sich unsere Wege gekreuzt haben und unsere Geschichte begann, warst du gerade dabei, deine eigene Geschichte zu beenden. Ich habe dich getroffen, als du einen Selbstmordversuch gewagt hast. Ich konnte dich noch rechtzeitig in ein Krankenhaus bringen. Wenn ich nur wenige Augenblicke zu spät gekommen wäre, hättest du es nicht geschafft. Du hast unglaublich viel Blut verloren." Er schluckte und sah bedrückt zu Boden. Roe schüttelte entsetzt den Kopf. Sie wollte etwas sagen, doch ihr Kopf war leer.

"Ich wollte dich sehen, aber sie haben mich nicht zu dir gelassen. Sie konnten auch nicht deinen Namen nennen. Ich musste damals aus der Stadt, aber ich schwor mir, so schnell wie möglich zurückzukehren. Doch als ich das nächste Mal in dem Krankenhaus war, bist du nicht mehr hier gewesen. Ich begann dich an allen möglichen Orten zu suchen, doch ich fand dich nicht. Bis der Tag kam, an dem ich in diesem verdammten Raum hier aufgewacht bin."

Roe schüttelte heftig ihren Kopf. Sie konnte das nicht glauben. Alles in ihr schrie und blutete. Ein Sog zerrte sie in die Untiefen ihrer Erinnerungen. Die vergessenen und verdrängten Inhalte tauchten vor ihrem inneren Auge auf. Sie wollte wegsehen und die Gedanken abschütteln, doch sie schlichen sich in ihr Gedächtnis ein. Sie infizierten ihren Verstand und nagten sich daran fest, sodass Roe sich kräftig auf die Lippe beißen musste, um nicht laut aufzuschreien. Sie wollte um sich schlagen, doch ihr Handgelenk wurde von Sean noch immer festgehalten.

Ihr verzweifelter Blick wanderte zurück zu ihm und blieb bei seinen grünen Augen hängen. Ihr Kopf schmerzte unendlich. Ein Blitz durchfuhr sie und plötzlich erinnerte sie sich besser denn je an sein Gesicht. Sie hatte ihn tatsächlich schon einmal gesehen. Damals, in jener Nacht. Wie hätte sie auch seine leuchtenden Augen vergessen können, die tausend Worte sprachen. Grün stand für Hoffnung. Die Augen waren der wahre Grund gewesen, warum sie noch lebte. Sie hatten Roe unbewusst dazu überredet weiterzukämpfen. Sie hatten sie dazu überredet weiterzuleben. Besonders hier in diesen Räumen halfen ihr seine strahlenden Augen, das alles durchzustehen. Sie waren ihre Urenergiequelle seit ihrem Suizidversuch. Aus ihnen hatte sie die Kraft geschöpft, um sich mit dem Rätsel zu befassen und die Nerven zu bewahren.

Als ihr all das bewusst wurde, brach etwas in ihr und überschwemmte sie mit Emotionen. Etwas, das sie eine sehr lange Zeit zurückgehalten hatte. Ein Schluchzer nach dem anderen überrollte sie. Ihr Körper begann unter der Last ihrer Vergangenheit zu zittern. Unzählige Tränen kullerten über ihr Gesicht und hinterließen brennende Spuren. Seans grünen Augen glänzten und er schien zu merken, dass sie sich nicht mehr halten konnte. Bevor sie zusammenbrechen konnte, schlang er seine Arme um sie und drückte sie an sich. Sie begann noch heftiger zu weinen. Je näher sie ihm war desto mehr musste sie daran denken, dass er in wenigen Momenten für immer weg sein würde.

"Du erinnerst dich jetzt wieder an mich, was?", hauchte Sean und strich sanft über ihren Rücken. Seine Stimme war wie eine weiche Welle an ihrem Ohr. Sie verzichtete es zu antworten. Sie konnte es sowieso nicht. Sie brachte nichts mehr heraus.

"Aber erinnerst du dich noch daran, wie du mich gefragt hast, was ich in Raum 11 bei der Feuerprobe gesehen habe?", fragte er leise. Roe schluckte, als neue Tränen in ihre Augen traten und sie verätzten. "Ich habe dich dort sterben sehen und das hat mir schrecklich wehgetan. Immerhin hat mir die Stimme fest versprochen, dass du überlebst."

Mit einem Mal schnappte Roe nach Luft und verschluckte sich. Sie befreite sich ungeschickt aus seinem Griff und brachte Abstand zwischen sich und ihn. Entsetzt sah sie ihn an, als sie all das zu begreifen versuchte. Die Stimme. Die Stimme hatte Sean versprochen, dass sie überlebte. Dass er starb. Er würde sterben und sie würde leben. Nicht umgekehrt. Doch umgekehrt hätte es sein müssen.

Es passte nicht in das Ganze hinein. Nach wie vor ergab es keinen Sinn. Nach wie vor blockierte ein monströser Knoten in ihrem Hirn ihr Denkvermögen. Sie konzentrierte sich. Wie sie es in den letzten Räumen schon getan hatte. Sie versuchte ihren zitternden, unregelmäßigen Atem und ihre wackeligen Beine unter Kontrolle zu bekommen. Die stetig über ihre Wangen laufenden Tränen konnte sie nicht aufhalten. Trotzdem suchte sie durch die Heftigkeit der Gefühle hindurch einen Funken rationaler Gedanken zu finden.

Adrenalin schoss in ihre Adern und sie taumelte zurück, bis sie die kühle Glaswand an ihrem Rücken spürte. Sean beäugte sie mit fest zusammengepressten Lippen. Ihr Atem ging schneller und ihr Herz schlug schmerzhaft laut. Der metallische Geschmack von Blut benebelte ihre Sinne und verhinderte, dass sie klar denken konnte. Ihr wurde eng um die Brust. Sie fasste sich an den Kopf und drückte fest dagegen, in der Hoffnung, sie könnte etwas verbessern. Doch sie bewirkte nichts. Die dröhnenden Schmerzen trieben ihr nur noch mehr Tränen in die Augen. Erneut entfuhren ihr Schluchzer.

"Gott, das kann alles nicht wahr sein", brachte sie atemlos hervor. Sie presste ihre Augen zusammen und rutschte kraftlos an der Wand herunter. "Das kann nicht wahr sein. Ich verstehe das nicht. Das ergibt keinen Sinn. Ich glaube das alles nicht." Sean löste sich doch aus seiner Starre und kam auf sie zu.

"Was ist zum Beispiel mit dem Zettel, den du mir geschrieben hast?", fragte sie mit zitternder Stimme. Er hockte sich behutsam hin und ließ sie nicht aus den Augen. Trotz Roes Hektik und der Panik, die sich in ihr breit machte, blieb er ruhig und ließ sich Zeit.

"Der Zettel aus Raum 12? Aber Roe, ich habe dir nie meinen Zettel gegeben", sagte er verwirrt und zwang sich zu einem Lächeln. Roe verlor mit jedem Moment mehr vom letzten bisschen ihrer Geduld. Ihre Schultern bebten.

"Was? Wie kann das sein? Von wem ist dann dieser verdammte Zettel, wenn er nicht von dir ist?", fragte Roe verzweifelt. "Gott, ich verstehe das alles nicht. Ich habe ihn doch sogar bei mir. Ich kann es beweisen." Ihre zitternden Hände wollten zu ihrer Hosentasche wandern, doch Sean ergriff ihre schwachen Finger. Er hielt sie umschlossen und die Wärme schenkte ihr einen schwachen Trost.

"Du musst nichts beweisen. Aber ich werde dir meinen Zettel geben", schlug er vor und seine grünen Augen leuchteten etwas mehr. Sein Blick voller Hoffnung brach Roe das Herz. "Schau", sagte er leise und deutete auf ein makelloses Blatt, das sauber in der Hälfte gefaltet war. Er wollte es ihr geben, doch die Tatsache, dass er recht hatte und sie die ganze Zeit über falsch gelegen hatte, warf sie derart aus der Bahn, dass sie nur den Kopf schüttelte. Sie konnte den Zettel nicht annehmen. Sie stieß seine Hand mit dem Papier weg und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Fest kniff sie ihr Kiefer zusammen, damit ihr Schmerz nicht in Form eines Schreies aus ihrem Hals entfliehen konnte.

"Weißt du, ich habe mich auf diesen vorletzten Raum unfassbar gefreut. Es ist der Raum, in dem mir die Stimme endlich erlaubt, die drei Worte zu sagen, die mir seit dem ersten Raum nicht mehr aus dem Kopf gehen. Dass ich etwas hatte, worauf ich mich freuen konnte, hat mir unheimlich viel Kraft gegeben", gab er zu. Er seufzte schwer.

Roe konnte ihr Schluchzen kaum mehr kontrollieren. Das alles zu hören, ließ sie durchdrehen. Mit dieser Wendung konnte sie nicht leben. Er sollte leben. Er hatte ein reines Herz und verdiente es. Es war so unfair. Sie wollte mit ihm Platz tauschen und seine Rolle übernehmen, doch sie hatte keine Kontrolle. Der Tod machte, was er wollte. Zum zweiten Mal hatte dieser sie gestreift, aber nicht abgeholt. Der Zeitpunkt passte sogar besser als beim ersten Mal. Doch was konnte sie noch tun? Was konnte sie noch ändern? Nichts. Sie griff sich an den Kopf und krallte ihre Fingernägel in ihre Haut.

"Roe", sagte Sean und befreite ihre Hände aus ihren Haaren. Kraftlos sah sie ihn an. Ihre Augen brannten so sehr, dass sie sie kaum noch offenhalten konnte. Trotzdem erkannte sie das alles durchdringende Grün um seine verengten Pupillen herum. Sie erkannte, wie sehr er unter all dem litt. Seine Miene war der Inbegriff der Besorgnis und er war unglaublich angespannt. Er legte den Kopf schief und musterte sie. "Ich muss dir das noch unbedingt sagen."

Ein ohrenbetäubender Knall ließ Roe zusammenzucken. Ihr Herz machte einen Satz, als das grässliche Geräusch die Stille durchbrach. Erschrocken wich Sean zurück. Schockiert legte er seinen Kopf in den Nacken. Seine Pupillen waren geweitet. Sie konnte es ihm nicht nachmachen, da sie nicht fähig war, sich von der Stelle zu rühren. Sie wollte nicht nach oben blicken. Die Panik in Seans Augen verhieß nichts Gutes.

Ein Knirschen setzte ein und ihre Nackenhaare stellten sich auf. Glas rieb auf Glas und verursachte ein Kratzen, das geradewegs aus der Hölle kommen musste. Verängstigt starrte sie Sean an, der die Decke beobachtete, als konnte sie ihm auf den Kopf fallen. Ein Spiegel stürzte herab und trennte sie von ihm. Mit einem dumpfen Knall donnerte er auf den Boden und erzeugte ein Beben.

Roe schreckte ein weiteres Mal hoch und zwinkerte panisch, da sie Sean nicht mehr sehen konnte. Er war auf der anderen Seite. Statt ihm sah ihr das Spiegelbild einer verstörten jungen Frau entgegen, die wie ein scheues Tier schwer atmend in der Ecke kauerte. Lose Haarsträhnen klebten in Roes rot geflecktem Gesicht. Sie robbte sich mit aller Kraft zum Spiegel und klopfte wie wild dagegen.

Sie wollte schreien und brüllen, doch es kam nur ein heiserer Laut aus ihrer Kehle. Frustriert warf sie ihre Arme gegen den gläsernen Spiegel. Mit voller Wucht schlug sie darauf ein. Ihre trockene Haut platzte auf und sie begann zu bluten, doch ihre Glieder waren wie betäubt. Das Glas knirschte unter ihrer Gewalteinwirkung. Feine Linien durchzogen den Spiegel. Mit jedem Schlag bebte die Wand und scharfkantige Splitter sprangen heraus. Klirrend landeten sie auf dem gläsernen Boden.

Sie wollte ihre Reflexion nicht sehen. Sie ekelte sich vor ihrer elenden Gestalt. Ihre letzte Kraft schöpfte sie aus dem Hass, den sie sich selbst gegenüber empfand. Mit einem schmerzerfüllten Krächzen zerschlug sie den Spiegel. Quietschend und ächzend gab er nach und zerberste schlagartig in tausend Teilchen. Roe erhaschte einen kurzen Blick auf die andere Seite der symbolischen Trennlinie, doch Sean war weit und breit nicht zu sehen. Er war weg. Im nächsten Moment regnete die Unzahl an Splitter auf sie herab. Reflexartig zog sie den Kopf ein und umklammerte ihn mit ihren Händen. Um sie herum krachten plötzlich riesige Trümmer des Spiegels zu Boden und erzeugten einen Tumult, der sie beinahe taub werden ließ.

Als es still wurde, blieb ein hoher Ton in ihren Ohren übrig. Stetig wurde er leiser, sodass sie ihr armseliges Schluchzen erst spät bemerkte. Sie wiegte sich hin und her, doch den Schmerz und Ekel konnte sie nicht abschütteln. Mit einem Schniefen hob sie ihren Kopf an und öffnete ihre Augen einen Spalt breit. Stumm betrachtete sie die staubige Luft. Die feinen Partikel glitzerten verräterisch und legten sich vermutlich in ihrer Lunge ab, wo sie Schaden anrichten konnten.

Der gefallene Spiegel hatte nicht nur Glasstaub aufgewirbelt, sondern auch Seans Zettel in die Lüfte befördert. Wie ein Vogel flatterte er direkt über ihrem Kopf umher, bis er herabsegelte und vor ihren Füßen landete. Roe streckte einen zitternden Arm aus und schnappte sich das Blatt. Es war makellos. Es hatte nichts von dem Chaos rundherum abbekommen. Ihre von blutroten Striemen durchzogene Hand färbte das Papier. Beschmutzte es. Ungeschickt falteten ihre Finger den Zettel auseinander.

Als das geöffnete Blatt in ihren Händen lag, begann sie noch stärker zu zittern. Sie konnte die drei Wörter nur kurz lesen, da nach wenigen Sekunden ihre unruhigen Bewegungen zu heftig wurden. Die Buchstaben verschwommen vor ihren Augen. Dass diese wieder anfingen zu tränen, schränkte ihre Sicht noch weiter ein. Doch ein Blick hatte ihr gereicht. Die drei Worte, die er ihr nicht mehr sagen konnte, waren ganz anders geschrieben, als es bei Wolvies Zettel der Fall gewesen war. Während Letzterer eine chaotische Schrift hatte, als hätte er die Nachricht in aller Eile verfasst, strahlte Seans Blatt unendliche Ruhe aus.

Es war, als hätte er sich alle Zeit der Welt gelassen, um diese drei Wörtchen zu Papier zu bringen. Als hätte er seine ganze Mühe hineingesteckt. Behutsam strich sie mit ihren Fingern über den Zettel, doch sie beschmierte ihn mit noch mehr Blut. Sie konnte sich noch genau an die 12 erinnern. Sie hatte beobachtet, wie Sean sich das frische Blatt genommen und es Stück für Stück, Buchstabe für Buchstabe beschrieben hatte. Sie hatte beobachtet, wie er verträumt vom Pult aufgesehen und sie angelächelt hatte.

Roes Schluchzen wurde so heftig, dass sich ihr Gesicht vor Schmerzen verzerrte. Sie legte ihren Kopf in den Nacken und kniff ihre Augenlider fest zusammen. Ihr bebender Körper fühlte sich so schwer wie Blei an. Die Last auf ihren Schultern drückte sie förmlich zu Boden. Womit hatte sie das verdient? Bis jetzt war alles logisch gewesen. Warum hatte sich der Spieß umgedreht? Sean sollte hier sein. Nicht sie. Er sollte hier sein. Er verdiente es. Nicht sie.

Das prickelnde Gefühl von Wut überwältigte sie. Die staubige Luft reizte ihre Lungen und ließ sie schwerer atmen. Zornig knüllte sie Seans Zettel zusammen und holte aus, um ihn weit wegzuwerfen. Sie wollte das Papier in tausend Stücke zerreißen und bis auf den letzten Fetzen zerstören. Ihre Fäuste hielten es fest umschlossen und ihr Kiefer war fest zusammengebissen. Doch anstatt es wegzuschmeißen, gaben ihre Muskeln einfach den Geist auf. Sie sackte kraftlos in sich zusammen.

Sie brachte es nicht über das Herz, den Zettel zu zerstören. Sean hatte sich derart viel Mühe gegeben, als wäre das Blatt sein Lebenswerk gewesen. Sie musste es hüten und ehren. Es war das Einzige, das von ihm geblieben war. Ihre Hände umklammerten das Papier und drückten es fest an ihre Brust. Schwindel erfasste sie, als ihr Körper auf dem Boden aufkam. Wie ein Baby rollte sie sich ein und windete sich in ihrem persönlichen Albtraum. Das hier war ihre Feuerprobe und sie war absolut durchgefallen. Nur der Zettel hielt sie davon ab, sich eine der Glasscherben zu schnappen und ihre Pulsadern zu durchtrennen. Nur die drei Wörter hielten sie davon ab.

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