Kapitel 7 - Iron Man

„Nein!", schrie Armand und sprang von seinem Stuhl auf. Das Smartphone fiel ihm aus der Hand und schlitterte über den blanken Steinboden bis es unter dem Panoramafenster zu liegen kam.

Er starrte auf das beleidigt blinkende Gerät, von dem der dumpfe Klang von Natalias Stimme zu hören war. Seine Hände zitterten.

Was war denn das eben? Sein Gehirn war ein heilloses Wirrwarr aus verworrenen Gedanken und sein Körper schien sich plötzlich in einen Eisblock verwandelt zu haben.

Menschen waren ihm doch eigentlich egal. Menschen starben jeden Tag, das war ja nichts Neues, und er war ja auch nicht der Gott der Menschenretter, wobei es den nicht mal gab. Ein weiterer Beweis für die Unwichtigkeit der kleinen Menschen im Angesicht der Ewigkeit. 

Das war nicht seine Angelegenheit. Er wollte damit nichts zu tun haben.

Und doch ...

... doch ließ ihn der Anblick der jungen Frau nicht los. Was er dort in ihren Augen gesehen hatte, war pure Verzweiflung. Das war jemand, der mit allen Mitteln einen Ausweg aus der Liebe suchte. Sie hatte etwas von „entlieben" gemurmelt und er hatte sie nur wortlos angestarrt.

Geistesabwesend strich er sich über seine Brust. Er konnte das Gefühl, dass sich da in ihm eingenistet hatte, nicht mal eindeutig benennen.

Mitgefühl? Mitleid?

Fühlte er sich etwa gar schuldig daran, dass diese Frau von der Liebe, die er ihr ja zweifelsohne irgendwann mal gewährt haben musste, nichts mehr wissen wollte und nun nur mehr diese Verzweiflungstat als Ausweg sah?

Nein, das konnte es nicht sein. Schuldgefühle waren ihm genauso fremd wie andere kleinkrämerische Ausprägungen menschlicher Emotionen.

Außerdem bestand sein Job als Liebesgott darin, die Menschen mit Liebe zu versorgen, nicht ihnen die Liebe wieder zu nehmen.

Das ergab alles keinen Sinn.

„Armand!", tönte es von seinem Smartphone. „Bist du noch da? Wieso sehe ich plötzlich nur die Decke von deinem Büro?"

Was, wenn niemand der Frau zu Hilfe käme? Was, wenn sie alleine sterben würde?

Seine Gedanken flogen im Kreis wie ein wild gewordenes Kettenkarussell.

Aber was, wenn es doch einen Weg gäbe, um dieser Frau zu helfen? Was, wenn er der Einzige wäre, der sie aus ihrer misslichen Lage befreien könnte, weil nur er davon wusste? Wenn er ihr schon nicht die Last der Liebe nehmen könnte, so könnte er doch wenigstens sicher gehen, dass sie nicht ihr Leben wegwarf.

Was würde es ihn denn kosten? Ein paar Minuten seiner unendlich verfügbaren Zeit, nicht mehr. Das könnte er doch abzweigen für ein Menschenleben.

Er ließ die Luft langsam zwischen seinen Lippen entweichen, während er vor sich ins Leere starrte und eine Hand über seinen Nacken rieb.

„Wie lange willst du mich denn noch ignorieren, Armand?"

War er nicht auf der Suche nach etwas, das ihn aus dem ewig gleichen Einerlei seines Alltags wenigstens für einen kurzen Moment befreien konnte? Seine Augen blieben an den dunkelorange beleuchteten Wolkenbergen hängen, die sich in einem majestätischen Zug vor seinem Fenster herschoben wie behäbige Wattebälle.

„Mir reicht's jetzt! Ich komm zu dir rüber."

Seine Augenbrauen zogen sich wie düstere Gewitterwolken zusammen. „Das wirst du wohl sein lassen!", bellte er laustark in Richtung Smartphone, das immer noch verlassen unter dem Panoramafenster lag.

Er musste hier raus, und zwar schleunigst! Zu viele kostbare Sekunden waren seit dem Eingang der Nachricht bereits verstrichen.

Verplemper nicht deine Zeit!

Hektisch stopfte er sein T-Shirt in die Hose, warf einen Blick auf seine Schuhe und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. Ja, alles passte.

Was, wenn es schon zu spät war? Nein, diese Möglichkeit würde er nicht mal in Betracht ziehen. Er konnte schließlich in übermenschlicher Geschwindigkeit an jeden beliebigen Punkt des Universums reisen. Dann würde er es auch zu dieser Brücke auf der Erde schaffen.

Hastig hob er sein Smartphone auf und klickte Natalia wortlos weg. Ihren Ärger würde er sich später anhören. Genauso wie Mr. Zs wütende Standpauke, die es sicher geben würde, wenn er nicht schnell genug wieder zurück wäre. Bei Überstunden war er immer besonders pingelig. Er musste bloß sicher gehen, innerhalb weniger Minuten wieder in seinem Büro zu sitzen. Eine Frau vom Sprung von einer Brücke zu retten, war ja nicht sonderlich zeitaufwändig. Er würde sie auffangen, wieder auf den festen Boden zurückstellen, sich kurz vergewissern, dass sie nicht verletzt war, und dann wieder hier auftauchen. Ganz so als wäre nichts gewesen und er nie weg gewesen.

Wetten, das schaffe ich in fünf Minuten.

Ein aufgeregtes Blubbern machte sich in seiner Brust breit während er sich auf seinem Smartphone die Koordinaten der Nachricht und alle weiteren verfügbaren Daten anzeigen ließ.

Name: Sylvia (klingt hübsch)

Alter: 25 Jahre (oh Mann, so jung!)

Liebespartner: Edgar, 31 Jahre. Warnung: notorisch untreu (dich behalte ich im Auge, Bürschchen!)

Den Rest überflog er nur kurz. Drei weitere ignorierte Anrufe von Natalia später war er bereits aus seinem Büro verschwunden und auf dem schnellsten Weg zur Erde.

Durch den Weltraum zu reisen war noch nie sein Ding gewesen, und das hatte sich auch jetzt nicht geändert. Er hasste das Gefühl, durch einen zu engen Schlauch gepresst zu werden, nur um dann am anderen Ende wieder ausgespuckt zu werden wie ein durchgekauter Kaugummi. Obwohl er genau wusste, dass es ihm zuerst seinen Atem nehmen würde, blieb für einen Sekundenbruchteil ein leichter Schwindel in seinem Kopf zurück, als sich wieder wie verrückt Luft in seine Lungen pumpte.

Wahrscheinlich hatte Natalia doch recht, und er wurde langsam zu alt für diesen Mist. Er sollte sich zurücklehnen und in den wohlverdienten vorzeitigen Ruhestand treten, anstatt seinen Job und seine Unsterblichkeit für einen unbedeutenden Menschen aufs Spiel zu setzen.

Seine Gedanken wurden abgebremst vom plötzlichen Anblick des Nachthimmels, der die Erde in ein gedämpftes Licht einhüllte. Der dauersonnige Zustand über den Wolken hatte ihn komplett vergessen lassen, wie abrupt der rasche Wechsel von Tag und Nacht hier unten war. Er blinzelte kurz und dann sah er auch schon sein Ziel vor Augen. Die leere Brücke. Panik durchfuhr ihn.

Verdammt! Mist!

Er war zu spät! Er hatte zu viel Zeit vergeudet mit seiner elendigen Zögerlichkeit!

Armand ignorierte das pulsierende Echo in seinem Kopf und raste mit ungebremster Geschwindigkeit der Brücke entgehen. Wild entschlossen stürzte er sich in die dunklen Fluten, die mit wütendem Schäumen über ihm zusammenschlugen, als er die Wasseroberfläche wie ein Geschoss durchbrach. Er tauchte hinab in die eisige Kälte. Er musste sie finden, und er würde sie finden. Versagen war ein Wort, das in seinem Vokabular nichts zu suchen hatte.

Zuerst hatte sie versucht, sich einfach fallen zu lassen, es geschehen zu lassen. Sie hatte sich vorgenommen, dem nassen Element keinen Widerstand entgegenzusetzen.

Doch nach dem ersten Schluck Wasser brannte es in ihren Lungen plötzlich wie Feuer. Panik packte sie. Sie schlug wild mit ihren Armen und Beinen um sich. Ihre Lippen zitterten unkontrolliert. Wieso war das Wasser auch nur so verdammt kalt? Ihre Kleidung hatte sich komplett vollgesogen, klebte an ihrem Körper wie ein eisiges Laken, das sie beständig weiter hinunterzog. Alles um sie herum war ein schmutziges Schwarz und komplett verschwommen. Das Rauschen des Wassers — oder war es das Rauschen von ihrem Blut? — pochte unablässig in ihren Ohren wie ein nicht enden wollender Trommelwirbel.

Scheiße! Was für ein jämmerliches Ende! Das ist ja wie Titanic, nur einsamer.

Der Druck in ihrem Brustkorb wurde nahezu unerträglich und sie schaffte es kaum noch, ihre Augen offenzuhalten.

Wieso brennt das denn so wie Säure? Bitte, bitte, lass es bald aufhören! Ich will einfach nur, dass es vorbei ist.

Schleimige Tentakel berührten ihre Hände und ihre Füße verfingen sich in ekligen Dingen, von denen sie froh war, sie nicht genau sehen zu können. Instinktiv schnappte sie nach Luft, doch es presste sich nur noch mehr Wasser in ihre Lungen.

Oh, Gott!

Ihre Gedanken wurden neblig und verschwommen. Ein grauer Schleier legte sich  über ihre Augen und dann ... dann war da ein ruckartiges Ziehen an ihrem Körper. Luftblasen schwirrten wie tausende silberne Perlen um sie herum und irgendetwas legte sich wie ein stabiles Band um ihre Mitte.

„Lass mich!", wollte sie noch sagen, aber das Wasser schluckte ihre Worte und verwandelte sie in ein unverständliches Gurgeln. Die letzte Luft, die noch in ihren Lungen verblieben war, verließ endgültig ihren Körper.

Ihre Arme waren zu kraftlos, um den Angriff abzuwehren, und so ließ sie es einfach geschehen. War ja auch schon egal.

Immer stärker wurde der Zug um ihre Taille und ihr Rücken wurde gegen irgendetwas Hartes gepresst. Dann war da nur mehr ein schwarzes und endloses Rauschen und dann nichts mehr.

„Komm schon, atme!"

Von irgendwo her wie durch eine Wand aus Watte drangen Wörter an ihr Ohr, Wörter, die keinen Sinn ergaben von einer Stimme, die sie nicht kannte. Ein eigenartiger Druck bildete sich in ihrem Brustkorb, so als ob er kurz vor dem Explodieren stehen würde. Anders als vorhin, aber immer noch schmerzhaft.

„Mach schon! Du schaffst das!" Wieder diese eigenartige Stimme, die sich wie eine warme Decke um ihr fröstelndes Inneres legte.

Dann war da so ein komisches goldenes Licht, wie ein strahlender Sonnenaufgang. Aber meine Augen sind doch zu! 

Das konnte nur eines bedeuten. Sie war doch gestorben. Aber warum schmerzte dann ihr ganzer Körper immer noch? Warum fühlte sie sich, als wäre jemand mit einer Käsereibe über ihre Haut gefahren und hätte Metallspäne in ihre Lungen gestopft? Und wieso konnte sie dann überhaupt noch denken? War nach dem Tod nicht einfach das große schwarze Nichts? Ohne Gefühle und ohne Schmerzen.

Irgendetwas stimmte hier nicht.

„Sylvia." Jeder einzelne Buchstabe ihres Namens war eine federleichte Berührung auf ihrer Seele. „Wach auf." Ein warmer Hauch kitzelte an ihrem Ohr.

Plötzlich überkam sie eine Welle an Übelkeit und ein ekelhafter metallener Geschmack breitete sich mit rasanter Geschwindigkeit in ihrem Mund aus. Der Druck in ihrem Brustkorb schwoll immer unerträglicher an, bis endlich der Damm in ihrem Inneren brach und sich ein Schwall von Erbrochenem ungebremst den Weg nach draußen bahnte.

Panisch schnappte sie nach Luft und riss ihre Augen auf.

„Na, geht doch", sagte der Mann, der über sie gebeugt war und der nicht nur mindestens genauso durchnässt war wie sie, sondern offensichtlich auch den Großteil ihrer unfreiwilligen Explosion abbekommen hatte. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund schien ihn das aber nicht zu stören, denn er lächelte sie höchst amüsiert an.

Vorsichtig wagte sie sich an einen weiteren röchelnden Atemzug heran. Kein Wasser, nur Luft. Sylvia blinzelte und starrte ungläubig in das Gesicht über ihr.

Verwuschelte triefnasse braune Haare, ein äußerst attraktiver Schatten eines Drei-Tages-Bartes und strahlend blaue Augen.

So gutaussehend war kein Mensch, zumindest keiner, den sie kannte.

„B — bin ich denn jetzt tot?", stammelte sie. Jedes Wort schmerzte in ihrem Rachen und mehr als ein leises Flüstern brachte sie nicht raus. Ein Frösteln durchzuckte ihren Körper.

„Na, das will ich ja doch nicht hoffen. Dann wäre mein ganzer Einsatz ja komplett umsonst gewesen." Einer seiner Mundwinkel hob sich zu einem einseitigen Grinsen und seine Augen funkelten immer noch amüsiert.

Ihr Blick wanderte von seinem Gesicht zu seiner Brust. Sein weißes T-Shirt klebte an seiner Haut und seine perfekt definierten Muskeln zeichneten sich so detailliert darunter ab, dass er genauso gut mit nacktem Oberkörper neben ihr hätte sitzen können.

Hitze stieg ihr ins Gesicht, obwohl der Rest ihres Körpers bis in die Zehenspitzen hinunter eiskalt war. Sie versuchte zu schlucken, aber ihr Hals fühlte sich immer noch wie Sandpapier an.

Dann bemerkte sie ein eigenartiges gedämpftes goldenes Schimmern in der Mitte seiner Brust wie eine kleine Sonne.

„Iron Man?", hauchte sie, ihr Kopf ein Wirrwarr aus unzusammenhängenden Gedanken und Erinnerungsfetzen.

„Iron Man?", wiederholte er und seine Augenbrauen wanderten belustigt nach oben.

Sylvia versuchte eine ihrer Hände zu heben, doch mehr als einen Finger schaffte sie nicht.

„Da ... das Licht." Sie beschrieb einen winzigen Kreis mit ihrem Finger.

„Oh, das." Er fuhr sich kurz mit einer Hand über die Brust und das Schimmern verschwand als hätte er einen Lichtschalter betätigt.

„W — was ist das?" Trotz ihres noch immer sehr vernebelten Zustands war sie sich sicher sowas noch nie gesehen zu haben, jedenfalls nicht außerhalb der Kinoleinwand.

„Nichts, nur ein kleiner Spezialeffekt." Er lehnte sich zurück und schien sie genauestens zu beobachten. „Wie fühlst du dich jetzt?" Er nahm ihre Hand in seine und strich mit seinem Daumen langsam über ihren Handrücken.

Ein plötzliches Gefühl von Wärme, gefolgt von einem eigenartigen Kribbeln machte sich in ihrem Körper breit.

„Könnte besser sein." Sie starrte in den Nachthimmel über ihr und erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie auf den harten Holzplanken der Brücke lag. Ihr mysteriöser Nicht-Iron-Man hatte sie nicht nur offensichtlich allein aus den Tiefen des Wassers gezogen, sondern auch wieder zur Brücke hinauf manövriert. Sogar ihre Tasche stand noch an genau dem Ort, wo sie sie abgestellt hatte vor ihrer idiotischen Entscheidung in den Fluss zu springen.

„Ich ... tut mir leid, dass ich ..., dass du ..."

Mist, wieso ist sprechen plötzlich so unglaublich schwer. Sie versuchte stattdessen zu lächeln, doch sie war sich nicht sicher, ob ihr Mund das auch kapiert hatte.

„Du musst dich nicht entschuldigen. Ich war in der Nähe und konnte nicht einfach tatenlos zusehen. Ich bin mir sicher, jeder andere hätte das Gleiche getan, so von Mensch zu Mensch."

Irgendwie kam es Sylvia vor, als würde er sich über einen Witz amüsieren, der ihr entgangen war, aber sie war zu müde und erschöpft, um weiter darüber nachzudenken. Also nickte sie nur wortlos und drückte dankbar seine Hand.

Er erwiderte ihren Händedruck und sein Mund weitete sich zu einem Lächeln. „Ich bin übrigens Armand."

„Sylvia", war das einzige Wort, das sie herausbrachte, bevor sie von einem plötzlichen Hustenanfall gepackt wurde. Rasch drehte sie ihren Oberkörper zur Seite, während ihr Brustkorb sich mit jedem Atemzug krampfhaft zusammenzog. Tränen schossen ihr in die Augen.

Warum tut das nur so verdammt weh? Es fühlte sich an, als hätte sie einen Haufen Stecknadeln verschluckt.

Eine warme Hand legte sich auf ihren Rücken und begann in langsamen Auf- und Abbewegungen von ihrem Nacken bis hin zu ihrer Taille zu streichen.

„Das klingt ja, als hättest du den ganzen Fluss verschluckt", hörte sie ihn hinter sich sagen, die Belustigung in seiner Stimme unüberhörbar.

Mit jeder sanften Berührung auf ihrem Rücken löste sich der Knoten in ihr Brust ein wenig mehr. Ihre Augenlider wurden unendlich schwer und fielen schließlich ganz zu. „Armand ... netter Name", nuschelte sie und obwohl ihr immer noch eiskalt war und die Holzbretter gnadenlos gegen jeden einzelnen ihrer Knochen drückten, wünschte sie sich, dass dieser Moment nie enden möge.

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