RAUM 16
╝ RAUM 16 ╔
❝Geheimnisse❞
ROE FALTETE DEN Zettel auseinander und studierte die Zahlenfolge. Warum vertraute Sean ihr die Lösung nicht an? Je mehr sie sich Mühe gab desto verkrampfter wurde sie. Sie war es leid, nicht zu wissen, was vor sich ging. Sie brauchte einen Hinweis. Einen kleinen Hinweis. Es konnte nicht mehr so viel dahinterstecken.
Roes Schädel brummte wie verrückt und schmerzerfüllt griff sie sich an den Kopf. Das unangenehme Geräusch schwoll zu einem unerträglichen Ton heran. Sie kniff ihre Augen zusammen und atmete angestrengt aus. Erinnerungen strömten durch ihr Gedächtnis. Sie drangen gewaltsam ein und fluteten ihre Gedanken. Die Stimme. Namen und Zahlen.
Der pochende Schmerz verpuffte im Nichts und erleichtert stieß Roe die Luft aus. Verwirrt blinzelte sie. Das war keine Erinnerung. Es war wieder passiert. Zwar hatte es nur für einen Sekundenbruchteil angehalten, aber dieses unangenehme Gefühl war ihr nicht unbekannt. Als die Stimme in ihren Kopf eingebrochen war, hatte sie genau denselben Schmerz empfunden. Dieses Teufelswerk hatte sie an den Gedanken erinnert, der ihr eingepflanzt wurde. Namen und Zahlen, Namen und Zahlen. Das war der Hinweis, den sie suchte und es wollte, dass sie ihn nutzte. Krank war das.
"Es reicht", rief Sam und sprang plötzlich auf. Eine bedrückende Stille hatte die Gruppe eingehüllt, die er nun eiskalt durchbrochen hatte. Überrascht wandten sich alle Blicke ihm zu. "Ich kann das nicht mehr. Ich muss - ich muss etwas dagegen tun. Ich muss etwas sagen" Er griff sich an den Kopf und krallte seine Hände in die blonden Haare.
"Beruhige dich. Was ist denn los?", fragte Thalia mit ihrer weichen Stimme. Roe sog die Luft ein und machte sich auf Sams Ausbruch gefasst. Die beiden waren wie ein Pulverfass und sie verstand nicht, warum Thalia sich nicht zurückhielt. Sie wusste doch genau, dass die Lage zwischen ihnen angespannt war.
"Ja, ja", rief Sam und lachte kalt. Seine Stimme war ungewöhnlich hoch und drohte zu brechen. "Das sagst gerade du. Gerade du." Er schüttelte den Kopf und begann auf und abzugehen.
"Was soll denn mit mir sein?", bohrte Thalia demonstrativ nach. Sie zeigte keine Anstalten, einen Rückzieher zu machen. Roe wusste nicht, ob sie ihre Entschlossenheit klug fand. Vielleicht war es manchmal besser, wenn man sich zurückhielt.
"Du!", fuhr Sam sie an und zeigte warnend auf sie. "Tu' nicht so scheinheilig! Verrate uns lieber, was du weißt!" Scharf hallte seine Forderung durch den Raum und ließ so einige im Kopf wacher werden.
"Wovon sprichst du, Sam?", fragte Wolvie unsicher.
"Wovon ich spreche? Von Thalias seltsamer Geheimnistuerei!", klagte er und ging drohend einige Schritte auf sie zu, woraufhin sie sich gelassen erhob. Sie war die Ruhe in Person, verzichtete aber nicht darauf, direkt mit ihm zu sein.
"Jeder hat Geheimnisse. Du auch", meinte Thalia.
"Dass ich nicht lache", rief Sam und schnaubte verächtlich. Er wandte sich dem Rest der Gruppe zu und versuchte die Aufmerksamkeit eines jeden auf sich zu ziehen. "Ist euch nie aufgefallen, dass Thalia schon immer viel zu schlaue Aussagen bringt? Schon ganz am Anfang hat sie begonnen, vom Chaos zu schwärmen. Immer wieder hat sie irgendetwas eingeworfen, das ihr ignoriert habt. Aber ich werde darüber nicht weiter hinwegsehen." Mit zusammengebissenen Zähnen wandte er sich wieder der von ihm an den Pranger gestellten Frau zu.
"Du steckst mit denen unter einer Decke. Du bist eine Verräterin!", behauptete Sam und sein Unterkiefer begann zu zittern. "Du hast uns schon die ganze Zeit hinter's Licht geführt und du wirst dein wahres Gesicht zeigen, wenn wir nichts dagegen tun! Du wirst uns nach der Reihe umbringen, bis auf den letzten-"
"Stopp!", rief Thalia plötzlich und warf Sam aus dem Konzept. Ihre unerwartete Reaktion brachte alle vollkommen durcheinander. "Das geht so nicht weiter. Weißt du, Sam, in einem hast du recht. Mein wahres Gesicht zeige ich tatsächlich nicht. Es ist wohl an der Zeit, das Schweigen zu brechen", gab sie zu und seufzte.
"Da gibt es etwas, das ihr alle wissen müsst. Ich werde mir jetzt im Grunde ein Beispiel an Caesars Abgang nehmen", meinte Thalia nachdenklich und Roe verkrampfte sich umgehend. "Lieber sterbe ich einen sinnvollen Tod und kann euch damit noch weiterhelfen, als dass ich diese Informationen mit in mein Grab nehme. Auch will ich euch ein gutes Beispiel sein und hoffe, dass ihr es mir gleichtun werdet, denn es ist unumgänglich; jeder von euch wird diesen Moment, kurz vor seinem Ableben schon bald am Leib selbst fühlen müssen." Allen hatte es die Sprache verschlagen. Sogar Sam hing ihr an den Lippen.
"Die Stimme, die Caesar gehört hat: Sie hat auch mit mir gesprochen. Sie hat auch mir verboten zu sagen, was ich euch jetzt sage. Mir hat sie nämlich verraten, dass jeder von uns - ja, jeder einzelne -, von Zeit zu Zeit diese Stimme hört, hören wird, oder bereits gehört hat. Mal dringt sie in den Kopf des einen und mal in den Schädel des anderen ein und flüstert Botschaften zu, die den anderen verborgen bleiben. Jeder weiß eine Information von der Stimme, aber niemand von euch hat damit gerechnet, dass die Person neben einem sitzend genau dieselbe Hölle durchmachen könnte. Aber jetzt ist es raus. Jetzt wisst ihr es; jeder kennt eine Information." Thalia hielt inne und wandte sich Sam zu.
Sie wirkte gefasst und vollkommen bei Verstand. Die Situation kam Roe wie ein Déjà-vu vor. Vor ihrem inneren Auge sah sie bereits, wie genau dasselbe passierte wie in Raum 14. Der einzige Unterschied war, dass Thalia die Ruhe selbst verkörperte und nicht wie eine Verliererin dastand, so wie Caesar. Sie hatte gewonnen. Sie war die einzige, die das Ding hier im übertragenden Sinne gewonnen hatte.
"Sam", sprach Thalia und er zuckte zusammen. "Ich habe es dir nicht übelgenommen. Du kannst schließlich auch nichts dafür. Du hast nur die Schachfigur gespielt, die diese Rolle übernehmen sollte. Die Rolle, die dafür sorgen sollte, alle gegen mich aufzuhetzen." Er zitterte am ganzen Leib und Thalia blickte wieder zum Rest der Gruppe.
"Die Stimme hat Sam vermutlich eingeredet, dass es hier unter uns eine Person gibt, die für das alles verantwortlich ist. Deswegen ist er wahrscheinlich so überzeugt davon, dass ich eine Verräterin bin", erklärte Thalia und atmete langsam durch. "Aber das ist nur meine Vermutung. An und für sich weiß ich nur, dass jeder etwas weiß. Das ist alles." Sie lächelte in sich hinein. Niemand wagte es, etwas zu sagen. Roe fühlte, wie in der Luft um sie herum lauter Gedanken schwirrten. Gedanken voller Geheimnisse.
"Ach - da gibt es noch etwas. Ihr könnt die verbotenen Informationen der Stimme zwar nicht laut äußern, aber sie auf Zettel zu schreiben, ist kein Problem. Vielleicht ist der ein oder andere da bereits dahintergekommen." Thalia zwinkerte verspielt und Roe vergaß, wie man atmete.
"Und jetzt, liebe Macher, könnt ihr mich langsam aber sicher holen", rief sie in den Himmel hinauf. "Schon seltsam, wie theatralisch die darauf warten, bis ich ausgeredet habe", murmelte sie und grinste ihrem Tod entgegen. Kaum eine Millisekunde später traf ein verschlingender Blitz in sie hinein und nahm sie mit ins Verderben. Im nächsten Moment ging das Licht aus und die Dunkelheit holte sich eine weitere Person von ihnen und verschlang sie - das für diesen Raum eigentlich vorgesehene Opfer.
Alle waren sprachlos. Sogar Roe fühlte sich in einer seltsamen Art und Weise entblößt von Thalias Worten. Doch am Wichtigsten war, dass sie jetzt Seans Handeln nachvollziehen konnte. Sie verstand jetzt, warum er ihr Zettel geschrieben hatte, anstatt mit ihr zu sprechen. Sie verstand jetzt, woher er die Reihenfolge kannte. Woher er die Gewissheit hatte, dass er der Überlebende sein würde. Die Stimme hatte es ihm gesagt.
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