RAUM 13

╝ RAUM 13 ╔
❝Namen und Zahlen❞

ROE LAS SICH zum gefühlt hundertsten Mal ihren Zettel durch und überlegte, welche Zusammenhänge es geben konnte. Sie rieb sich müde ihr Gesicht. Für sie wirkte das wie pures Chaos. Bis auf die aufsteigende Reihenfolge der Zahlen, sahen sie im Gesamtbild so aus, als wären sie zufällig ausgewählt worden. In ihren Gedanken stellte sie sich vor, wie derjenige, der das alles inszeniert hatte, sie wie ein Psychopath auslachte. Es schüttelte sie, als sie sich diese kranke Person im Gedächtnis ausmalte.

"Was meinst du dazu?", fragte Roe schließlich und drehte sich zu Sean. "Fällt dir irgendwas spontan auf, wenn du die Reihenfolge der Schriftsymbole im Überblick ansiehst?" Sie reichte ihm das Blatt und beugte sich selbst weiter zu ihm. Er streckte seine Hand aus, um es entgegenzunehmen, als es jemand blitzschnell ergriff. Überrascht blickte Roe auf und sah Fran.

"Können wir reden?", fragte Fran und ließ den Zettel wieder sinken. Sie griff sich schüchtern mit einer Hand ins Gesicht und senkte ihren Blick. Von Roes Sicht aus sah sie nur noch ihre dichten Wimpern, die ihre Augen verbargen.

"Ja", murmelte sie irritiert und holte sich ihr Blatt mit den Schriftsymbolen zurück. Fran hielt es kaum fest und wehrte sich nicht, als es ihr entwendet wurde. Sie hatte eine seltsame Art, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Eigentlich hätte sie einfach nur fragen müssen, immerhin ignorierte Roe sie nicht. Es war umgekehrt. Aber das nahm sie Fran nicht übel. Sie musste etwas Schlimmes durchgemacht haben, das sah sie ihr an.

Sean schenkte Roe noch einen sorgenden Blick, bevor er aufstand. Er entfernte sich von ihnen, damit sie ungestört miteinander sprechen konnten. Fran sah ihm flüchtig nach, während sie sich langsam hinsetzte. Unsicher starrte sie den Boden an wickelte eine Locke um ihre Finger. Wahrscheinlich fand sie nicht die richtigen Worte.

"Also", fing Roe an und räusperte sich. "Worum geht es?" Eine nicht gerade schwer zu beantwortende Frage. Eigentlich wusste sie genau, was Fran mit ihr bereden wollte. Offensichtlich bedrückte es sie, dass sie Roe angegangen war.

"Tut mir leid", nuschelte sie und hielt ihren Blick noch immer gesenkt. "Ich wollte es nicht. Normal bin ich nicht so, ehrlich. Aber dieser Ort macht mich zu jemandem, der ich nicht bin. Das alles tut so weh." Sie griff sich an ihr Herz und verzog ihr Gesicht zu einer schmerzerfüllten Miene.

"Nein, du kannst da nichts dafür. Du bist absolut die letzte Person, die sich für irgendetwas verantwortlich fühlen sollte. Das ist dieser Ort. Du bist nicht schuld daran", erklärte Roe energisch. Sie beugte sich vor, in der Hoffnung, Fran würde ihr in die Augen sehen. "Nein, nicht mal das ist wahr. Eigentlich bin ich schuld. Ich hätte mein Leben nicht auf's Spiel setzen sollen. Ich bereue das." Roe ergriff ihre Hand und endlich blickte sie auf.

"Ehrlich?", wollte Fran wissen und runzelte ihre Stirn.

"Ja, ehrlich. Es war falsch, solche Maßnahmen zu ergreifen. Noch mehr Tod bringt uns nicht weiter. Ich verspreche, das kommt nie wieder vor", versicherte Roe ihr. Fran begann zu strahlen. Erleichterung schien sie zu übermannen. Sie ließ ihre Locke los und richtete sich auf.

"Gut", meinte Fran knapp. "Danke." Ohne zu zögern, stand sie auf und ging wieder weg. Sie ließ Roe vollkommen perplex zurück. Das war es? Sie hatte sich auf ein langes Gespräch eingestellt, in dem möglicherweise Tränen fließen würden. Dass es so schnell ging, hatte sie nicht erwartet.

"Alles wieder okay zwischen euch beiden?", fragte Sean. Er war an ihre Seite zurückgekehrt und ließ seinen Blick besorgt zwischen ihr und Fran hergleiten.

"Ja", meinte Roe erleichtert. "Auch wenn sie mir irgendwie überraschend schnell verziehen hat." Sie zog ihre Augenbrauen zusammen und grübelte. Sean nickte nur und schloss seine Augen. Sie mochte Fran, auch wenn sie auf andere wohl seltsam wirken würde. Sie war süß und unschuldig. Jemand mit einer derart reinen Seele verdiente es nicht, hier sterben zu müssen.

Ein plötzlicher Schmerz zuckte durch Roes Kopf. Nur mit Mühe verhinderte sie ein Aufschreien. Ihr Atem beschleunigte sich und ihr Blick huschte paranoid durch die Gegend. Sean war in seinen Gedanken versunken und bemerkte ihre Anspannung nicht.

"Hallo." Ein Schrecken jagte durch ihre Glieder, als sie die verzerrte Stimme wahrnahm. Sie hörte sich an wie tausend gleichzeitig sprechende Menschen, die sich im Chor zu übertönen versuchten. Verzweifelt sah sie sich nach der Person um, von der dieser Lärm kam. Sie konnte das nirgendwo hineinordnen. Noch immer waren alle mit sich selbst zu beschäftigt.

"Nicht suchen. Ich bin nicht hier", erklärte die grauenhafte Stimme. Sie hallte so laut in Roes Kopf, dass sie den Drang unterdrücken musste, sich die Ohren abzureißen. "Ich bin überall und nirgendwo. Aber im Moment bin ich nur in deinem Kopf." Roe schloss ihre Augen und versuchte krampfhaft, ihre Atmung unter Kontrolle zu bringen.

"Hör zu: Du musst auf die Namen und die Zahlen schauen." Überrascht schlug Roe die Augen auf. Das war nicht real. Wenn es hier wäre, dann würden es die anderen hören. Es passierte nicht. Sie war in Sicherheit.

"Namen und Zahlen. Aber nicht verraten, dass du die Stimme gehört hast. Nicht verraten. Sonst stirbt jemand. Du weißt schon wer", warnte das Etwas eindringlich. Roe hielt sich die Ohren zu, doch das verzerrte Geräusch in ihrem Schädel wurde nur noch lauter.

Sie war den Tränen nahe. Am liebsten hätte sie sich in Seans Arme geworfen, aber die letzten Worte ließen sie nicht mehr los. Mit dem gewissen Jemand war er gemeint. Sie durfte nichts sagen. Verkrampft schluckte sie den Kloß in ihrem Hals runter und beruhigte sich.

Namen und Zahlen. Welche denn? Was wollte die Stimme andeuten? Ratlos steckte sie ihre Hand in die Hosentasche und zog den Zettel mit den Schriftsymbolen hervor. Möglicherweise hing der Hinweis damit zusammen. Mit zittrigen Fingern kramte sie das Blatt hervor und gleichzeitig fiel ein weiteres heraus. Sie verfluchte ihr Ungeschick und wollte den vermeintlich leeren Zettel zurücklegen, doch da stand etwas darauf. Neugier durchströmte sie und sie klappte das zerknitterte Papier auf.

'Ich werde der Letzte sein'. Roe stutzte und eine Flutwelle an Erinnerungen brach über sie herein. Die Feuerprobe. Das Blut. Seans Schatten. Die Worte, die durch den Raum geisterten.

Sie hatte also nicht halluziniert. In der 11 hatte sie Sean gesehen und er hatte ihr genau diese Worte immer wieder und wieder eindringlich gesagt. Diesen Zettel hatte er ihr mit Sicherheit unauffällig untergeschoben, als sie gerade unaufmerksam gewesen war. Jemand anderes konnte das gar nicht gemacht haben. Nur Fran und er waren in ihrer Nähe gewesen, doch auf dem Blatt war die Rede von 'dem Letzten' und nicht 'der Letzten'.

Alles deutete darauf hin, dass Sean ihr diese Aussage dringend mitteilen musste. Sie erinnerte sich verschwommen daran, dass er am Ende der 11 hinzugefügt hatte, dass er der letzte Überlebende sein würde. Der einzige Überlebende von ihnen. Aber woher wollte er das wissen? Und warum sprach er sie nicht darauf an, sondern überbrachte ihr diese Information über geheime Wege?

Seufzend blickte Roe zu Sean, der von ihrem Gefühlschaos und ihrer Verunsicherung nichts mitzubekommen schien. Oder verstellte er sich? Sie griff sich an den Kopf und massierte sich ihre Schläfen. Wenn es so weiterging, würde sie wahnsinnig werden. Noch wahnsinniger als alle anderen es gerade waren. Zuerst die Stimme, dann die mysteriöse Botschaft.

Zu allem Überfluss regnete es plötzlich Nägel. Ungläubige Schreie hallten durch den Raum und es herrschte Chaos. Roes Kopf drohte zu Platzen. Sie wusste nicht mehr, wo oben und unten war. Hätte Sean sie nicht entschlossen mit sich gezerrt, wäre sie wohl am Boden zusammengebrochen und hätte dabei regungslos zugesehen, wie ihre Haut von spitzen Metallstäben durchbohrt wurden.

┘┌ฬ42┘┌

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