RAUM 17

╝ RAUM 17 ╔
❝Schlechte Menschen❞

ROE ZOG IHRE Knie an den Körper an und starrte auf den Boden vor sich. Die Stille war bedrückender denn je. Alle fühlten sich beschämt, da sie eine Heimlichkeit verbargen. Man wusste vom jeweils anderen, dass er über etwas Geheimes im Bilde war. Das Vertrauen zwischen ihnen war gebrochen. Es beunruhigte einen jeden, nichts davon erfahren zu können. Deswegen war das Gespräch in den ersten fünf Minuten eingestellt.

Dass sich ausgerechnet Fran auf einmal Roe zuwandte, verwunderte sie. Seit dem Zwischenfall war sie in sich gekehrt gewesen und hatte sich an Diskussionen nicht beteiligt. Sie tat nur das Notwendigste - aufstehen, in den nächsten Raum gehen, hinsetzten, aufstehen, in den nächsten Raum gehen, hinsetzen. Trotzdem war sie wie ein kleiner Schatten immer in Roes Nähe geblieben.

"Darf ich dich was fragen?", wollte Fran verlegen wissen und rieb ihren Arm. Roe setzte sich ordentlich auf und blickte sie aufmerksam an.

"Klar", sagte sie offen und versuchte sich an einem Lächeln, das ihrem Gegenüber Mut zusprechen sollte. Ihre Gesichtszüge fühlten sich allerdings verkrampft an und wollten ihren Befehlen nicht gehorchen.

"Hast du eigentlich Angst?", fragte Fran und versteckte ihren Mund hinter den blassen Händen. Aus kugelrunden Augen sah sie Roe an, die seufzend ihren Blick über die Glasscheiben wandern ließ.

"Ich will dich nur ungern enttäuschen ... aber ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich keine Angst habe", erwiderte sie bedrückt. Fran legte ihren Kopf schief.

"Aber du hast stark ausgesehen, nach der Feuerprobe. Warst die Einzige, die noch bei Sinnen war. Da hat es so ausgesehen, als wärst du furchtlos. Wie hast du das gemacht?", fragte sich Fran und betrachtete Roe nachdenklich.

"Das ist nur zum Teil richtig. Eigentlich ist das alles im Gesamten - alle Räume zusammen -, die wahre Feuerprobe für mich. Glaub mir, mein Herz klopft lauter und schneller als deines, wenn es Nägel regnet", erklärte Roe und entlockte Fran ein schmales Lächeln. Sie hoffte, dass sie nicht weiter nachhaken würde und vom Thema Feuerprobe erfolgreich abgelenkt hatte. Sie wollte keine längst vergessenen Narben in frische Wunden verwandeln. "Leider habe ich sehr viel Angst." Angst vor innerem Schmerz, aber nicht vor dem Tod. Aber das laut zu sagen, würde Fran wohl kaum beruhigen.

"Das ist menschlich", mischte sich Sean ein und Roes Herz machte einen Satz. "Es sind ganz normale Ängste, die jeder instinktiv hat." Er drehte sich zu ihr und ergründete ihren Blick. Sie versuchte ihre Emotionen zu verbergen, doch es fiel ihr schwer. Dass sie von den Zetteln wusste und mit Sean nicht darüber sprechen konnte, machte sie unruhig. Sie hatte das drängende Gefühl, zwischen den Zeilen lesen zu müssen, wenn er etwas an sie gewandt sagte.

"Und hast du Angst?", fragte Roe ihn und schluckte. Sean betrachtete sie nachdenklich.

"Vor dem Sterben, ja. Vor dem Tod, nein", antwortete er ihr, ohne wegzusehen. Roe nickte daraufhin und riss sich von seinem Blick los.

"Ich denke mal, in einem der nächsten Räume wird irgendwann wieder niemand sterben", vermutete Pluto nach einem gekünstelten Räuspern. Er hatte wohl ihr Gespräch still mitverfolgt. "Weil Thalia zu früh gestorben ist und somit ... eine Runde ausgesetzt wird. So, wie es Wolvie letztens erklärt hat." Langsam schweiften seine Augen über jeden einzelnen. Er blieb an Wolvie hängen, der jedoch keine Anstalten machte, etwas zu sagen. In sich gekehrt starrte er seine Hände an, die er ineinander verschränkt hatte.

"Also", begann Pluto wieder. Noch immer wollte sich niemand beteiligen. "Irgendwie ist es hier ganz schön ruhig geworden. Wir sind auch ganz schön geschrumpft, das muss man schon sagen. Kaum vorstellbar, dass wir mal 24 waren." Er schüttelte den Kopf und lachte trocken auf.

"Ist schleichend vorangegangen. Wie ein Fuchs, der sich jede Nacht aus dem Stall ein Huhn holt", meinte Fran leise, ohne den Blick anzuheben. Pluto blickte zu ihr und nickte zustimmend.

"Ja. Ja, das ist wahr", sagte er nachdenklich und seufzte. Einen Moment lang blieb es still und Roe glaubte, er hatte es aufgegeben. Es waren tatsächlich nicht mehr viele Leute übrig. Bis jetzt hatte sie sich nicht die Mühe gemacht, genauer auf die anderen zu schauen. Ein kurzer Blick reichte ihr zum Zählen. Sieben. Eine armselige, verkümmerte Sieben.

"Also das ist mir echt zu langweilig. Ich bin kurz davor zu sterben und zwar literally. Langeweile und Sterben ist kein guter Mix. Sterbenslangweilig", redete Pluto darauf los und rieb sich seine Augen. "Mein Gott, sagt doch bitte etwas. Ich will in den letzten Minuten meines Lebens nicht nichts gemacht haben." Sean schmunzelte und sah zu ihm.

"Ich dachte andauernd, du wärst genervt von allen. Von Caesar und Thalia, die andauernd Zeug geredet haben", meinte er kopfschüttelnd. "Aber gib es zu. Du brauchst das. Du brauchst es, anderen widersprechen zu können." Verblüfft sah Pluto ihn an.

"Gott, ich erlebe ein Flashback", sagte er sarkastisch und griff sich an sein Herz. "Das haben meine Lehrer auch immer gesagt, wenn sie mit ihrem Latein am Ende waren und das nervige Hinterfragen eines minderwertigen Schülers satthatten." Sean lächelte und Roe verdrehte die Augen.

"Ich bin froh, dass Thalia nicht mehr hier ist", sagte Sam düster und fuhr sich durch die Haare. Bei dieser Aussage verging allen das Lachen. Roe konnte nicht glauben, wie abgestumpft er war. Wut überkam sie wie aus dem Nichts und für einen Moment wünschte sie ihm, dass er Thalias Schicksal eingenommen hätte statt ihr.

Ein Splitter löste sich blitzschnell von der Decke und schoss hinab. Roes Augen weiteten sich, als sie die fallende Scherbe erblickte. Sie raste auf Sam zu. Angst verzerrte seine Miene und er wollte ein letztes Mal Luft für einen Schrei holen. Das Glasstück war schneller und schnitt ihm nicht nur das Wort ab, sondern auch die Kehle durch. Statt einem Brüllen quoll Blut aus seinem Mund, bevor sein Kopf erschlaffte und sein Körper zur Seite fiel.

Zitternd erhob sich Roe, als die anderen aufsprangen und in den nächsten Raum flüchteten. Bei aller Brutalität - so viel Blut erschreckte sie jedes Mal auf das Neue zu Tode. Doch was sie viel mehr schockierte, war ihr vorheriger Gedanke. Sie hatte ihm dieses Schicksal herbeigewünscht. Sie war keinen Deut besser als er mit seinen letzten Worten, die Thalia betrafen. Schaffte dieser Ort Monster? Würde sie als schlechter Mensch sterben?

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