Kapitel 31 - Amor und Psyche

Wutschnaubend stapfte Sylvia zu dem erstbesten Tisch und stellte geräuschvoll ihre Tasche ab.

Nahm denn diese ganze Serie an Absurditäten nie ein Ende?

Gerade hatte sie sechzig Minuten am Stück Amelies Gegenwart ertragen müssen. Und nicht genug, dass Edgar sie betrogen und Armand Sex mit seiner Cousine hatte, nein, nun wusste Edgar auch noch ganz genau Bescheid, wie sehr sie seine Untreue getroffen hatte. Am liebsten würde sie Armand eine schallende Ohrfeige verpassen für seine Dreistigkeit, aber sie hatte ihm ja die Tür vor der Nase zugeschlagen, also musste der klapprige Stuhl neben ihr daran glauben. Mit einem gezielten Fußtritt kickte sie ihn quer durch den Raum, bis er unter dem Kunstdruck von Amor und Psyche gegen die Wand knallte. Sie lehnte sich gegen die Tischkante hinter ihr, verschränkte ihre Arme und warf dem Bild einen missmutigen Blick zu.

Alles Lüge, die ganze Sache mit der Liebe. Von jetzt an würde sie diese Gefühle meiden wie der Teufel das Weihwasser, denn das war wohl der einzige Weg, sich weitere Schmerzen zu ersparen. Da hörte sie plötzlich, wie sich leise die Tür öffnete, aber sie weigerte sich hinzusehen, und blickte stur geradeaus, auch wenn sie dadurch gezwungen war, genau auf das Bild von Canovas Statue zu starren.

Die Tür schloss sich ebenso leise wieder und dann herrschte Stille im Hörsaal. Sie konnte nur ihren eigenen Atem hören und ihr Herz, das laut wie eine Trommel in ihrer Brust klopfte.

Bitte lass mich in Frieden. Geh weg. Ich will jetzt niemanden sehen.

Das alles lag ihr schon auf der Zunge, und doch brachte sie kein einziges Wort über ihre Lippen. Sie spürte seinen Gegenwart, auch wenn sie ihn nicht sehen konnte, hörte wie er langsam auf dem knarrenden Parkettboden näher kam. Doch plötzlich stoppten seine Schritte und sie hörte ihn sagen: „Sylvia, ich weiß, dass du wütend auf mich bist, und das ist auch dein gutes Recht. Ich verlange nicht von dir, dass du mir verzeihst, aber ich hoffe, dass du mir wenigstens fünf Minuten gewährst, um dieses Missverständnis, das zwischen uns steht, auszuräumen."

„Missverständnis?" Sie drehte sich zu ihm um, ihre Arme immer noch fest vor ihrer Brust verschränkt. Als sie plötzlich in seine leuchtend blauen Augen blickte, wäre sie fast über den noch immer zu ihren Füßen liegenden Stuhl gestolpert.

Nein, du wirst jetzt nicht schwach, Sylvia. Auch diese überirdisch schönen Augen können betrügen.

Ihr Blick wanderte weiter zu seinem Mund. Kein noch so gründliches Zähneputzen heute Morgen hatte seinen Geschmack von ihrer Zunge löschen können.

Nein, auch die perfektesten Lippen können lügen.

Sie reckte ihr Kinn nach vorne. „Du meinst wohl deine Lüge, denn das trifft es wohl eher."

„Sylvia, ich weiß, dass es so aussieht, aber habe dich nicht vorsätzlich angelogen. Ich habe nie vorgehabt, dir etwas vorzuschwindeln."

„Hast es aber trotzdem getan, und jetzt tut es dir leid, dass du dich selbst verraten hast." Sylvia presste ihre Lippen trotzig aufeinander.

„Nein, so ist das nicht. Es tut mir leid, dass ich so blöd war, unseren wunderbaren Moment mit meiner Dummheit zu zerstören, mit etwas, dass rein gar nichts mit uns zu tun hat —"

„Uns?" Wie einen Torpedo schleuderte sie ihm das Wort an den Kopf. „Es hat niemals so etwas wie ‚uns' gegeben und nach allem, was ich jetzt über dich weiß, wird es das auch in Zukunft nicht geben."

„Sylvia, bitte lass mich doch wenigstens erklären, was ich schon die ganze Zeit versuche zu sagen, und wenn du dann immer noch nichts von mir wissen willst, verspreche ich dir, dass ich für immer aus deinem Leben verschwinden werde. Ich werde mich sicher niemals in so einen besitzergreifenden Typen wie Edgar verwandeln. Ich werde ein ‚nein' von dir akzeptieren, wenn du im Gegenzug akzeptierst, mir zuzuhören. "

Die plötzliche Ernsthaftigkeit in seiner Stimme jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Vielleicht lag es an der Tatsache, dass er vor kurzem noch ein Gott gewesen war, oder daran, weil sie selbst wusste, dass sie ihm zumindest eine klitzekleine Chance sich zu rechtfertigen schuldete, aber sie rang sich dazu durch, so gefasst wie möglich zu sagen: „Ich höre dir zu, aber mehr kann ich nicht versprechen."

„Mehr verlange ich auch gar nicht von dir." Er nickte und seine Schultern schienen sich ein klein wenig zu entspannen. Er hob seine Hand, so als ob er sie berühren wollte, aber dann ließ er sie wieder sinken und sah sie einen Moment lang schweigend an.

Ein eigenartiges Kribbeln machte sich auf ihrem Körper breit und fast dachte sie schon, er würde gar nichts sagen, als er begann: „Natalia ist in keinster Weise mit mir verwandt. Es war ein großer Fehler von mir, sie als meine Cousine bezeichnet zu haben, aber in dem Moment fiel mir einfach nichts Besseres ein. Ich hatte dich gerade aus dem Fluss gezogen, wollte dir eine Bleibe für die Nacht anbieten, und schon da, in diesen ersten Stunden fühlte ich, dass da etwas sein könnte zwischen uns. Vielleicht bildete ich mir das auch nur ein, aber ich wollte nicht riskieren, dass du einen falschen Eindruck haben könntest von mir. Außerdem konnte ich dir beim besten Willen nicht die Wahrheit über mich erzählen, denn ich stand ja als Liebesgott immer noch unter Schweigepflicht, also blieb mir nichts anderes übrig als eine Notlüge, in der Hoffnung, dass sich dann irgendwann die Gelegenheit bieten würde, dir die Wahrheit zu erzählen, aber da hat mir leider Mr. Z einen Strich durch die Rechnung gemacht."

Er seufzte und ließ seinen Blick kurz über ihre Schulter schweifen, zu dem Bild an der Wand, bevor er sie wieder ansah. Da war eine plötzliche Schwermut in seinen Augen, die sie unvermittelt ins Herz traf.

„Ein Gott zu sein ist nicht so glamourös, wie die Menschen sich das immer vorstellen. Im Gegenteil, wir mögen zwar unsterblich sein, aber nach tausenden von Jahren ist die Unsterblichkeit kein Geschenk mehr, sondern eher ein Gefängnis. Und wenn man für ewige Zeiten das gleiche Gefängnis mit jemandem teilt, der sich ähnlich eingesperrt fühlt und mit dem einen ein freundschaftliches Verhältnis verbindet, dann ergeben sich Dinge, die nicht ideal sind, aber man arrangiert sich damit, weil sie die Leere erträglicher machen. Aber dann bist du in mein Leben getreten wie ein warmer Frühlingsmorgen nach einer langen kalten Winternacht und nichts ist mehr so wie zuvor."

Er schluckte und fuhr sich mit einer Hand über seinen Nacken. „Was ich damit sagen will, ist, dass die Vergangenheit genau das ist, vergangen. Natalia gehört dorthin, genauso wie Edgar. Aber die Vergangenheit bestimmt nicht unsere Gegenwart, die haben wir selbst in der Hand, und wenn du nur ein wenig so fühlst wie ich, dann gibst du unserer gemeinsamen Zukunft noch eine Chance."

Er sah ihr direkt in die Augen, und es war, als hätte er die Tore zu seiner Seele für sie geöffnet. Die Wahrheit seiner Worte und die Aufrichtigkeit seiner Gefühle spiegelten sich in den kristallblauen Tiefen. Da war kein Platz für Lügen oder Falschheit.

Nun kam der schwierige Teil.

Sylvias Finger bohrten sich in ihre immer noch vor ihrer Brust verschränkten Arme.

Mist, warum ist es bloß so leicht, wütend zu sein, aber so verdammt schwer, sich seine eigenen Fehler einzugestehen?

Sie schluckte ihre Nervosität hinunter, trotzdem fühlte sich ihre Stimme immer noch zittrig an.

„Es tut mir leid, dass ich so Hals über Kopf von dir weggelaufen bin. Das war mehr als unüberlegt. Ich hätte dir eine Chance geben sollen, mir genau das zu erklären, was du mir jetzt gesagt hast, aber ich ... ich war so verletzt, dass ich nicht mehr klar denken konnte. Ich dachte, ich hätte mich in dir geirrt und du wärst genauso wie Edgar. Ich hatte panische Angst, dass sich meine Vergangenheit wiederholen würde, also habe ich keinen anderen Ausweg gesehen, als wegzurennen." Sie seufzte und ließ ihre Schultern hängen.

„Du musst dich nicht bei mir für deine Reaktion entschuldigen. Es ist nur zu verständlich, dass du geschockt warst. Ich bin derjenige, der sich wie ein Idiot benommen hat."

Sylvia presste ihre Lippen zusammen. „Dann sind wir ja schon zwei, die sich wie Idioten fühlen."

„Heißt das, du bist bereit, mir zu verzeihen?" Armands Gesicht hellte sich auf.

Gib dir einen Ruck, Sylvia. Sag ja. Du siehst doch, dass er es ernst meint.

„Ich erwäge die Möglichkeit." Eigentlich hatte sie ja vorgehabt, ihn noch länger zappeln zu lassen, doch die Aufrichtigkeit seiner Worte hatte ihren zugegebenermaßen kindischen Vorsatz ins Wanken gebracht.

„Damit kann ich leben." Ein vorsichtiges Lächeln spielte um Armands Mundwinkel.

Sylvias Blick wanderte nun erstmals auf das T-Shirt, das unter seiner offenen Jeansjacke hervorblitzte, und sie konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen. „Iron Man? Immer noch?"

„Ab jetzt immer." Er erwiderte ihr Lächeln, während er etwas aus der Tasche seiner Jeansjacke zog. „Das ist für dich." Er hielt ihr ein quadratisches schwarzes Päckchen hin und sah sie erwartungsvoll an.

„Armand, das ...", stotterte sie. Ihr Herz raste plötzlich und ihre Handflächen waren schwitzig.

Sei nicht dumm, Sylvia, er wird jetzt sicher nicht um deine Hand anhalten. Sowas passiert nur in kitschigen Hollywoodfilmen, aber nicht im echten Leben.

„Es ist nur eine Kleinigkeit, aber ich hoffe, sie gefällt dir", fügte er eilig hinzu, als er ihre offensichtliche Nervosität bemerkte.

„Oh, okay." Erleichtert, aber immer noch etwas zögerlich, nahm sie die kleine Schachtel und öffnete mit zittrigen Fingern den Deckel. Darin lag etwas in weißem Seidenpapier eingewickelt. Sachte zog sie das Papier zur Seite und zum Vorschein kam eine glänzend polierte Schneekugel. Sie hob sie vorsichtig heraus und hielt sie in die Höhe. Fast hätte sie die Kugel vor Schreck fallen gelassen, denn inmitten der glitzernden weißen Flöckchen räkelten sich die Miniaturausgaben von Canovas Amor und Psyche.

Wortlos starrte sie auf das Paar, das sich, eng umschlungen, liebestrunken in die Augen sah. Einmal hatte sie vor Jahren, ganz am Anfang ihrer Studentenzeit, das Original im Louvre bewundern können. Staunend war sie um die Statue herumgewandert, hatte sie von allen Seiten ausgiebig betrachtet, hatte den Faltenwurf der Kleidung bestaunt, die Weichheit der Haut, die Natürlichkeit der Pose. Ganz besonders hatte es ihr der ineinander versunkene Gesichtsausdruck der beiden Liebenden angetan. Die Hingabe, mit der Amor, der soeben Psyche mit einem Kuss aus ihrem verzauberten Schlaf erweckt hatte, seine Geliebte anblickte, hatte sich für immer in ihrem Gedächtnis eingebrannt. Genauso musste sich die wahre Liebe anfühlen. Doch bis jetzt dachte sie, dass das wohl immer eine Illusion bleiben würde, etwas, dass es nur in der Kunst geben konnte, jedoch nicht im echten Leben.

„Das ... das war wohl eine schlechte Idee. Wenn sie dir nicht gefällt, dann —", hörte sie Armand sagen.

„Nein, ich liebe diese Figur", unterbrach sie ihn, während sie die Schneekugel mit der anderen Hand an ihre Brust presste. „Ich ... ich habe nur nicht erwartet, dass du mir genau das schenken würdest." Sie sah zu ihm auf und als sich ihre Blicke trafen, löste sich endlich der schmerzhafte Knoten um ihr Herz.

„Ich dachte, die Figur würde zu uns passen, auch wenn ich normalerweise bekleidet herumlaufe und keine Flügel habe." Armands Augenbrauen wanderten nach oben und er schmunzelte amüsiert. „Auf jeden Fall weiß ich, dass du Psyche, was Schönheit angeht, weit überlegen bist." Er kam einen Schritt näher und strich sanft mit seiner Handfläche über ihre Wange.

Sie zog sich nicht zurück, sondern ließ es geschehen. Seine Wärme strömte wie flüssige Sonnenstrahlen unter ihre Haut, während sie ihn unverwandt ansah und ein wenig näher an ihn heranrückte. „Und was weißt du noch über mich?"

Armand stand jetzt so nahe vor ihr, dass sie bereits seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht fühlen konnte, jedoch war seine Hand auf ihrer Wange immer noch der einzige Berührungspunkt. „Du liebst den Geruch von Gras und Erde, machst gerne philosophische Vergleiche, hast eine Schwäche für Kaffee mit Milchschaum, magst lieber Wein als Bier, tanzt gerne Walzer, wünscht dir, seit du ein kleines Mädchen bist, ein Haus mit Garten, gehst ohne zu zögern für deine Freunde durchs Feuer und fürchtest nicht einmal den obersten Gott. Aber das Wichtigste ist, dass ich eigentlich noch viel zu wenig über dich weiß und deshalb die Zeit, die mir hier auf der Erde noch bleibt, mit dir verbringen möchte, um alle deine Geheimnisse kennenzulernen." Er legte eine Hand um ihre Taille und zog sie ganz nah an sich heran.

Ein wild gewordener Schwarm an Schmetterlingen flatterte in Sylvias Bauch. In all den Jahren in ihrer Beziehung mit Edgar hatte sie nie auch nur etwas so annähernd romantisches aus seinem Mund gehört.

„Dann sollten wir möglichst bald damit anfangen", flüsterte sie und legte eine Hand auf seine Brust, während die andere immer noch die Schneekugel umfasst hielt. „Mit dem besseren Kennenlernen, meine ich."

„Wie wäre es mit sofort?" Armand beugte sich weiter zu ihr hinunter bis seine Lippen über ihren schwebten. Seine Hand wanderte von ihrer Wange zu ihrem Nacken.

„Einverstanden", hauchte Sylvia und dann fanden sich ihre Lippen zum Kuss, verschmolzen zu einer Einheit, als wäre sie füreinander geschaffen worden. Vielleicht waren sie das auch, wie Amor und Psyche. Sylvia schloss die Augen und erlaubte ihren Träumen endlich Realität zu werden.

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